Baggy Style: Was uns die weiten Hosen sagen
Seit Langem waren die Hosenbeine nicht mehr so weit wie heute. Ein Trend zur Körper- und Konturlosigkeit? Ein Zeichen der Krise? Oder doch für neuen Optimismus? Versuch, die Kommunikationsmaschine namens Kleidung zu lesen.
Glockenhosen. Flared Jeans. Was soll das? Schlaghosen. Bell Bottom. Baggy Style. Ist das euer Ernst? Die Reaktion eines typischen Boomers auf den offenbar anhaltenden Trend der Jugend – worunter man heute ja alle Menschen unter 45 versteht – zu weiter Beinbekleidung folgt einem bekannten Muster: Wieso um Himmels willen seid ihr nicht damit zufrieden, das zu bekommen, was wir uns immer gewünscht haben?
Tatsächlich zählt es zur Folklore der heute 50- bis 70-Jährigen, dass sie einen beträchtlichen Teil ihrer besten Jahre damit verbracht haben, vergeblich nach engen und vor allem nach sich nach unten verjüngenden Hosen („Karottenhosen“) zu suchen, begleitet von den schnippischen Belehrungen der Verkäuferinnen: „Das tragt man halt heut nicht mehr.“Etliche Schneider haben sich mit entsprechenden Korrekturen der Konfektionsware eine Existenz aufgebaut.
Jetzt also gibt es enge Hosen en masse – und die undankbare Jugend will sie nicht. Wieso nicht? Die simpelste Antwort: Weil sich die Mode von Zeit zu Zeit ändert, ändern muss, sonst wäre sie keine Mode.
Sexy? – Wer lässt fragen?
Worauf der Boomer mit dem nächsten naseweisen Einwand kommt : Aber weite Hosen sind doch nicht schön!
Sie schmeicheln der Figur nicht, schlimmer noch: Sie verleugnen, konterkarieren die Silhouette, statt sie zu betonen! Noch primitiver formuliert:
Weite Hosen sind doch nicht sexy!
Hinter diesen Einwänden steckt ein verbreitetes Missverständnis: dass Kleidung umso kleidsamer sei, je besser sie die Körperformen zur Geltung bringt. Wenn das so wäre, dann wäre der Siegeszug der tiefen Dekolletees, engen Kleider und breitschultrigen Sakkos nicht aufzuhalten, bis hin zur grotesken Übersteigerung, im Sinne einer „runaway selection“, wie es die Biologen nennen. Nach dem Schema: Das Rad des Pfauen wird immer größer, bis es aus physikalischen Gründen nicht noch größer werden kann.
Doch so einfach funktionieren wir nicht, zum Glück. Kleidung zeigt nicht nur, sie verbirgt auch, und zwar bald diese und bald jene Körperteile, während sie andere ins Licht rückt, damit spielt die Mode. Dazu spielt sie seit jeher – schon lang vor dem heutigen Queer-Diskurs – mit den biologischen Geschlechterunterschieden und deren Verschwimmen. Wer sagt, dass Schulterpolster nicht auch bei Frauen sexy sind? Und überhaupt: Wer will denn sexy sein? Und wenn schon, dann für wen, du Spanner?
Verbreitet ist auch die Idee, dass die Mode widerspiegle, wie optimistisch und florierend (bzw. wie pessimistisch und krisenhaft) eine Gesellschaft ist. Der US-Ökonom George W. Taylor formulierte 1926 sein Konzept des Hemline Index, seine Rocksaumtheorie: In Phasen des wirtschaftlichen Aufschwungs nehme die durchschnittliche Länge der Röcke ab. Viele Mode-Exegeten sahen diese Theorie im Mini-Trend der Sixties bestätigt. Wenn sie sich nicht nur auf Frauenröcke beschränkt – was doch etwas bescheiden wäre –, spricht aber der Vergleich von 2024 und 1974 gegen sie: Damals waren wie heute megaweite, die Beine großzügig umflatternde Jeans modern, doch der Zeitgeist war damals gewiss sonniger, fortschrittsgläubiger.
