Die Presse

Was der Krieg im Menschen weckt

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Der 1972 geborene Franzose

Dverbracht­e zehn Jahre im Nahen Osten. In seinem Werk schlüpft er unter die Haut brutaler Kämpfer. er Krieg liegt immer auf der Lauer, Garantie auf Frieden gibt es nicht: Diese Lektion, die viele Europäer gegenwärti­g wieder lernen müssen, scheint der 1972 geborene Franzose Mathias Énard schon früh verinnerli­cht zu haben. Es hat wohl mit seinem Werdegang zu tun, der ihn nach der Schule für lange Zeit aus Europa hinausführ­te: Énard hat Arabisch und Persisch studiert und zehn Jahre im Nahen Osten gelebt. In Europa erlebte er seinen literarisc­hen Durchbruch mit dem Roman „Der Kompass“(Prix Goncourt 2015), der von der Passion früherer Europäer für den „Orient“erzählt – und in dem Wien eine wichtige Rolle spielt.

Das Fallen aller Grenzen der Gewalt und Grausamkei­t im Krieg zieht sich als Thema durch Énards Werk, eines der inhaltlich und stilistisc­h interessan­testen in der europäisch­en Gegenwarts­literatur. „Zone“(2008) bestand aus einem inneren Monolog eines Jugoslawie­nkriegsvet­eranen – in Form eines einzigen Satzes. Unter dem Eindruck eines Krieges fast „nebenan“, jenes in der Ukraine, bekam das deutschspr­achige Publikum dann 2023 den im Original schon zwei Jahrzehnte davor erschienen­en Roman „Der perfekte Schuss“serviert. Dieser zwingt die Leser, in die Haut eines 18-jährigen leidenscha­ftlichen Scharfschü­tzen in einem Bürgerkrie­g zu schlüpfen, der sich, zunächst selbst hineingezw­ungen in die ausbrechen­de Gewalt, in einen passionier­ten, sein „Geschäft“perfektion­ierenden Mörder verwandelt. Énard schildert dessen Erleben so sinnlich, dass es mitunter kaum erträglich ist. Bürgerkrie­g, nicht so weit weg

Sein neuer Roman „Tanz des Verrats“heißt im 2023 erschienen­en französisc­hen Original einfach „Déserter“, „Desertiere­n“. Und genau davon handelt einer der zwei auf den ersten Blick völlig unterschie­dlichen und zusammenha­nglosen Handlungss­tränge des Romans: vom Desertiere­n. Es wird aus der Sicht eines „er“erzählt, wobei die Erzählung immer wieder kurz in Bewusstsei­nsströme und innere Selbstgesp­räche gleitet. Wieder haben wir es offenbar, wie in „Der perfekte Schuss“, mit einem Bürgerkrie­g zu tun. Und wieder deutet die vom Protagonis­ten wahrgenomm­ene Vegetation – von Orangen- und Feigenbäum­en bis zu Thymian und Mandelholz – auf den Mittelmeer­raum hin. Warum dieser Mann es nicht mehr ausgehalte­n hat, obwohl er auf der Seite der „Sieger“stand, erfahren wir nicht. Ja, der Protagonis­t selbst scheint sich darüber kaum im Klaren. Traumatisc­he Bilder von (eigener) Grausamkei­t durchzucke­n ihn jedenfalls auf seiner einsamen Flucht, ebenso wie gehetzte Gebete.

Die Kraft dieser Fluchtgesc­hichte liegt in ihren oft drastische­n körperlich­en Details und deren Kontrast zur überwältig­enden Sinnlichke­it der gerade in den Frühling aufbrechen­den Natur ringsum: Der Mann kennt diese Natur, sie ist mit seiner Kindheit verknüpft, in der Hütte, die er zu erreichen sucht, hat er viel Zeit mit seinen Eltern verbracht. Doch durch das Kriegserle­ben Von der Flucht eines Deserteurs und der Friedensho­ffnung Europas, die nicht erst heute zerschellt: und sein Roman „Tanz des Verrats“. Mathias Énard Von Anne-Catherine Simon scheint er unwiderruf­lich von dieser Landschaft abgeschnit­ten. „Der Frühling steht bevor, und mit ihm kommt der Regen, oft gießt es in Sturzbäche­n und die Berge verwandeln sich in von Kugeln durchsiebt­e Kanister . . .“

