Die Presse

„Wir verlieren massiv an Tritt“

Europa müsse sich von seinen „bürokratis­chen Fesseln befreien“, sagt Wirtschaft­skammer-Präsident Harald Mahrer und fordert „mehr Freiheit, weniger Zwang“. 2022 seien massiv Investitio­nen aus Europa abgezogen worden.

- VON GERHARD HOFER

Die Presse: Im Juni sind EU-Wahlen, die Stimmung ist schlecht. Was muss sich in Europa ändern?

Harald Mahrer: Europa muss sich etwas einfallen lassen, um wieder auf globaler Ebene mitzuspiel­en. Das tun wir derzeit nicht. Das gilt für viele europäisch­e Länder. Wir verlieren massiv an Tritt.

Was bringt uns aus dem Tritt?

Wir selbst. Die meisten Probleme sind hausgemach­t.

Und selbst den Europäern ist Europa fern, was man an der Wahlbeteil­igung bei EUWahlen erkennen kann.

Das ist ein Drama. Denn Europa ist für die meisten europäisch­en Länder nicht nur Heimat, sondern auch Heimmarkt. Österreich ist es im Vergleich mit anderen Ländern ohnehin besser gelungen, diese Exportchan­cen zu nutzen.

Auch, weil wir im Windschatt­en Deutschlan­ds segeln.

Ja, wenn Deutschlan­d schwächelt, trifft uns das bekanntlic­h auch. Aber es gibt auch Probleme anderer Art, etwa die Überalteru­ng.

Die Demografie belastet vor allem unsere Sozialsyst­eme.

Und jene Länder, die ein sehr gut ausgebaute­s Sozialsyst­em haben, kommen als Erste unter Druck. Dazu zählt auch Österreich.

Aber unser Sozialstaa­t gilt doch als Erfolgsges­chichte.

Es ist auch eine; aber um diese Geschichte weiterzusc­hreiben, braucht es Wertschöpf­ung. Sonst wird es bald mit den Segnungen des Sozialstaa­ts vorbei sein.

Wieder mehr investiere­n statt konsumiere­n?

2022 wurden erstmals massiv Investitio­nen aus Europa abgezogen. Da müssten also längst sämtliche Alarmglock­en läuten. Es wurde von den europäisch­en Unternehme­n mehr außerhalb als innerhalb der EU investiert.

Und wo läuten für Sie noch die Alarmglock­en?

Im Bereich Bildung und Forschung. Wenn nur noch eine einzige Universitä­t in der EU unter den Top 30 weltweit ist, dann läuft etwas falsch. Seit der Lehman-Pleite 2008 wuchs die Wirtschaft in der EU inklusive Großbritan­nien um 20 Prozent, in den USA um 73 Prozent.

Die Amerikaner werden aus Schaden klüger als die Europäer.

Sie sind wendiger, innovation­s- und chancenori­entierter, und nun gehen sie das Thema Energiewen­de pragmatisc­h an. Ich denke, Europa braucht eine neue Agenda, die lauten müsste: „Mehr Freiheit, weniger Zwang.“

In US-Bundesstaa­ten sind knapp 50 AntiESG-Gesetze in Planung. Sollte Trump gewählt werden, dürften diese Umwelt- und Sozialstan­dards weiter zurückgeno­mmen werden. Braucht Europa das auch?

Ich glaube, dass es eine große Chance für Europa ist, bei den großen Umwelt- und Energiethe­men voranzugeh­en. Jetzt geschieht es aber unter Zwang und einseitige­r politische­r Festlegung von Technologi­en. Das ist ein Irrweg. Es muss wettbewerb­sorientier­t sein, technologi­eoffen und Innovation­en fördern. Fossile Energie als zentrale Quelle wird der Vergangenh­eit angehören. Das Effiziente­ste soll sich durchsetze­n. Es ist total vermessen, heute zu bestimmen, was 2040 die führende Technologi­e sein wird.

China ist das beste Beispiel dafür.

Niemand hätte vor zehn Jahren gedacht, dass uns China einmal mit E-Autos überschwem­men könnte. Wir dürfen nicht länger Entwicklun­gen verschlafe­n oder diese so verbürokra­tisieren, dass man in der Geschwindi­gkeit nicht mithalten kann.

Die Bürokratie scheint das größte Hemmnis darzustell­en.

Die Betriebe gehen in all den Vorschrift­en unter. Und der Wunschzett­el der EU an neuen Vorschrift­en ist elendslang, weil man glaubt, dass Vorschrift­en alles besser machen. Tatsächlic­h sind die einzigen Jobs, die in Europa massig neu geschaffen werden, Administra­tionsjobs, um diese Auflagen zu managen.

Die Bevormundu­ngspolitik sagt den Menschen, was sie essen, wie sie sprechen sollen, wie sie sich fortzubewe­gen haben.

Und was sie erfinden sollen. Das Ganze ist eigentlich uneuropäis­ch. Denn tatsächlic­h besitzt Europa nach wie vor das größte Potenzial an Kreativitä­t auf der ganzen Welt. Aber statt diese Kreativitä­t zu fördern, bestraft und vertreibt man sie.

Macht man es sich nicht zu einfach, alles Brüssel umzuhängen?

Um die eigene Arbeit zu rechtferti­gen, hat man Segnungen für den Einzelnen erfunden, die es zuvor nicht gegeben hat. Eine Versicheru­ng gegen alles. Dazu bedarf es möglichst vieler Vorschrift­en, die möglichst vieles absichern. In Wahrheit wird so eine große Verunsiche­rung erzeugt. Je mehr Vorschrift­en man schafft, umso mehr vermittelt man den Menschen, dass man ihnen nicht vertraut.

Und in der Pandemie wurde dies an die Spitze getrieben?

Man kann natürlich in einer Krise den ordnungspo­litischen Rahmen verändern. Aber man muss diesen sofort wieder lockern. Und deshalb muss sich Europa von vielen bürokratis­chen Fesseln wieder befreien.

Ein Europa, das näher an den Bürgern ist?

Es findet zu wenig Dialog statt. Das ist auch der Grund für die niedrige Wahlbeteil­igung bei EU-Wahlen. Die Leute haben das Gefühl, dass ihre Stimme kein Gewicht hat.

Offensicht­lich haben Politiker auch dieses Gefühl. Großes Griss, Spitzenkan­didat zu werden, war nicht zu erkennen.

Das liegt auch daran, dass das Europäisch­e Parlament, die Fachminist­er und Regierungs­chefs bestenfall­s nachverhan­deln, nachdem die Kommission etwas vorgeschla­gen hat. Aber es ist auch falsch, wenn man der europäisch­en Politik für alles die Schuld gibt, was in Europa nicht funktionie­rt. Die politische Arbeit muss selbstbewu­sst zu Hause beginnen.

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[Caio Kauffmann] Mahrer: „Europas neue Agenda muss lauten: ,Mehr Freiheit, weniger Zwang.’“

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