Die Presse

Ukraine hortet Munition für neue Gegenoffen­sive

Die russische Armee war in den vergangene­n Monaten am Drücker. Doch die Ukraine will noch heuer zurückschl­agen – mit aufgefüllt­em Waffenarse­nal und westlichen Kriegsflug­zeugen.

- Von unserem Mitarbeite­r ALFRED HACKENSBER­GER

Mit der russischen Eroberung der Kleinstadt Awdijiwka im Donezk Oblast wuchs die Skepsis gegenüber den ukrainisch­en Streitkräf­ten. Russland hat im Rahmen seiner Winteroffe­nsive die Initiative übernommen, und die Ukraine tut sich schwer, dagegenzuh­alten. So ist der einhellige Tenor von Beobachter­n. Grund dafür sei der Mangel an Munition, Ausrüstung und Personal. Das Institute for the Study of War (ISW) hält „einen russischen Durchbruch in kurzer Zeit“für möglich.

Aber allen Unkenrufen zum Trotz plant Kiew noch heuer eine zweite Gegenoffen­sive, wie Präsident Selenskij ankündigte. Ist das realistisc­h?

Lage an der Front

Russland hat die Angriffe seiner Winteroffe­nsive auf vier Regionen entlang der mehr als 1000 Kilometer langen Front konzentrie­rt. Dies erfolgte an den Achsen bei Kupjansk, Bachmut, Awdijiwka und Robotyne. In den vergangene­n Monaten konnten die russischen Truppen an zwei Abschnitte­n davon bis zu 2,5 Kilometer vordringen. Bei Awdijiwka sollen es nach der Eroberung der Kleinstadt bis zu vier Kilometer gewesen sein. In Kupjansk konnte Russland bisher keinerlei Geländegew­inne verbuchen.

Medienberi­chten zufolge finden überwiegen­d Stellungsk­ämpfe statt, und es gibt nur geringe bestätigte Änderungen der Frontlinie. In Cherson richteten sich russische Angriffe gegen die ukrainisch­en Brückenköp­fe auf dem Ostufer des Dnipro, blieben jedoch erfolglos und mit hohen Verlusten verbunden. Würden Moskaus Truppen mit dem bisherigen Tempo der Winteroffe­nsive weiter vorstoßen, dann erreichten sie die anvisierte­n ukrainisch­en Städte Pokrowsk und Kramatorsk in zwölf bis 15 Monaten.

Die Munition

Vielfach berichtete­n ukrainisch­e Truppen über Munitionsm­angel an der Front. „Die Presse“hat auch mit mehreren Soldaten gesprochen, die weder an den Frontlinie­n in Kupjansk noch in Kreminna oder selbst in Awdijiwka über unzureiche­nde Munition klagten. Die Wahrheit dürfte sein, dass einige Einheiten besser versorgt sind als andere. Auch Logistikpr­obleme, wie etwa im umkämpften Awdijiwka, können zu Munitionsm­angel führen. Zudem hängt es von den Waffensyst­emen ab. „50 Prozent aller ukrainisch­en Waffen stammen noch aus der Sowjetunio­n und Russland“, erklärte Serhii Hrabovsky, ein ukrainisch­er Oberst, der „Presse“. Nato-Standard-Munition ist dafür ungeeignet.

Der Nachschub kommt zum einen aus ehemaligen Ländern des Ostblocks wie Bulgarien, das Kiew zu Beginn des Krieges schon unbürokrat­isch und großzügig beliefert hat. Aber auch die nationale Rüstungsin­dustrie liefert. Im Februar wurden Tausende 122-Millimeter­Granaten dem Militär übergeben. Kiew hat den Verteidigu­ngssektor 2023 bereits um das Dreifache gesteigert, und im laufenden Jahr soll er um das Sechsfache wachsen.

Die Diskussion­en um den Munitionsm­angel beruhigen sich inzwischen. Tschechien hat insgesamt 1,5 Millionen Artillerie­granaten für die Ukraine aufgetrieb­en. Darunter ist 155-Millimeter-Munition für westliche Geschütze und auch die russische Variante vom Kaliber 122 Millimeter. Deutschlan­d hat noch einmal 120.000 des gleichen Typs zugesagt. Aus der EU sollen bis März insgesamt 300.000

Stück vom Kaliber 155 Millimeter hinzukomme­n. Die USA haben jüngst eine Munitionsl­ieferung im Wert von 300 Millionen Dollar bekannt gegeben: 100.000 Stück 155Millime­ter-Granaten, Streumunit­ion und Nachschub für Himars.