Regentropf­en wie Kugeln: Oft sind es in die Wahrnehmun­g eingestreu­te Vergleiche, mit denen Énard etwas über die Psyche seines Protagonis­ten offenlegt (manchmal auch gar zu demonstrat­iv, da überlässt sich etwa der Mann, am Boden liegend, einmal dem Ungeziefer, und gleich ist die Rede von „Hundertund Tausendfüß­lern mit Zähnen scharf wie Gewissensb­isse“. . .) Die (selbst verübte) Gewalt haben ihn schwer deformiert, so viel ist klar. Aber wie restlos, wie unumkehrba­r ist diese Entwicklun­g? Der Mann trifft auf eine ebenfalls auf der Flucht befindlich­e Frau. Selbsterha­ltungstrie­b, Abstumpfun­g und die Mathias Énard Tanz des Verrats Roman. Aus dem Französisc­hen von Holger Fock und Sabine Müller, 252 S., geb., € 26,50 (Hanser Berlin) [Imago]

Gewöhnung an Grausamkei­t geraten hier in Widerstrei­t mit Resten von Menschlich­keit und Bedürfnis nach Nähe . . .

Énards Kriegsschi­lderungen sind zwar stets äußerst sinnlich und konkret, auf das Erleben einer Figur konzentrie­rt, dennoch sind sie im Grunde elementar und überindivi­duell. Der Autor zieht auch keine Grenze zwischen dem Bewusstsei­n seiner Figur und dem „höheren Bewusstsei­n“eines unsichtbar­en Erzählers, weder inhaltlich noch stilistisc­h. „Gab es ein erstes Beben, einen rauen Wind, die Voraussetz­ung für die Logik der Brutalität, ein dem Krieg vorausgehe­ndes, brünstiges Röhren, dem man sich nicht entziehen kann?“, lässt er seine Figur überlegen. „Nein, scheint ihm, es hat dich einfach überrascht.“Klingt nicht wie der Tonfall eines Deserteurs. Jedermanns Sache ist diese Verbindung von Rohheit und Pathos sicher nicht. Énard zielt mit ihr nicht auf eine individuel­le Erfahrung, sondern auf eine drastische Meditation über das, was der Krieg mit dem Menschen anrichtet, und das, was der Krieg im Menschen weckt. Die Mathematik als Hoffnungsp­rinzip

Um den Deserteur dreht sich allerdings nur einer von zwei gleichrang­igen Handlungss­trängen, die im Roman abwechseln­d erzählt werden. Der zweite führt scheinbar in ganz andere Gefilde. Seine Ich-Erzählerin ist eine Mathematik­historiker­in in Berlin, die im Roman immer mehr über die Geschichte und Beziehung ihrer Eltern erfährt, inklusive Liebe und Verrat : Maja und Paul, zwei überzeugte Kommuniste­n, die in der Zeit des Nationalso­zialismus im Widerstand waren (Paul auch inhaftiert im KZ Buchenwald) und nach dem Krieg durch Politik und Ideologie getrennt wurden, aber nicht ganz. Maja verließ die DDR und setzte ihre politische Karriere an der Seite des SPD-Politikers Willy Brandt in Westdeutsc­hland fort. Paul wiederum, ein begnadeter Mathematik­er, blieb bis in die Spätzeit der DDR überzeugte­r Kommunist und war nie bereit, die DDR zu verlassen. Zugleich litt er immer mehr am Verlust eines „Sozialismu­s mit menschlich­em Antlitz“.

Was hat der eine Plot mit dem anderen zu tun? Man kann sie sich schon denken, diese Verbindung – mit Betonung auf „denken“. Denn sie wird nicht literarisc­h hergestell­t, sie ist ein intellektu­elles Konstrukt (was man dem Autor, so interessan­t dieses ist, auch vorwerfen kann). Énard erzählt auf der einen Seite von der anhaltende­n Präsenz des Krieges vor den Toren Europas. Auf der anderen Seite von Europas Gewaltgesc­hichte im 20. Jahrhunder­t und der zerschellt­en Hoffnung, das Zeitalter der Gewalt hinter sich zu lassen. Außerdem aber auch vom Glauben an die Mathematik (das Paul mit Poesie kombiniert) als ordnendes Hoffnungsp­rinzip. Nicht zufällig hat er seine bedeutends­te Theorie in Buchenwald entwickelt.

Und nicht zufällig platzt nach seinem Tod in einen Kongress zu seinen Ehren das Attentat von 9/11 hinein. Jugoslawie­nkriege, der 11. September – die Gewalt ist wieder da, vielmehr: Sie war nie weg.

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