„Als käme ich aus dem Gefängnis“
Vor mir sitzt eine 28-jährige junge Frau mit blauen Augen und cremefarbenem Kopftuch. Ihr Name ist Ajsche. Sie ist Krimtatarin, Vertreterin eines der indigenen Völker der Ukraine. Wir reden in ihrer kleinen Wohnung in einer süddeutschen Stadt. Auf dem Tisch stehen Yantyky, ein Gericht aus ungesäuertem Teig und Fleisch, eines der Hauptgerichte der nationalen Küche der Krimtataren. Ajsche und ihre Familie versuchen sich einzuleben. An den Wänden hängen Postkarten aus Bachtschyssaraj, im Bücherregal stehen ein paar Bände über Krimtataren, die sie von zu Hause mitnehmen konnten, sowie deutsche Lehrbücher.
Ajsche floh vor zahlreichen Verhören und Terrorismusverdacht von der besetzten Krim, ihr Mann Alim vor der Mobilisierung. Wäre er geblieben, hätte er in der russischen Armee gegen die Ukraine kämpfen müssen. Nach der Besetzung ihrer Heimat 2014 nahm Ajsche an Demonstrationen für die Rechte des krimtatarischen Volkes teil. Sie war gerade in ihrem dritten Studienjahr und wollte ein Video über den Völkermord an den Krimtataren im Jahr 1944 aufnehmen.
Am nächsten Tag bekam sie Besuch von Polizisten und FSB-Beamten. „Ich war jung und habe nicht viel verstanden“, sagt sie und zuckt mit den Schultern, „ich hatte Angst. Die FSB-Beamten ließen mich ein Dokument unterschreiben und gingen weg. Seitdem stehe ich auf der Krim unter Terrorismusverdacht.“ Ihre Häuser wurden durchsucht
„Nach der russischen Intervention auf der Krim trug ich nur schwarze Kleidung“, erinnert sich Ajsche an die Ereignisse von 2014. Eine der ersten Maßnahmen der russischen Besatzer waren Durchsuchungen von Häusern der Krimtataren. Jeder Widerstand wurde hart bestraft. Zum Beispiel am 3. März 2014: Wenige Tage nach dem Einmarsch der Russischen Föderation auf der Halbinsel Krim hielt der Krimtatare Reshat Ametov eine Mahnwache im Zentrum von Simferopol. Der Mann bewunderte die Ideen von Mahatma Gandhi und wollte einen friedlichen Protest gegen die Besetzung zeigen. Er wurde in ein Auto gezerrt und abgeführt. Nach zwei Wochen wurde er aufgefunden, sie hatten ihn zu Tode gefoltert.
Dutzende Krimtataren sind verschwunden, und Hunderte sitzen als politische Gefangene im Gefängnis. Die russische Annexion der Krim bedeutete für die Krimtataren Unterdrückung, Repressionen und die Vernichtung ihres Volkes. Erneut.
Im Jahr 1944 wurden auf Befehl Stalins ausnahmslos alle Krimtataren von der Halbinsel nach Zentralasien zwangsdeportiert. Während der Hauptdeportationswelle vertrieb der sowjetische Geheimdienst laut offiziellen Zahlen etwa 200.000 Krimtataren, nach einer von der Nationalen Bewegung der Krimtataren durchgeführten Selbstzählung waren es mehr als 400.000.
Emine, die Großmutter von Ajsche, erinnert sich an die schönen Berge in ihrem Heimatdorf in der Nähe von Feodossija und an das große zweistöckige Haus, in dem sie geboren wurde. Sie war acht Jahre alt, als ihre Familie deportiert wurde. Ein von Krimtataren gedrehtes Video zeigt eine ältere Frau, die ihre silbernen Locken unter einem grün geblümten Kopftuch versteckt. „Wir wurden alle zusammengetrieben und verbrachten eine Nacht in der Nähe des Friedhofs. Dann wurden die Leute in Waggons verladen.“
Obwohl die meisten Männer aus krimtatarischen Familien in der sowjetischen Armee an der Front kämpften, wurden die Krimtataren des „Landesverrats“beschuldigt. 80 Prozent der Deportierten waren Frauen und Kinder. Sie hatten einige Minuten bis zu einer halben Stunde Zeit, um ihre Sachen zu packen. Diejenigen, die sich wehrten oder nicht in der Lage waren zu gehen, wurden umgehend erschossen. Brot, der Koran, ein Fez mit Münzen
Die Großeltern von Ajsche nahmen die wichtigsten Dinge mit: Brot, den Koran und einen Fez mit Münzen. Bereits um 8 Uhr an diesem Tag wurden 90.000 Krimtataren in Güterwagen verladen, die für Viehtransporte bestimmt waren. So mussten die Menschen eine Strecke von mehr als 3000 Kilometern in die Usbekische SSR und andere entlegene Regionen der UdSSR zurücklegen. Der NKWD steckte 60 Menschen in einen Waggon. Es gab nicht genug Luft, Wasser und Nahrung.
