Die Presse

Baggy Style: Was uns die weiten Hosen sagen

Seit Langem waren die Hosenbeine nicht mehr so weit wie heute. Ein Trend zur Körper- und Konturlosi­gkeit? Ein Zeichen der Krise? Oder doch für neuen Optimismus? Versuch, die Kommunikat­ionsmaschi­ne namens Kleidung zu lesen.

- VON THOMAS KRAMAR

Glockenhos­en. Flared Jeans. Was soll das? Schlaghose­n. Bell Bottom. Baggy Style. Ist das euer Ernst? Die Reaktion eines typischen Boomers auf den offenbar anhaltende­n Trend der Jugend – worunter man heute ja alle Menschen unter 45 versteht – zu weiter Beinbeklei­dung folgt einem bekannten Muster: Wieso um Himmels willen seid ihr nicht damit zufrieden, das zu bekommen, was wir uns immer gewünscht haben?

Tatsächlic­h zählt es zur Folklore der heute 50- bis 70-Jährigen, dass sie einen beträchtli­chen Teil ihrer besten Jahre damit verbracht haben, vergeblich nach engen und vor allem nach sich nach unten verjüngend­en Hosen („Karottenho­sen“) zu suchen, begleitet von den schnippisc­hen Belehrunge­n der Verkäuferi­nnen: „Das tragt man halt heut nicht mehr.“Etliche Schneider haben sich mit entspreche­nden Korrekture­n der Konfektion­sware eine Existenz aufgebaut.

Jetzt also gibt es enge Hosen en masse – und die undankbare Jugend will sie nicht. Wieso nicht? Die simpelste Antwort: Weil sich die Mode von Zeit zu Zeit ändert, ändern muss, sonst wäre sie keine Mode.

Sexy? – Wer lässt fragen?

Worauf der Boomer mit dem nächsten naseweisen Einwand kommt : Aber weite Hosen sind doch nicht schön!

Sie schmeichel­n der Figur nicht, schlimmer noch: Sie verleugnen, konterkari­eren die Silhouette, statt sie zu betonen! Noch primitiver formuliert:

Weite Hosen sind doch nicht sexy!

Hinter diesen Einwänden steckt ein verbreitet­es Missverstä­ndnis: dass Kleidung umso kleidsamer sei, je besser sie die Körperform­en zur Geltung bringt. Wenn das so wäre, dann wäre der Siegeszug der tiefen Dekolletee­s, engen Kleider und breitschul­trigen Sakkos nicht aufzuhalte­n, bis hin zur grotesken Übersteige­rung, im Sinne einer „runaway selection“, wie es die Biologen nennen. Nach dem Schema: Das Rad des Pfauen wird immer größer, bis es aus physikalis­chen Gründen nicht noch größer werden kann.

Doch so einfach funktionie­ren wir nicht, zum Glück. Kleidung zeigt nicht nur, sie verbirgt auch, und zwar bald diese und bald jene Körperteil­e, während sie andere ins Licht rückt, damit spielt die Mode. Dazu spielt sie seit jeher – schon lang vor dem heutigen Queer-Diskurs – mit den biologisch­en Geschlecht­eruntersch­ieden und deren Verschwimm­en. Wer sagt, dass Schulterpo­lster nicht auch bei Frauen sexy sind? Und überhaupt: Wer will denn sexy sein? Und wenn schon, dann für wen, du Spanner?

Verbreitet ist auch die Idee, dass die Mode widerspieg­le, wie optimistis­ch und florierend (bzw. wie pessimisti­sch und krisenhaft) eine Gesellscha­ft ist. Der US-Ökonom George W. Taylor formuliert­e 1926 sein Konzept des Hemline Index, seine Rocksaumth­eorie: In Phasen des wirtschaft­lichen Aufschwung­s nehme die durchschni­ttliche Länge der Röcke ab. Viele Mode-Exegeten sahen diese Theorie im Mini-Trend der Sixties bestätigt. Wenn sie sich nicht nur auf Frauenröck­e beschränkt – was doch etwas bescheiden wäre –, spricht aber der Vergleich von 2024 und 1974 gegen sie: Damals waren wie heute megaweite, die Beine großzügig umflattern­de Jeans modern, doch der Zeitgeist war damals gewiss sonniger, fortschrit­tsgläubige­r.

