Ukraine hortet Munition für neue Gegenoffensive
Die russische Armee war in den vergangenen Monaten am Drücker. Doch die Ukraine will noch heuer zurückschlagen – mit aufgefülltem Waffenarsenal und westlichen Kriegsflugzeugen.
Mit der russischen Eroberung der Kleinstadt Awdijiwka im Donezk Oblast wuchs die Skepsis gegenüber den ukrainischen Streitkräften. Russland hat im Rahmen seiner Winteroffensive die Initiative übernommen, und die Ukraine tut sich schwer, dagegenzuhalten. So ist der einhellige Tenor von Beobachtern. Grund dafür sei der Mangel an Munition, Ausrüstung und Personal. Das Institute for the Study of War (ISW) hält „einen russischen Durchbruch in kurzer Zeit“für möglich.
Aber allen Unkenrufen zum Trotz plant Kiew noch heuer eine zweite Gegenoffensive, wie Präsident Selenskij ankündigte. Ist das realistisch?
Lage an der Front
Russland hat die Angriffe seiner Winteroffensive auf vier Regionen entlang der mehr als 1000 Kilometer langen Front konzentriert. Dies erfolgte an den Achsen bei Kupjansk, Bachmut, Awdijiwka und Robotyne. In den vergangenen Monaten konnten die russischen Truppen an zwei Abschnitten davon bis zu 2,5 Kilometer vordringen. Bei Awdijiwka sollen es nach der Eroberung der Kleinstadt bis zu vier Kilometer gewesen sein. In Kupjansk konnte Russland bisher keinerlei Geländegewinne verbuchen.
Medienberichten zufolge finden überwiegend Stellungskämpfe statt, und es gibt nur geringe bestätigte Änderungen der Frontlinie. In Cherson richteten sich russische Angriffe gegen die ukrainischen Brückenköpfe auf dem Ostufer des Dnipro, blieben jedoch erfolglos und mit hohen Verlusten verbunden. Würden Moskaus Truppen mit dem bisherigen Tempo der Winteroffensive weiter vorstoßen, dann erreichten sie die anvisierten ukrainischen Städte Pokrowsk und Kramatorsk in zwölf bis 15 Monaten.
Die Munition
Vielfach berichteten ukrainische Truppen über Munitionsmangel an der Front. „Die Presse“hat auch mit mehreren Soldaten gesprochen, die weder an den Frontlinien in Kupjansk noch in Kreminna oder selbst in Awdijiwka über unzureichende Munition klagten. Die Wahrheit dürfte sein, dass einige Einheiten besser versorgt sind als andere. Auch Logistikprobleme, wie etwa im umkämpften Awdijiwka, können zu Munitionsmangel führen. Zudem hängt es von den Waffensystemen ab. „50 Prozent aller ukrainischen Waffen stammen noch aus der Sowjetunion und Russland“, erklärte Serhii Hrabovsky, ein ukrainischer Oberst, der „Presse“. Nato-Standard-Munition ist dafür ungeeignet.
Der Nachschub kommt zum einen aus ehemaligen Ländern des Ostblocks wie Bulgarien, das Kiew zu Beginn des Krieges schon unbürokratisch und großzügig beliefert hat. Aber auch die nationale Rüstungsindustrie liefert. Im Februar wurden Tausende 122-MillimeterGranaten dem Militär übergeben. Kiew hat den Verteidigungssektor 2023 bereits um das Dreifache gesteigert, und im laufenden Jahr soll er um das Sechsfache wachsen.
Die Diskussionen um den Munitionsmangel beruhigen sich inzwischen. Tschechien hat insgesamt 1,5 Millionen Artilleriegranaten für die Ukraine aufgetrieben. Darunter ist 155-Millimeter-Munition für westliche Geschütze und auch die russische Variante vom Kaliber 122 Millimeter. Deutschland hat noch einmal 120.000 des gleichen Typs zugesagt. Aus der EU sollen bis März insgesamt 300.000
Stück vom Kaliber 155 Millimeter hinzukommen. Die USA haben jüngst eine Munitionslieferung im Wert von 300 Millionen Dollar bekannt gegeben: 100.000 Stück 155Millimeter-Granaten, Streumunition und Nachschub für Himars.