Die Menschen starben im Zug, die Toten wurden aus den Waggons geworfen. Am 21. Mai 1944 endete die „Sonderoperation“. Es gebe keinen einzigen Krimtataren mehr auf der Krim, meldeten die Behörden. „Es gab kein Essen, kein Wasser“, erinnert sich die 87-jährige Großmutter Emine an die Deportation, und ihre Falten scheinen sich zu vertiefen. „Im Wagen weint jemand, jemand stirbt, jemand bringt ein Kind zur Welt.“Im Ural, wo Emines Familie schließlich landete, mussten sie unter unmenschlichen Bedingungen leben. „Wir haben sogar Gras gegessen. Oder Brennnesseln.“Im ersten Jahr nach der Umsiedlung starben 46 Prozent aller Deportierten an Hunger, Erschöpfung und Krankheiten.
Das sowjetische Regime tötete die Krimtataren nicht nur physisch, sondern verbot auch jede Erwähnung über die einheimische Bevölkerung der Krim. Die Krim wurde radikal russifiziert. Denn mit dem Machtantritt Stalins Ende der 1920er-Jahre gab es in der angeblich antikolonialen Sowjetunion wieder eine eindeutige Hierarchie, in der die russische Sprache und Kultur unangefochten die erste Position einnahmen. Das Leben als ständige Baustelle
Während die Sowjets auf der Krim Denkmäler der krimtatarischen Geschichte und Kultur zerstörten, kämpften die Überlebenden in Usbekistan um ihre Existenz. Sie mussten in den Kommandanturen registriert und angemeldet werden. Die Historikerin Gulnara Bekirowa erklärt, dass das unerlaubte Verlassen des Siedlungsortes beim ersten Mal mit fünf Tagen Arrest geahndet wurde, ein wiederholter Verstoß galt als „Flucht aus dem Verbannungsort“und wurde mit 20 Jahren Gefängnis bestraft.
1957 begannen die Krimtataren, für ihr Recht auf Rückkehr zu kämpfen, und schlossen sich in Initiativgruppen zusammen. Sie schrieben Petitionen und schickten Tausende von individuellen Briefen an den Kreml. Im Oktober 1966 versammelten sie sich zu Kundgebungen in verschiedenen Protest gegen die Verletzung der Menschenrechte durch Russland.
Städten Usbekistans. Tausende von Menschen wurden verprügelt, Hunderte wurden für 15 Tage inhaftiert und 17 zu langen Haftstrafen verurteilt.
Der Kampf der Krimtataren um das Rückkehrrecht in ihre Heimat wurde von den sowjetischen Behörden als Ausdruck eines feindlichen „Nationalismus“eingestuft, damit folgte die Behandlung der Krimtataren einem sowjetischen Muster, das den Kampf für mehr Freiheit und Selbstbestimmung nicht russischer nationaler Bewegung konsequent zu diskreditieren versuchte. Die einflussreichsten Aktivisten der krimtatarischen Bewegung wurden verhaftet. Der bekannte Dissident Mustafa Dschemiljew wurde siebenmal vor Gericht gestellt. Er verbrachte insgesamt 15 Jahre im Gefängnis und im Exil. Erst nach 1989 lockerte Moskau unter den Vorzeichen der Perestroika seinen rigiden Kurs. Die Krimtataren begannen massenhaft zurückzukehren. So auch die Familie von Emine.
Im Jahr 1991 wurde der Kurultai, der Kongress des krimtatarischen Volkes, neu konstituiert. Dieser wählte die Vertreter des Medschlis, eines parlamentsähnlichen Vertretungsorgans. Die Krimtataren, die aus Usbekistan Ajsche ist aus der Krim geflüchtet. Sie und andere wurden des Terrorismus verdächtigt: „Ich wusste nicht, wie meine Verhöre ausgehen würden.“Die Geschichte wiederholt sich: Schon ihre Großmutter musste ihre Heimat verlassen. Tataren Von Olesya Yaremchuk [Gleb Garanich/Reuters]
auf die Krim zurückgekehrt waren, begannen alles neu aufzubauen.
Krimtataren scherzen, dass ihr Leben eine ständige Baustelle ist. Ajsches Vater baute ein Haus nicht nur für seine Familie, sondern auch für drei andere Verwandten. Die Eltern mit drei Kindern lebten in zwei kleinen Zimmern. Es gab keinen richtigen Fußboden, die Familie schlief auf der Erde. Ajsche wuchs in einer Umgebung auf, in der viel Russisch, ein wenig Ukrainisch und kaum noch Krimtatarisch gesprochen wurde. „Und dann kam die Mobilisierung“
Die Beziehungen zwischen den Krimtataren und den umgesiedelten Russen waren nicht freundlich. Die Familie von Ajsche und Alim wurde immer wieder mit Chauvinismus konfrontiert. „Ich ging die Straße entlang“, erzählt Alim. „Zwei Typen näherten sich mir und sagten: ‚Schwarzer Arsch.‘ Meine Kollegen haben mich verurteilt, weil ich den 9. Mai nicht feiere, weil ich nicht zu den Paraden gehe. Wirklich, warum? Weil wir weder die sowjetische Vergangenheit noch die russische Gegenwart unterstützen.“
Die Ukraine, die gerade ihre Unabhängigkeit erlangt hatte, unterdrückte die Krimtataren
nicht, wie es die Sowjetunion und das Zarenreich getan hatten. Gleichzeitig stand sie vor so vielen Herausforderungen, dass sie sich nicht besonders mit der Frage dieses Volkes beschäftigen konnte. In den vergangenen zehn Jahren hat das Interesse an der krimtatarischen Sprache und Kultur auf dem ukrainischen Festland jedoch erheblich zugenommen. Viele Krimtataren bekleiden hohe Positionen in der Regierung und in diplomatischen Einrichtungen – während die Krimtataren auf der von Russland besetzten Krim weiterhin schikaniert und inhaftiert werden.
