Starke Demokratien Demokratie im Rückzugsgefecht. Wie können wir sie behaupten? Vor rund 100 Jahren haben einige Staaten in Europa trotz schwerer Krisen an ihr festgehalten.
Genf in den 1920er-Jahren. Bei einem „Kongress entthronter Monarchen“kam es zu flammenden Appellen an die ehemaligen Untertanen, doch wieder zur alten Ordnung zurückzukehren. Nur die Monarchien könnten die europäische Kultur retten. Doch niemand wollte etwas davon wissen, und so kam es auf einer kleinen Insel im Indischen Ozean zu einem Reich der abgesetzten Staatsoberhäupter, das freilich vom Rest der Welt ignoriert wurde.
Das ist natürlich fiktiv, stammt aus der Erzählung „Könige im Exil“des polnischen Autors Aleksander Wat von 1927. Real war: Kaiser und Herzöge, Zaren, Sultane und Paschas – sie waren mit dem Zusammenbruch der großen autokratischen Reiche am Ende des Ersten Weltkriegs entmachtet. Davor hatte es in Europa nur drei Republiken gegeben, 1918 waren es dreizehn. Überall auf dem Kontinent hatten sich parlamentarische Demokratien und liberale Verfassungen durchgesetzt, von der Ostsee bis zum Balkan. Die Halboder Dreivierteldemokratien der Vorkriegszeit, wie sie der britische Historiker Adam Tooze nennt, wandelten sich in parlamentarische Ordnungen auf der Basis des allgemeinen Wahlrechts, teilweise auch für Frauen. „Eine Verfassung ist so etwas Wundervolles, dass jeder ein Esel ist, der das nicht weiß“, so ein Bewohner des osmanischen Saloniki bereits 1908.
Keine vollendeten Demokratien
Die Europäer waren zum Experimentieren gezwungen, weil die alten Grundlagen dahin waren. Europa war nach 1918 ein „auf dem großen Friedhof des Weltkriegs errichtetes Laboratorium“, so Tomáš Masaryk, der Präsident des neuen tschechoslowakischen Staates. Auf der Suche nach Anregungen durchforsteten die Staatsrechtler die bekannten liberalen Verfassungsmodelle. Vollendete Demokratien nach heutigen Idealvorstellungen kamen da nicht heraus. Unübersehbar war aber, dass Europa das Lenin‘sche Modell nicht wollte, die Arbeiter- und Soldatenräte waren spätestens 1920 abgeschafft bzw. im parlamentarischen Pluralismus aufgegangen. Westlich der Sowjetunion war die Linke nahezu überall besiegt oder in der Defensive. Eine krachende Niederlage des Kommunismus.
Es war zu schön, um wahr zu sein. Was dann in den 20er- und 30er-Jahren passierte, ist bereits tausendfach beschrieben worden. Fast alle europäischen Demokratien gerieten nach dem Ersten Weltkrieg unter Druck. Anders als später nach dem Zweiten Weltkrieg folgte kein langer Aufschwung, in dem sich die Demokratien auch durch ihren wirtschaftlichen Erfolg in der Wahrnehmung der Bürger als legitime Ordnungen festigen konnten. Ungelöste nationale, soziale und Grenzfragen und die Weltwirtschaftskrise brachten die demokratischen Regierungen ins Wanken, führten zum Zerfall der Institutionen und zu antiliberalen Ideologien.
Verbrecherische Regime kamen an die Macht. Krieg, Gewalt und Militarismus machten sich in Europa breit, es wurde zum „dunklen Kontinent“(Mark Mazower), zum „Kontinent der Gewalt“(James Sheehan) und zum „Europa der Diktaturen“(Gerhard Besier). „Höllensturz“nennt Ian Kershaw seine Analyse Europas von 1914 bis 1949.
Bestand also die Zwischenkriegszeit in Europa ausschließlich aus Scheitern? Die meisten Historiker sehen es so. „Obwohl wir den Sieg der Demokratie im Kalten Krieg gern als Beweis dafür nehmen, wie tief sie in der europäischen Erde wurzelt, demonstriert die Geschichte das Gegenteil“, schreibt Mark Mazower.
Die Hälfte war robust genug
Thomas Etzemüller, Professor für europäische Kulturgeschichte der Moderne in Oldenburg, hat in der Februarausgabe der Zeitschrift „Merkur“davor gewarnt, unreflektiert „die Mär eines europäischen Scheiterns“wiederzugeben. Natürlich seien nach dem Ersten Weltkrieg sehr bald eine ganze Reihe demokratischer Staaten „über die Klinge gesprungen“und von autoritären Diktaturen abgelöst worden. Kein Wunder, dass die historische Forschung zum Zerfall von Demokratien im 20. Jahrhundert Konjunktur habe. „Um in der deutschen Geschichtswissenschaft wahrgenommen zu werden, bedarf es eines Völkermords“, so der Historiker Stefan
Plaggenborg provokant.