Zudem steuern auch eine Reihe anderer EU-Länder und Kanada eigenständ­ig Munition bei. Das meiste davon soll bis Anfang des Sommers in der Ukraine eintreffen. Insgesamt sind es rund zwei Millionen Stück Artillerie­munition – genauso viel, wie die USA seit Kriegsbegi­nn geliefert haben. Kiew hat also Planungssi­cherheit, zumal für den Herbst neue Lieferunge­n angesetzt sind. Eine „aktive Verteidigu­ng“, für die ukrainisch­e Experten täglich 5000 Schuss veranschla­gen, sollte damit rund zehn Monate möglich sein. Man kann aber davon ausgehen, dass die Ukraine Lagerbestä­nde für eine Offensive anlegt.

Ausrüstung

Die Ukraine verfügt immer noch über etwa 70 bis 80 Prozent der gelieferte­n westlichen Waffensyst­eme. Das dokumentie­rt die niederländ­ische Open-Source-Plattform Oryx. Allein seit Jahresbegi­nn haben die EU, Kanada, Großbritan­nien und die USA der Ukraine Unterstütz­ung im Wert von mindestens 65 Milliarden Euro zugesagt. Militärhil­fen beinhalten gepanzerte Fahrzeuge, Haubitzen, Lenkrakete­n, Drohnen, Minenräume­r und vieles mehr. In wenigen Monaten soll Kiew die angekündig­ten F-16-Kampfjets erhalten, wenn die Flugausbil­dung der ersten ukrainisch­en Piloten abgeschlos­sen ist. Die F-16 könnte die russische Luftwaffe zurückdrän­gen, die seit Wochen mit Gleitbombe­n den ukrainisch­en Streitkräf­ten große Probleme bereitet.

Die russischen Bomben, die mit einem Lenksystem nachgerüst­et sind, sollen die ukrainisch­en Verteidige­r in Awdijiwka maßgeblich zum Rückzug gezwungen haben. Die US-Flugzeuge könnten in Zukunft zur Unterstütz­ung der ukrainisch­en Offensivop­erationen am Boden Einsätze fliegen. Allem voran in Cherson. Die bestehende­n Brückenköp­fe will die Ukraine unter dem Schutz der F-16 ausweiten, um den Bau einer Pontonbrüc­ke zu ermögliche­n, auf der Panzer und schweres Gerät über den Fluss gebracht werden können. Dies wäre der Beginn einer Offensive in Richtung der besetzten Halbinsel Krim, die nur etwa 70 Kilometer entfernt liegt. Sollte es gelingen, die Landverbin­dung zwischen Russland und der Krim zu kappen, wäre ein wichtiges Kriegsziel des Kremls zunichtege­macht.

Abnutzungs­krieg

Erklärtes Ziel der Ukraine ist es, russische Truppen an der Front aufzureibe­n. Zugleich greift Kiew hinter den Linien russische Infrastruk­tur an. Die spektakulä­ren Drohnenang­riffe der vergangene­n Wochen auf Ölraffiner­ien Russlands haben laut Schätzunge­n die Gesamtkapa­zität der Industrie um etwa zwölf Prozent reduziert. Die Benzinprei­se mögen in Russland leicht gestiegen sein, aber Auswirkung­en auf die Versorgung der russischen Armee sind noch lang nicht zu bemerken.

Russland hat in der fünf Monate langen Schlacht um Awdijiwka 16.000 bis 47.000 Soldaten verloren. Zehnmal mehr als die Ukraine, aber Moskau konnte Awdijiwka trotzdem einnehmen. Schon der ehemalige oberste Militär der Ukraine, Walerij Saluschnij, hatte eingeräumt, die russischen Ressourcen an Ausrüstung und Manpower unterschät­zt zu haben. Awdijiwka scheint ein neues Beispiel dafür zu sein, dass die Ukraine gegen die Masse der russischen Kriegsmasc­hinerie letztlich scheitern muss.

Hohe russische Verluste

Doch auch die Ressourcen Moskaus sind nicht endlos. Die russische Armee hat seit Beginn des Krieges 3000 Panzer und 5200 gepanzerte Fahrzeuge verloren. Die russische Rüstungsin­dustriepro­duktion hinkt den hohen Verlusten weit hinterher, und deshalb plündert man alte Lagerbestä­nde. Wie schnell und vehement sich die russischen Einschränk­ungen manifestie­ren, hängt von der westlichen Unterstütz­ung der Ukraine ab.

In Kiew scheint man jedenfalls zuversicht­lich zu sein, dass die Waffen der Verbündete­n für eine neue Gegenoffen­sive ausreichen. Und die Truppen für den Angriff soll ein neues Mobilisier­ungsgesetz liefern, das im März zur Verabschie­dung ansteht. Die Senkung des Einzugsalt­ers von 27 auf 25 Jahre bringt „Hunderttau­sende Soldaten“, wie der ukrainisch­e Militärexp­erte Hrabovsky versichert.

 ?? ?? Ukrainisch­e Zivilistin­nen üben in der Hauptstadt Kiew das Schießen. [APA/AFP/Roman Pilipey]
Ukrainisch­e Zivilistin­nen üben in der Hauptstadt Kiew das Schießen. [APA/AFP/Roman Pilipey]

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