Russland trauert und bombardiert das Stromnetz der Ukraine
Der Anschlag auf eine Moskauer Konzerthalle forderte mindestens 137 Todesopfer.
Moskau/Kiew/Warschau. Nach einem der schwersten Terroranschläge in der russischen Geschichte dauerten die öffentlichen Spekulationen über die Hintergründe der Tat am Sonntag weiter an – und das trotz der Tatsache, dass die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) den Anschlag bereits in der Nacht auf Samstag für sich reklamiert hatte. Doch der russische Präsident, Wladimir Putin, deutete eine ukrainische Spur hinter dem Angriff an – ohne jedoch Beweise dafür anzuführen. Demnach sollen die Täter in Richtung Ukraine geflüchtet sein.
Die Hauptverdächtigen des Terroranschlags waren am Samstagabend zum Verhör in die russische Hauptstadt gebracht worden. Wie die staatliche russische Nachrichtenagentur Tass berichtete, waren die vier Männer in einer streng abgesicherten Wagenkolonne aus der Region Brjansk im Süden des Landes, wo sie festgenommen worden waren, zum sogenannten Ermittlungsausschuss gefahren worden. In den kommenden Tagen solle vor Gericht ein Antrag auf Haftbefehl gestellt werden.
Putin hatte in einer vom Staatsfernsehen übertragenen Rede am Samstagnachmittag von einer angeblichen Verwicklung der Ukraine in den Terroranschlag gesprochen. Mit Blick auf die festgenommenen Männer sagte er: „Sie haben versucht, sich zu verstecken, und haben sich in Richtung Ukraine bewegt, wo für sie ein Fenster für einen Grenzübertritt vorbereitet worden war.“
Schlag gegen „Christen in Musikhalle“
Kiew wies jede Beteiligung an der Tat mit mindestens 137 Toten und 152 Verletzten wiederholt zurück. Die Geheimdienste der USA und anderer westlicher Länder hatten bereits Anfang März vor einem drohenden Anschlag gewarnt. Putin tat die Warnungen jedoch als westliche Provokation ab. Auch der ukrainische Militärgeheimdienst meldete sich zu Wort und wies darauf hin, dass die Grenze, über die die Verdächtigen angeblich in die Ukraine hätten flüchten sollen, seit Langem vermint sei.
Der IS-Propagandakanal Amak veröffentlichte indes ein Bild mit vier Personen, deren Gesichter unkenntlich gemacht worden waren. Die Kämpfer hätten bewaffnet mit Sturmgewehren, Pistolen und Bomben Russland einen „schweren Schlag“versetzt, hieß es in der Mitteilung. Der Angriff habe „Tausenden Christen in einer Musikhalle“gegolten. Medienberichten zufolge sollen die Täter aus der ehemaligen Sowjetrepublik Tadschikistan stammen – das verarmte zentralasiatische Land, das an Afghanistan grenzt, gilt als eine Brutstätte des radikalen Islamismus. Nach Geheimdienstinformationen soll IS-K, der afghanische Ableger des Islamischen Staats, seine Kämpfer vor allem in Tadschikistan rekrutieren.
Der Sonntag war in Russland zum nationalen Trauertag ausgerufen worden. Auf den größten Leuchtreklametafeln der russischen Hauptstadt war eine brennende Kerze vor dunklem Hintergrund zu sehen. Außerdem standen dort das Datum des Anschlags, der 22. März, und der Schriftzug „Wir trauern“. Museen, Theater und Kinos waren geschlossen, Großveranstaltungen abgesagt. Szenen der Trauer gab es auch in Russlands nördlicher Metropole St. Petersburg und in anderen Städten. Im Ausland schlossen sich Serbien und Nicaragua mit eigenen Trauertagen dem Gedenken an.
Warnung aus Warschau
In der Nacht auf Sonntag griff das russische Militär die Metropolen Kiew und Lwiw sowie die Energieinfrastruktur in drei ukrainischen Regionen an. Die nächtlichen Bombardements versetzten das benachbarte Nato-Mitglied Polen in Alarmbereitschaft, als ein russischer Marschflugkörper den polnischen Luftraum kreuzte. Nach Angaben von Verteidigungsminister Wladysław Kosiniak-Kamysz drang das russische Flugobjekt 1000 bis 2000 Meter tief auf polnisches Territorium vor. „Wenn es irgendeinen Hinweis darauf gegeben hätte, dass dieses Objekt auf ein Ziel im Hoheitsgebiet der Republik zusteuert, wäre es natürlich abgeschossen worden“, sagte Kosiniak-Kamysz der Agentur PAP zufolge. Polnische und USamerikanische F-16-Kampfjets seien aktiviert worden. Polen werde den russischen Botschafter ins Außenministerium in Warschau zitieren, der sich dazu erklären müsse, sagte Vizeaußenminister Andrzej Szejna. Von den Informationen des Botschafters hänge das weitere Vorgehen ab.
Lwiws Bürgermeister, Andriy Sadowyj, zufolge wurden etwa 20 Raketen und sieben Shahed-Drohnen aus iranischer Produktion auf die Region abgefeuert, die auf kritische Infrastruktureinrichtungen abgezielt hätten. Laut Behörden wurde dabei auch eine nicht näher bezeichnete Anlage der kritischen Infrastruktur getroffen. In der Region Kiew wurden Stromleitungen beschädigt.
Nach den Luftangriffen der vergangenen Tage erhöhte die Ukraine am Sonntag ihre Stromeinfuhren massiv. Zugleich seien die Stromausfuhren gestoppt worden, teilt das Energieministerium mit. Der größte private ukrainische Stromerzeuger DTEK verlor bei den Angriffen am Freitag nach Angaben des Versorgers Yasno 50 Prozent seiner Produktionskapazität.
Die Angriffe der vergangenen Tage hätten Anlagen zur Stromerzeugung und -verteilung getroffen, auch Wärme- und Wasserkraftwerke. „Der Feind hat die Netzknoten und Transformatoren schwer getroffen“, sagt YasnoChef Serhij Kowalenko im staatlichen Fernsehen. (ag./red.)
‘‘ Hätte das Objekt auf Polen gezielt, wäre es abgeschossen worden.
Wladysław Kosiniak-Kamysz Verteidigungsminister