Zudem steuern auch eine Reihe anderer EU-Länder und Kanada eigenständig Munition bei. Das meiste davon soll bis Anfang des Sommers in der Ukraine eintreffen. Insgesamt sind es rund zwei Millionen Stück Artilleriemunition – genauso viel, wie die USA seit Kriegsbeginn geliefert haben. Kiew hat also Planungssicherheit, zumal für den Herbst neue Lieferungen angesetzt sind. Eine „aktive Verteidigung“, für die ukrainische Experten täglich 5000 Schuss veranschlagen, sollte damit rund zehn Monate möglich sein. Man kann aber davon ausgehen, dass die Ukraine Lagerbestände für eine Offensive anlegt.
Ausrüstung
Die Ukraine verfügt immer noch über etwa 70 bis 80 Prozent der gelieferten westlichen Waffensysteme. Das dokumentiert die niederländische Open-Source-Plattform Oryx. Allein seit Jahresbeginn haben die EU, Kanada, Großbritannien und die USA der Ukraine Unterstützung im Wert von mindestens 65 Milliarden Euro zugesagt. Militärhilfen beinhalten gepanzerte Fahrzeuge, Haubitzen, Lenkraketen, Drohnen, Minenräumer und vieles mehr. In wenigen Monaten soll Kiew die angekündigten F-16-Kampfjets erhalten, wenn die Flugausbildung der ersten ukrainischen Piloten abgeschlossen ist. Die F-16 könnte die russische Luftwaffe zurückdrängen, die seit Wochen mit Gleitbomben den ukrainischen Streitkräften große Probleme bereitet.
Die russischen Bomben, die mit einem Lenksystem nachgerüstet sind, sollen die ukrainischen Verteidiger in Awdijiwka maßgeblich zum Rückzug gezwungen haben. Die US-Flugzeuge könnten in Zukunft zur Unterstützung der ukrainischen Offensivoperationen am Boden Einsätze fliegen. Allem voran in Cherson. Die bestehenden Brückenköpfe will die Ukraine unter dem Schutz der F-16 ausweiten, um den Bau einer Pontonbrücke zu ermöglichen, auf der Panzer und schweres Gerät über den Fluss gebracht werden können. Dies wäre der Beginn einer Offensive in Richtung der besetzten Halbinsel Krim, die nur etwa 70 Kilometer entfernt liegt. Sollte es gelingen, die Landverbindung zwischen Russland und der Krim zu kappen, wäre ein wichtiges Kriegsziel des Kremls zunichtegemacht.
Abnutzungskrieg
Erklärtes Ziel der Ukraine ist es, russische Truppen an der Front aufzureiben. Zugleich greift Kiew hinter den Linien russische Infrastruktur an. Die spektakulären Drohnenangriffe der vergangenen Wochen auf Ölraffinerien Russlands haben laut Schätzungen die Gesamtkapazität der Industrie um etwa zwölf Prozent reduziert. Die Benzinpreise mögen in Russland leicht gestiegen sein, aber Auswirkungen auf die Versorgung der russischen Armee sind noch lang nicht zu bemerken.
Russland hat in der fünf Monate langen Schlacht um Awdijiwka 16.000 bis 47.000 Soldaten verloren. Zehnmal mehr als die Ukraine, aber Moskau konnte Awdijiwka trotzdem einnehmen. Schon der ehemalige oberste Militär der Ukraine, Walerij Saluschnij, hatte eingeräumt, die russischen Ressourcen an Ausrüstung und Manpower unterschätzt zu haben. Awdijiwka scheint ein neues Beispiel dafür zu sein, dass die Ukraine gegen die Masse der russischen Kriegsmaschinerie letztlich scheitern muss.
Hohe russische Verluste
Doch auch die Ressourcen Moskaus sind nicht endlos. Die russische Armee hat seit Beginn des Krieges 3000 Panzer und 5200 gepanzerte Fahrzeuge verloren. Die russische Rüstungsindustrieproduktion hinkt den hohen Verlusten weit hinterher, und deshalb plündert man alte Lagerbestände. Wie schnell und vehement sich die russischen Einschränkungen manifestieren, hängt von der westlichen Unterstützung der Ukraine ab.
In Kiew scheint man jedenfalls zuversichtlich zu sein, dass die Waffen der Verbündeten für eine neue Gegenoffensive ausreichen. Und die Truppen für den Angriff soll ein neues Mobilisierungsgesetz liefern, das im März zur Verabschiedung ansteht. Die Senkung des Einzugsalters von 27 auf 25 Jahre bringt „Hunderttausende Soldaten“, wie der ukrainische Militärexperte Hrabovsky versichert.