Eine zweite Dimension im Koordinatensystem der Hosenschnitte ist die Höhe des Bundes: Sitzt die Hose an den Hüftknochen oder über dem Bauch? Zweiteres nannte man so lang „Dad Jeans“bzw. „Mom Jeans“, bis sich alle Papas und Mamas der MillennialGeneration die Bäuche entweder abtrainiert oder fortgehungert hatten oder – als passiven Protest gegen die Unart des „Bodyshaming“– der Welt zeigten und die Hosen erst recht unter diesen trugen. Nachdem genügend ältere Eltern das ein paar Jahre lang getan hatten, wurden die Hüfthosen zu „Dad Jeans“bzw. „Mom Jeans“erklärt, und die Jungen mussten auf High Waist ausweichen.
Comeback des unteren Rückens
Das war vor Jahren. Derzeit läuft die nächste Wende, die Bünde der Generation Z gehen wieder abwärts, sagen Modebeobachter. Manche unken, dass damit auch die sichtbaren Tätowierungen am unteren Rücken („Arschgeweihe“) wiederkehren, die in den Nullerjahren liebevoll verspottet wurden. Ja, auch das ist Vintage, aber Vintage ist alles, sogar die Toga war schon da, falls jemand fragt.
Gerade im Umgang mit eventuell zu kaschierenden oder zusammenzupressenden Bäuchen wird ein weiterer Aspekt von Modetrends spürbar und/oder augenfällig: Kleidung beeinflusst das Körpergefühl.
Es sei „das Proprium der Blue Jeans, dass sie die lumbal-sakrale Region unter Druck setzen und sich nicht durch Suspension, sondern durch Adhäsion halten“, schrieb Umberto Eco 1976 (in einer Middle-Waist-Phase der Mode) in „Das Lendendenken“– und schilderte seine Erfahrungen: „Ich spürte um meinen Unterleib eine Art Rüstung. Ich konnte den Bauch nicht in der Hose bewegen, sondern nur mit der Hose.“Das habe ihn nicht nur zu einer Haltung gezwungen, sondern auch zu einer „außengerichteten Lebensweise“– und habe damit sein Innenleben reduziert. Dem freien Denken seien weite Gewänder förderlich: „Das Denken verabscheut das Kettenhemd.“Und überhaupt: „Kleider sind, da sie eine äußere Haltung erzwingen, semiotische Mechanismen oder Kommunikationsmaschinen.“
Enge Hosen, scharfes Denken?
Mag sein. Tatsächlich kennen wir Damen und Herren mit scharf und eng geschnittenen Anzügen, die deshalb nicht eng, aber scharf denken. Begünstigte die lockere Kleidung der Hippie-Ära vielleicht eine kategoriell lockere, gern ins Luftige, Esoterische abgleitende Denkweise? Zwangen die Punks und ihre Mitläufer mit ihren Röhrenhosen nicht nur Lenden und Beine, sondern auch die Gedanken in Form? Erschwert werden solche Diagnosen dadurch, dass viele Kleidungsstücke nicht gleichmäßig eng oder weit sind, sondern an manchen Körperteilen eng und an anderen weit. So sind die typischen Glockenhosen, wie man sie in den frühen Siebzigern trug, zwar an den Beinen weit (was durch das rhythmische Flattern beim Gehen ein grooviges Beingefühl erzeugt), aber an den Lenden oft umso enger, was das Freiheitsgefühl in dieser erotisch nicht unwichtigen Region beeinträchtigen könnte. Oder rückt es diese umgekehrt mehr ins Bewusstsein?
Wahrscheinlich verlieren sich solche vulgärmateriellen Effekte durch Gewohnheit, und es bleibt das freie, wiewohl zyklische Spiel der Formen. Im Sinn der Royal Teens, die 1958 sangen: „Who wears short shorts? We wear short shorts. They’re such short shorts, we like short shorts.“Geht, abgesehen vom Versmaß, auch mit Baggy Jeans.