Komponist Alex Christensen: „Haben die 90er unterschätzt“
Alex Christensen spricht über seine neue Konzertreihe, die Magie der 90er und seinen inneren Antrieb, immer wieder etwas Neues auszuprobieren.
Die Presse: Sie hören das bestimmt nicht zum ersten Mal, ich frage dennoch: Ihre Songs eignen sich perfekt zum Laufen. Beim bevorstehenden Vienna City Marathon werde ich bei „Das Boot“anfangen und „L’amour toujours“aufhören.
Alex Christensen: Wenn man in einem gesetzteren Alter ist, in seinen 30ern oder 40ern, hört man gern Musik aus seiner Jugend. Und die 90er haben uns alle begleitet, daher hört man die Songs von damals gern wieder – und zwar am besten renoviert. Man will ja auch immer den alten Mercedes oder Porsche aus den 90ern fahren – es macht aber mehr Spaß, wenn er poliert ist, der Motor gut läuft und er vielleicht auch elektrische Fensterheber hat. Das ist bei meiner Musik auch so. Ich versuche, den Charakter meiner Songs zu erhalten, will aber, dass sie durch das Orchester in neuem Glanz erstrahlen. Das Publikum soll das Feeling zurückbekommen, das es damals mit den Songs verbunden hat, aber eben in einem aktuellen Sound. Hinzu kommt der Beat, für den ich seit fast 40 Jahren bekannt bin. Das kann ich auch ganz gut. Dass meine Musik also ideal zum Laufen ist, wundert mich nicht (lacht).
In Discos gibt es auch 70er-, 80er- und 2000er-Abende, am besten ist die Stimmung aber bei den 90er-Abenden. Auf Festivals ist es genauso. Wenn sie mehreren Jahrzehnten gewidmet werden, sind die 90er immer das Highlight. Was, denken Sie, macht die Magie der 90er aus?
Dass wir diese Zeit alle unterschätzt haben. Alles ging so schnell, es gab so viele Hits, die wir im Vorbeigehen mitgenommen haben, das Leben war leicht und sorgenfrei. Wir sind auf Weihnachtsmärkte und auf die Loveparade gegangen mit vielen Lkw, die durch die Mengen fuhren, ohne Angst zu haben. An solche Sachen erinnert man sich gern und merkt, dass auch die Musik toll war. Dieses Lebensgefühl mit diesen Songs wiederzuentdecken, vervielfältigt diesen Effekt. Deswegen gibt es auch keine Abi-Party, auf der nicht um halb eins ein Song der Backstreet Boys läuft und alle ausflippen.
Oder ein Song von Ihnen.
Oder ein Song von mir. Natürlich (lacht).
Ich habe als Jugendlicher zu Ihrer Musik getanzt, in meinen 20ern und auch 30ern. Sie waren immer „in“– und sind es noch. Woher kommt diese Motivation und innere Unruhe, noch immer kreativ zu sein und Musik zu komponieren?
Sie sagen es, es ist eine innere Unruhe. In dieser Hinsicht bin ich ein Extremsportler. Ich liebe es, in Bereiche vorzudringen, in denen ich noch nie war. Ob das orchestrale Projekte sind wie dieses, ein Swingalbum mit Paul Anka oder ein Weihnachtsalbum mit Helene Fischer – das sind alles Herausforderungen, bei denen ich weiß, dass ich mich nicht auf einem Feld bewege, auf dem ich mich wohlfühle. Dort muss ich mich erst zurechtfinden und mich hineinarbeiten. Ich muss also raus aus meiner Komfortzone und dahin gehen, wo es wehtut. Ich habe unglaublich viel Spaß daran, mich mit Dingen zu beschäftigen, bei denen ich etwas lernen kann. Und wenn ich etwas erschaffe, bei dem ich das Gefühl habe, das kann jetzt ein paar Jahre so bleiben, macht mich das so glücklich und treibt mich so an, dass ich schon wieder Lust auf etwas Neues bekomme.
„Ich will mit dir die Sterne sehen. Dann werd’ ich mich an dir vergehen“, lautet eine Zeile aus „Doktorspiele“. Und weiter: „Doch bitte untersuche mich. Oh bitte untersuche mich.“Würden Sie solche Zeilen heute auch noch schreiben?
„Doktorspiele“und auch „Du hast den schönsten Arsch der Welt“sind 2007 herausgekommen und waren enorm emanzipierte Songs – weil sie eine Frau singt. Das ist der entscheidende und smarte Twist bei diesen Songs, den viele viel zu spät verstanden haben. Diese Songs sind ihrer Zeit weit voraus, sie hätten 2023 erscheinen sollen, nicht schon 2007. Bis heute werden sie immer wieder gecovert. Deswegen bin ich so stolz auf sie. „Du hast den schönsten Arsch der Welt“spiele ich auch mit dem Orchester. An diesen Songs ist nichts Sexistisches. Sie sind charmant, emanzipiert, frech und auch lustig. Würde sie ein Mann singen, wäre das eklig und doof. Das wusste ich schon damals, deswegen war es eine bewusste Entscheidung, sie von Yasmin K. singen zu lassen.
Das verstehe ich alles. Aber: Ist „sich an jemanden vergehen“nicht dennoch zu viel?
Das ist natürlich gedanklich gemeint. Lyrik und Musik sind frei. Ich weise noch einmal auf den Bruch hin, dass diese Songs von einer Frau gesungen werden. Deswegen stehe ich bis heute auf diese Songs, die man mit einem Augenzwinkern sehen muss. Emanzipation war und ist mir extrem wichtig. 70 Prozent meines Orchesters sind weiblich – und zwar ganz bewusst. Frauen spielen nämlich mindestens genauso gut wie Männer, müssen sich aber doppelt so viel Mühe geben, um diesen Job zu bekommen. Generell müssen Frauen immer doppelt so viel arbeiten, um dieselbe Flughöhe zu erreichen wie ein Mann. Das ist selbstverständlich in höchstem Maß ungerecht, und deswegen hatten und haben sie in mir immer einen Verbündeten.
Sie haben natürlich mitbekommen, dass die UNESCO den Berliner Techno, den ja unter anderem Künstler wie Sie mitbegründet haben, zum immateriellen Weltkulturerbe erklärt hat, zu einem Kulturgut also, das es besonders zu schützen gilt.
Ja, das habe ich vergangene Woche erfahren und finde, dass das seine Berechtigung hat. Techno ist eine sehr europäische Musik und wurde in großen Teilen in Europa erschaffen. Das ist schützenswert. Außerdem ist Techno ein Wirtschaftsfaktor. Wie viele Leute kommen jedes Jahr nach Berlin, um in den Clubs zu feiern? Dabei sind die Clubs noch am günstigsten, das Anreisen, die Hotels und das Essen machen den größeren Teil der Ausgaben aus. Berlin profitiert also von seiner Technoszene, daher halte ich es für absolut richtig, dass der Berliner Techno zum Weltkulturerbe erklärt wurde.