Als Alim am 24. Februar 2022 in seiner Wohnung in Bachtschissaraj aufwachte, konnte er die Neuigkeiten nicht glauben. „Es ist verrückt, Russland hat ein Land angegriffen, mit dem es ein Sicherheitsabkommen gehabt hatte. Was soll man tun? Wohin sollen wir gehen?“Als die ukrainischen Streitkräfte begannen, ihr Land zu verteidigen, glaubten Ajsche und Alim, dass die Krim bis zum Herbst befreit sein würde.
„Und dann kam die Mobilisierung.“Alim senkt seine Arme, seine Stimme wird leiser. „Heißt das, dass ich Ukrainer töten muss? Unsere Menschen?“In dem Unternehmen, in dem Alim arbeitete, wurden am Tag nach der Ankündigung sofort zehn Personen mobilisiert. Nach Angaben von Analysten von „Crimea_SOS“gelten 90 Prozent der Mobilisierungsaufrufe auf der Krim Krimtataren.
„Wir wollten bis zuletzt zu Hause bleiben“, erklärt Ajsche. „Ich wusste aber nicht, wie meine Verhöre ausgehen würden. Und als die Russen anfingen, die Mobilisierung als eine Form der Repression einzusetzen, wurde uns klar, dass dies das Ende ist.“Um auszuwandern, verkauften Ajsche und Alim alles, was sie besaßen.
Alim fuhr zuerst. Er hatte Angst, dass er es vor der Schließung der Grenze nicht schaffen würde. Der Grenzübertritt nach Lettland oder Estland ist eine der wenigen Möglichkeiten, Russland in Richtung Europa zu verlassen. Als Alim ankam, sah er kilometerlange Schlangen. Es war Ende September. Feucht und neblig. Ein verlassenes Dorf mit windschiefen Holzhütten. Ein paar Russen verkauften überteuertes Toilettenpapier und Wasser in einem Zelt. Die Menschen hatten keine Möglichkeit sich hinzusetzen. Einige von ihnen standen hier schon seit vier Tagen. Die Kinder schliefen auf Koffern und Pappe. Sorge um Verwandte auf der Krim
Wegen der eisigen Kälte musste Alim die ganze Nacht stehen. Wenn er sich auf seinen Koffer setzte, fror er sofort. Es begann zu regnen. Die Menschen deckten sich notdürftig mit Plastiktüten und Regenschirmen zu. In der Nähe standen ein paar Toiletten, aber es war beängstigend, sich ihnen überhaupt zu nähern. „Alles war mit Scheiße und Müll bedeckt“, sagt Alim angewidert.
„Als ich die Grenze überquerte und nach Lettland kam, schien es mir, als käme ich aus dem Gefängnis.“In Russland ist alles grau und schmutzig, die Menschen sind böse. Wenn man die Grenze überquert hat, trifft man freundliche Menschen, sie prüfen die Pässe schnell, überall sieht man einen glatten Rasen, erklärt er. „Ich wäre fast in Tränen ausgebrochen“, sagt Alim. „Unser Glück kannte keine Grenzen. Alles, was auf der Krim verboten war, konnten wir jetzt endlich laut aussprechen.“
Obwohl Ajsche nun schon seit einem Jahr in Deutschland lebt, intensiv Deutsch lernt, an Studium und Arbeit denkt und die Möglichkeit hat, in Freiheit zu leben, macht sie sich immer noch Sorgen um ihre Verwandten auf der Krim. Was, wenn sie inhaftiert werden? Als wir über krimtatarische Gerichte und ihre Familie sprechen, beginnt Ajsche zu weinen. Sie schweigt. Ich schweige auch.
„Du weißt nicht, wie sehr ich mich nach Hause wünsche“, sagt Ajsche und wischt sich die Tränen aus den geröteten Augen. So wie ihre Großmutter von der Krim träumte, als sie in Usbekistan lebte, träumt auch Ajsche davon. Sie rückt ihr Kopftuch zurecht. „Ich kehre zurück. Du wirst schon sehen.“ OLESYA YAREMCHUK
gJournalistin und Autorin des Buches „Unsere Anderen: Geschichten ukrainischer Vielfalt“. Dieser Artikel wurde von der „Coalition for Pluralistic Public Discourse“unterstützt. Momentan ist Olesya Yaremchuk Visiting Fellow des Programms „Ukraine im europäischen Dialog“am IWM. Namen und Orte im Text wurden geändert, um die Gesprächspartner zu schützen.