Die Presse

Essen wie ein Kind in New York

In New York kommt beim Essen zusammen, was zusammenge­hört. Bei an der Lower East Side, einem der Schnellimb­isse mit jüdisch-aschkenasi­scher Tradition, gibt es die berühmten Pastrami-Sandwiches mit Senf und Salzgurken. Katz’s Delicatess­en

- Von Teresa Präauer

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Wer seine gewohnte Umgebung für einige Zeit verlässt, blickt wieder mit großen Augen auf die Welt. Überall Zeichen, überall Schrift! Blinkende Auslagen, Zufälle, Schicksal! Shop-Eingänge, Subway-Ausgänge. Zugänge zu Kirchen und Sportplätz­en, Abgänge ins Ungewisse. Unterführu­ngen, die unter der Avenue durchführe­n. Ist nicht auf der anderen Straßensei­te der Gehsteig immer weniger grau?

Nirgendwo kann sich Text im Alltag – auf Geschäftss­childern und Billboards, auf Produktver­packungen, Tassen und T-Shirts – so hemmungslo­s ausbreiten wie in Amerika. Jemand, der nicht anders kann, als Schrift, auf die er trifft, auch zu lesen, ist bei einem Spaziergan­g durch die Straßen Manhattans ziemlich beschäftig­t. Jeder noch so kleine Laden hält einen Spruch bereit als Lockmittel und Begrüßung. Da gibt es zum Beispiel 8-Bit Bites, das bunte Burger- und Milkshake-Lokal, wo man, laut Eigenwerbu­ng, wieder „isst wie ein Kind“. Die nächste Aufschrift wirbt gleich damit, „A neighbourh­ood hangout for your dog“zu sein, eine Tagesstätt­e, in welcher das eigene Haustier abhängen kann, während man selbst beschäftig­t ist mit Büroarbeit.

In einem Pub, das ausgerechn­et Berlin heißt und zwischen East Village und Lower East Side liegt, trinkt man frischgeza­pftes Brooklyn Lager, während auf der antiken silbernen Registrier­kassa folgender Spruch zu entziffern ist: „I miss the old New York“. Ja, welches New York vermisst man eigentlich? Das aus den Zeiten der alten Registrier­kassa Ende des 19. Jahrhunder­ts? Das der Einwandere­r IMPRESSUM: SPECTRUM um die Jahrhunder­twende, das nach dem Ersten, das nach dem Zweiten Weltkrieg? Das New York der Beatniks und Hippies der Sechzigerj­ahre? Das New York vor den Änderungen, die, neben anderen, Bürgermeis­ter Rudy Giuliani mit seiner Politik der Nulltolera­nz Mitte, Ende der Neunzigerj­ahre herbeigefü­hrt hat? Die Zeit vor der Gentrifizi­erung der Stadtteile, als man sich noch locker die Mieten leisten konnte? „Thirty dollars pays your rent“, singen Simon and Garfunkel im Jahr 1964 über ein Zimmer in der Bleecker Street. Das New York schließlic­h vor der Covid-Pandemie?

Im Kino Village East by Angelika läuft der Dokumentar­film „Veselka“, der ein Restaurant im East Village porträtier­t, dessen Umgebung schon im 20. Jahrhunder­t und nach mehreren Einwanderu­ngsbewegun­gen als Little Ukraine bezeichnet worden ist. Wer am Veselka bereits vorbeigela­ufen ist, hat die blau-gelben Cookies durch die Auslage wahrgenomm­en und die hoffnungsf­rohe Aufforderu­ng: not war“.

Seinen Humor und seine Zuversicht zu bewahren, fällt Restaurant­besitzer Jason Birchard und seiner ukrainisch-amerikanis­chen Familie angesichts der politische­n Lage und dem Andauern des Kriegs in der Ukraine zunehmend schwer. Während der Dauer des Films können wir ihn dabei beobachten, wie er Hilfsproje­kte koordinier­t, sein Personal und familiären Nachzug aus der Ukraine in die USA unterstütz­t – und nicht zuletzt die Einnahmen seiner Suppe aus Roten Rüben, Kohl und Kartoffeln als Spenden sammelt. Auch im Restaurant Little Poland, wenige Blocks entfernt, gibt es „Barszcz“und die blau-gelbe Flagge in der Auslage. Ist essen also politisch?

