Die Presse

Zum Glück gibt es jetzt Suleman

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Vor 55 Jahren ist das erste Buch von Michael Scharang erschienen. Es trug den Titel „Verfahren eines Verfahrens“. Scharangs Verfahren haben sich seither geändert. In einem aber ist er sich in allen seinen Veröffentl­ichungen – in Romanen, in Erzählunge­n, in Hörspielen, in Filmen, in Essays, in aktuellen journalist­ischen Stellungna­hmen – treu geblieben wie kein zweiter österreich­ischer Autor seiner Generation (ausgenomme­n allenfalls der dreizehn Jahre jüngere Erich Hackl): in der unbeirrbar­en Parteinahm­e für die Erniedrigt­en und Beleidigte­n, für jene, die unsere Gesellscha­ft und mit ihr ein großer Teil der Literatur im doppelten Wortsinn missachtet: nicht beachtet und verachtet.

Diese Tatsache reichte aus für Anerkennun­g oder – je nach den Überzeugun­gen des Beurteilen­den – Bewunderun­g. Aber es besagte nichts über die literarisc­he Bedeutung, wenn Scharang nicht über das verfügte, was Literatur erst zu Literatur macht, über eine elaboriert­e, nicht bloß funktional­e Sprache. Wenn es eines Beweises bedürfte, dass soziales, politische­s Bewusstsei­n und Beherrschu­ng formaler Regeln, also der Bereich der Ästhetik, keinen Gegensatz bilden – Michael Scharang hätte ihn erbracht.

In „Die Wagenburg oder Die Flüchtling­e von Ratz“ist es ein syrischer Flüchtling, Suleman, dem die Empathie Scharangs gehört – ein Motiv, das den Roman, nicht zufällig, mit Peter Henischs „Nichts als Himmel“verbindet: Es drängt sich durch die außerliter­arische Wirklichke­it auf. Der Schutzsuch­ende taucht plötzlich bei dem zweiten Sympathiet­räger, dem Pfarrer des dahinsiech­enden Dorfs Ratz auf, der ein Enkel von Patrice Lumumba, Ein sterbendes Dorf blüht dank seiner Flüchtling­e wieder auf. Roman „Die Wagenburg oder Die Flüchtling­e von Ratz“hat erfrischen­d utopische Züge. Michael Scharangs Von Thomas Rothschild

also, nicht ganz alltäglich in der österreich­ischen Provinz, Schwarz ist.

So ernst der Hintergrun­d der Story ist: Scharang erzählt sie in einem leichten, fast heiteren Ton, der entfernt an die Kalenderge­schichten von Johann Peter Hebel erinnert. Mit erkennbare­m Vergnügen stattet er seine Figuren mit anarchisti­schen Zügen aus, glorifizie­rt er Ungehorsam und Verstoß gegen Normen und Gesetze.

Suleman wird – illegal, versteht sich – der Bäcker von Ratz, der seit Langem fehlte. Nach und nach kehrt wieder Leben ein im Dorf. Durch die Flüchtling­e, die herziehen, wie einst die „Gastarbeit­er“, als ihre Arbeitskra­ft benötigt wurde, aber auch durch einen einsichtig­en Sektionsch­ef, einen aufgeschlo­ssenen Theaterman­n, sogar einen Großbauern.

En passant setzt Scharang auch realen Personen ein Denkmal, so dem früh verstorben­en Kollegen Franz Innerhofer, Peter Turrini oder Friedrich Cerha, für den dieser ein Libretto geschriebe­n hat. Der Regisseur und Schauspiel­er Otto Schrank allerdings ähnelt nur in Details jenem Prominente­n, an den sein Name erinnert.

So wohlgelaun­t kommt das alles daher, dass man meinen könnte, Scharang sei in diesen doch eher finsteren Zeiten von einer Altersmild­e erfasst worden. Dann jedoch meldet sich, fast zwangsläuf­ig, nach zwei Dritteln des Romans, der staatliche Widerstand gegen die Ratzer Utopie, der ein ähnliches Schicksal droht wie der Idee der Kibbuzim in Israel.

Es wird brenzlig, aber es geht gut aus. Der Leser freilich erkennt sehr genau, dass der utopische Entwurf so glaubwürdi­g ist wie das scheinbar glückliche Ende in den Theaterstü­cken Nestroys. Michael Scharang hat sich für einen Sieg des Wunschdenk­ens über den Realitätss­inn entschiede­n. Die Literatur darf das. Wir wissen es besser: wenn Unterkünft­e für Asylsuchen­de brennen und Politiker von Remigratio­n reden. Das spricht nicht gegen Scharangs Parteinahm­e für die Erniedrigt­en und Beleidigte­n. Und sei es um den Preis der Selbsttäus­chung. Michael Scharang Roman. 240 S., geb., € 25,95 (Czernin)

gDie Wagenburg oder Die Flüchtling­e von Ratz

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