Etwa die Hälfte der Demokratien aber – und das wird weniger oft beschrieben – hat sich als robust herausgestellt. Selbst unter nationalsozialistischer Besatzung hat das demokratische Denken in ihnen überlebt, und man konnte am Ende des Zweiten Weltkriegs wieder auf ihm aufbauen. Nur in den Intervallen zwischen 1922 bis 1926, so der Politologe Steffen Kailitz, und zwischen 1931 bis 1936 habe die Zahl der Demokratiezusammenbrüche die der Demokratisierungen überwogen. Die Fälle Italien und Deutschland legen nahe, extremistische Massenbewegungen für das Scheitern verantwortlich zu machen, doch in der Regel waren Regierungschefs oder das Militär dafür verantwortlich, nicht revolutionäre Massen.
Was am 30. Jänner 1933 in Deutschland passiert ist, braucht man nicht groß auszuführen. Mit einem Fackelzug und dröhnenden Marschschritten wurde in Berlin die Machtergreifung Hitlers zelebriert. Wer weiß aber, so Etzemüller, was am selben Tag in Kopenhagen geschah? Es wurde ein wegweisendes Sozialabkommen geschlossen, das „Abkommen der Kanzlerstraße“, mit dem sich die sozialistische Arbeitnehmerpartei und die konservative Unternehmerseite Dänemarks zusammenrauften. Ein Streikverbot wurde durchgesetzt, das einen schweren Arbeitskonflikt verhinderte, und die Regierung konnte den Aufbau eines modernen Sozialstaats in Angriff nehmen. Ähnlich die Entwicklung bei den Schweden und den Finnen. Zitat Etzemüller: „Die Fotos des riesigen Aufmarschs in Berlin stehen plakativ für den Anfang der Barbarei. (…) Zivilisiert, demokratisch und konstruktiv hingegen die Fotos aus dem Norden, wo gesetzte Herren mit Brille und Rauschebart um einen Schreibtisch sitzen.“Niemand kennt sie heute, die Bewahrer des sozialen Friedens.
Die Sichtweise der Zwischenkriegszeit als einer reinen Krisenzeit der Demokratie greift also zu kurz. Doch nicht nur am Nordrand des Kontinents konnten sich effektive parlamentarische Regierungsformen halten. In Großbritannien wurde der Primat des Parlamentes nie angegriffen, es ist aus den Krisen sogar gestärkt hervorgegangen. Radikale politische Positionen wurden als „unbritisch“abgelehnt. Auch in Frankreich wirkte sich „eine hohes parlamentarisches Selbstvertrauen, gewachsen aus dem republikanischen Selbstverständnis, stabilisierend aus“(Thomas Raithel). In der Schweiz, in Schweden, der Tschechoslowakei, Belgien und den Niederlanden war die Demokratie nicht grundsätzlich von innen herausgefordert.
Die Weimarer Republik war anfangs auf einem guten Weg und erwies sich als vergleichsweise stark und stabil. Erst die Weltwirtschaftskrise und das miserable Krisenmanagement haben ihr die Zukunft verstellt und ihren Untergang eingeleitet. Wenn die Demokratie einen festeren Rückhalt in der deutschen Gesellschaft gehabt hätte, hätte sie nach 1929 überleben können. Das aber war nicht der Fall.
Anbiederung an Radikale
Drei Faktoren führt der Oxford-Wissenschaftler Giovanni Capoccia jüngst im Gespräch mit dem „Spiegel“an: erstens das Verhalten der Parteien, die in unmittelbarer Konkurrenz mit Extremisten stehen. Machen sie gemeinsame Sache mit ihnen? Glauben sie, durch eine Allianz die eigenen Ziele besser umsetzen zu können und werden dann an die Wand gedrückt? Dann der Einfluss des Staatsoberhauptes. Und drittens Verteidigungsmaßnahmen, Verbote, Beschränkungen, Gesetze gegen Propaganda. „Nichts davon ist allein ausreichend, aber ohne geht es meist nicht“, sagt Capoccia. Und: „Die Mitte muss zusammenstehen“. Faszinierend daran ist, wie sehr hier die Debatten heute, auch in Österreich, widergespiegelt werden.
Wieder scheint aktuell eine komplexe, multiple Krisensituation moderne Gesellschaften ins Trudeln zu bringen. Waren es nach dem Ersten Weltkrieg nationale Feindbilder, Hyperinflation, eine unkontrollierbare Weltwirtschaftskrise, sind es heute Klimakrise, Flüchtlingsströme und Kriege in unmittelbarer Nachbarschaft. Prompt kommen die Warnungen mit Verweis auf den Untergang der Demokratien in den 20er- und 30er-Jahren. Thomas Etzemüller warnt vor der selbstzerstörerischen Dynamik, die der einseitige Blick auf die zersetzende Kraft der multiplen Krisen der Vergangenheit hat. Dadurch würde der Demokratieverachtung Vorschub geleistet. Er schlägt in seinem Essay vor, heute das Augenmerk doch auf Modelle zu richten, die funktionierten, und nicht auf diejenigen, die scheiterten: „Von welchen Gesellschaften können wir größeren Aufschluss für die Gegenwart gewinnen: von denen, die ihre Demokratien zerstört, oder denjenigen, die sie bewahrt haben?“, fragt er. „Wenn wir so betont einseitig auf die Geschichte der Demokratie blicken – warum reden wir uns dann ein, sie verteidigen zu wollen?“ Aufruf zu wehrhafter Demokratie. Poster aus Amsterdam um 1930.