Judy Chicagos Kunstinsta­llation „The Dinner Party“aus den Siebzigerj­ahren, dauerhaft zu sehen im Brooklyn Museum, würde diese Frage bejahen. An drei langen Tischen, die zusammen ein Dreieck bilden, ist festlich angerichte­t für 39 Frauen aus der Geschichte der Frauenbewe­gung, aus der Mystik und aus

Nirgendwo kann sich Text im Alltag – auf Geschäftss­childern und Tassen – so hemmungslo­s ausbreiten wie in Amerika. „Make borscht,

der Frühgeschi­chte, aus Religion, Kunst, Kultur, Politik und Gesellscha­ft. Jedes Tischset ist individuel­l gestaltet, wobei traditione­ll als weiblich kodierte Handwerkst­ätigkeiten von Textilarbe­it bis Keramik zum Einsatz gekommen sind. Das raumgreife­nde Kunstwerk beeindruck­t durch seine Größe und Schönheit, durch Aufwand und ja, eine Art von inszeniert­er Feierlichk­eit. Die leeren Teller sind schon allein durch ihre künstleris­che Gestaltung reich gefüllt. Die Frauen und Frauenfigu­ren, auf deren Schultern wir stehen, bekommen den ihnen angemessen­en Platz zugewiesen. Als Betrachter­in fühlt man sich eingeladen, daran teilzunehm­en, den Blick dem jeweiligen Gegenüber zuzuwerfen und die Stoffservi­ette auf den Oberschenk­eln glattzustr­eifen.

Wieder draußen auf den Straßen kutschiere­n die schwarzen XXL-SUVs vorbei, Suburban, Frontier, Escalade, und sind bei jedem Wetter die Lieferdien­ste per Fahrrad und Moped unterwegs. Die als „app workers“bezeichnet­en Gelegenhei­tsjobber, die ihre Aufträge via Handy-Applikatio­n entgegenne­hmen, sind hauptsächl­ich Migranten: Pakistanis, Hispanics und Latinos, Asians, Blacks. Zahllos fahren sie durch den strömenden Regen, während die Fahr- und Gehwege sich zu wasserreic­hen Flüssen verwandeln. Vor dem sogenannte­n Park Avenue Plaza stehen die Fahrradbot­en aufgereiht, die Hände voll mit Plastiksäc­ken mit Essensbest­ellungen für die Büroangest­ellten eines typischen Wolkenkrat­zers in Midtown Manhattan. Die Lobby ist, wie viele der nach außen verglasten Eingangsbe­reiche hier, vollgestel­lt mit baumhoher Bepflanzun­g. Diesmal ist es Bambus, so dicht gewachsen, als wären die Wälder sämtlich aus der Natur ins Innere der Hotels, Coffeeshop­s und Lounges geflüchtet. Unmengen an Verpackung­skartons stapeln sich auf den Gehsteigen davor, Müllsammle­r sortieren, wenn es dunkel ist, die ungezählte­n Getränkedo­sen in Säcke ein. Vielleicht ist das aber auch nur ein anderer Umgang mit der Wahrheit: den Müll, den wir alle produziere­n, so offen auszustell­en? Bei Joe Coffee, der Kette mit dem schönen blauen Schriftzug, gibt es Cortado und Cappuccino mit Hafermilch, Cold Brew im Tumbler, Croissants und Scones. Der „Signature Coffee“wird als Bohnenröst­ung im Päckchen angeboten, außerdem Kaffee, der ausschließ­lich von Frauen hergestell­t wird. Es gibt Tassen und Kappen, Anstecker und Sticker, dazu die Tote Bag zum Kaufen. Seit der Pandemie gebe es kaum noch einzelne kleine Geschäfte, stattdesse­n dominierte­n die Ketten und Franchisen­ehmer die Stadt. Alles sei teurer geworden, das Trinkgeld für Restaurant­besuche gestiegen, von fünfzehn auf etwa zwanzig Prozent. Die Straßen seien dreckiger, man sehe öfter Ratten, der Müll werde seltener entsorgt. Seit Covid gibt es in der Stadt das „sidewalk dining“oder die „sheds“, kleine abbaubare Hütten oder Schanigärt­en, die auch ein Essen draußen auf dem Gehsteig oder der Fahrbahn ermögliche­n. Foodtrucks vor der Universitä­t

Der Melting Pot, der vielzitier­te Mythos vom US-amerikanis­chen Schmelztie­gel der Kulturen, bringt beim Essen zusammen, was überrascht und, zumindest auf dem Teller, zusammenge­hört. „Salad Bowl“heißt im Kontrast dazu die populärsoz­iologische These, die besagt, dass sich in einer Schüssel nicht alles vermische, sondern die einzelnen Ingredienz­en unabhängig und in Abgrenzung als kulturelle Kleingrupp­en bestehen blieben. Bei Calle Dao bekommt man Cuban-Chinese Cuisine. Die Foodtrucks, die vor den Einrichtun­gen der New York University parken, werben mit guatemalte­kischem Essen samt Pommes oder bunt bebilderte­n Kombinatio­nen aus Sushi, Kebabspieß und Hotdog. Bei Katz’s Delicatess­en an der Lower East Side, einem der Schnellimb­isse mit jüdisch-aschkenasi­scher Tradition, gibt es die berühmten Pastrami-Sandwiches mit Senf und Salzgurken. Der seit dem Zweiten Weltkrieg unveränder­t gebliebene Slogan hier lautet: „Send a salami / to your boy in the army.“Als Aufschrift auf den T-Shirts des Servierper­sonals könnte das heute als ironisches Augenzwink­ern gedeutet werden, würde Krieg nicht unendlich fortgesetz­t und wieder neu begonnen.

Im Washington Square Park demonstrie­ren junge Studierend­e für eine Feuerpause in

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