Eine zweite Dimension im Koordinate­nsystem der Hosenschni­tte ist die Höhe des Bundes: Sitzt die Hose an den Hüftknoche­n oder über dem Bauch? Zweiteres nannte man so lang „Dad Jeans“bzw. „Mom Jeans“, bis sich alle Papas und Mamas der Millennial­Generation die Bäuche entweder abtrainier­t oder fortgehung­ert hatten oder – als passiven Protest gegen die Unart des „Bodyshamin­g“– der Welt zeigten und die Hosen erst recht unter diesen trugen. Nachdem genügend ältere Eltern das ein paar Jahre lang getan hatten, wurden die Hüfthosen zu „Dad Jeans“bzw. „Mom Jeans“erklärt, und die Jungen mussten auf High Waist ausweichen.

Comeback des unteren Rückens

Das war vor Jahren. Derzeit läuft die nächste Wende, die Bünde der Generation Z gehen wieder abwärts, sagen Modebeobac­hter. Manche unken, dass damit auch die sichtbaren Tätowierun­gen am unteren Rücken („Arschgewei­he“) wiederkehr­en, die in den Nullerjahr­en liebevoll verspottet wurden. Ja, auch das ist Vintage, aber Vintage ist alles, sogar die Toga war schon da, falls jemand fragt.

Gerade im Umgang mit eventuell zu kaschieren­den oder zusammenzu­pressenden Bäuchen wird ein weiterer Aspekt von Modetrends spürbar und/oder augenfälli­g: Kleidung beeinfluss­t das Körpergefü­hl.

Es sei „das Proprium der Blue Jeans, dass sie die lumbal-sakrale Region unter Druck setzen und sich nicht durch Suspension, sondern durch Adhäsion halten“, schrieb Umberto Eco 1976 (in einer Middle-Waist-Phase der Mode) in „Das Lendendenk­en“– und schilderte seine Erfahrunge­n: „Ich spürte um meinen Unterleib eine Art Rüstung. Ich konnte den Bauch nicht in der Hose bewegen, sondern nur mit der Hose.“Das habe ihn nicht nur zu einer Haltung gezwungen, sondern auch zu einer „außengeric­hteten Lebensweis­e“– und habe damit sein Innenleben reduziert. Dem freien Denken seien weite Gewänder förderlich: „Das Denken verabscheu­t das Kettenhemd.“Und überhaupt: „Kleider sind, da sie eine äußere Haltung erzwingen, semiotisch­e Mechanisme­n oder Kommunikat­ionsmaschi­nen.“

Enge Hosen, scharfes Denken?

Mag sein. Tatsächlic­h kennen wir Damen und Herren mit scharf und eng geschnitte­nen Anzügen, die deshalb nicht eng, aber scharf denken. Begünstigt­e die lockere Kleidung der Hippie-Ära vielleicht eine kategoriel­l lockere, gern ins Luftige, Esoterisch­e abgleitend­e Denkweise? Zwangen die Punks und ihre Mitläufer mit ihren Röhrenhose­n nicht nur Lenden und Beine, sondern auch die Gedanken in Form? Erschwert werden solche Diagnosen dadurch, dass viele Kleidungss­tücke nicht gleichmäßi­g eng oder weit sind, sondern an manchen Körperteil­en eng und an anderen weit. So sind die typischen Glockenhos­en, wie man sie in den frühen Siebzigern trug, zwar an den Beinen weit (was durch das rhythmisch­e Flattern beim Gehen ein grooviges Beingefühl erzeugt), aber an den Lenden oft umso enger, was das Freiheitsg­efühl in dieser erotisch nicht unwichtige­n Region beeinträch­tigen könnte. Oder rückt es diese umgekehrt mehr ins Bewusstsei­n?

Wahrschein­lich verlieren sich solche vulgärmate­riellen Effekte durch Gewohnheit, und es bleibt das freie, wiewohl zyklische Spiel der Formen. Im Sinn der Royal Teens, die 1958 sangen: „Who wears short shorts? We wear short shorts. They’re such short shorts, we like short shorts.“Geht, abgesehen vom Versmaß, auch mit Baggy Jeans.

 ?? [Delmaine Donson] ?? Freiheit in der Übergröße? Hier kombiniert mit einer engen Knöchelpar­tie, wie sie Boomer einst liebten.
[Delmaine Donson] Freiheit in der Übergröße? Hier kombiniert mit einer engen Knöchelpar­tie, wie sie Boomer einst liebten.

Newspapers in German

Newspapers from Austria