Kušejs Abschied: Abstieg in die Kleinstadthölle
Martin Kušej ist seine letzte Regiearbeit als Burgtheater-Direktor ganz gut gelungen. Er inszeniert „Orpheus steigt herab“von Tennessee Williams als langsames, lastendes Provinzinferno. Mit Todescountry-Soundtrack.
Es beginnt mit Feuer, und es endet im Feuer, dazwischen ist viel Unheil, Begierde, Verwirrung und ein Schimmer von Erlösung. Das könnte die Synopsis des ultimativen Countrysongs sein, den Johnny Cash dann doch gerade nicht geschrieben hat. Es passt auch gut auf die BurgtheaterAufführung von „Orpheus steigt herab“.
Es ist kein einfaches Stück von Tennessee Williams und sicher auch nicht dessen bestes, das sich Martin Kušej für seine letzte Premiere als Burgtheater-Direktor ausgesucht hat. Doch es enthält so ziemlich alle Motive, die den Dramatiker Tennessee Williams beschäftigt haben. Im Zentrum jenes, das ihn vielleicht am meisten gefesselt hat: das Motiv vom coolen Kerl, der in eine Welt einbricht und dort die Herzen bricht. Sein Orpheus ist Val, ein Herumtreiber, der nur seine Gitarre und seine Jacke aus Schlangenleder wirklich liebt, ein freiwilliger Outcast, stolz, trotzig und sexy. Leicht kommunikationsgestört, aber mit sprechenden Hüften. Im Grunde ein Elvis Presley. Oder ein Marlon Brando: Dieser hat den Val auch in der Filmversion des Stücks („The Fugitive Kind“, 1960, deutscher Titel: „Der Mann in der Schlangenhaut“) gespielt, wie den Stanley Kowalski in „A Streetcar Named Desire“(1951).
Die Elvis-Presley-Assoziation wird im vollständigen Originaltext dadurch verstärkt, dass Val von schwarzen Musikern wie Leadbelly oder Bessie Smith schwärmt. Und dass sein erster Auftritt durch eine seltsame, leicht an rassistische Klischees anklingende Szene quasi angekündigt wird, in der ein sprachloser Schwarzer namens Uncle Pleasant urtümlich schreit.
Oliver Welter als Double des Orpheus
Diese Figur und diese Szene hat Kušej verständlicherweise gestrichen, er hat seinen Val von Blues auf Country umgestimmt und ihm den Sänger und Gitarristen Oliver Welter beigesellt, der mehr als ein Bühnenmusiker ist: ein düsteres Double des Orpheus Val, bisweilen, ganz à la Johnny Cash, im schwarzen Mantel.
Val/Orpheus steigt jedenfalls in die Hölle einer Kleinstadt in den Südstaaten herab. Freilich nicht, um eine bestimmte Eurydike zu finden, er weiß nur zu gut: Es sind genug unerkannte Eurydikes da, die sich gern von ihm – auch im biblischen Sinn – erkennen und aus der brutalen Fadesse und der faden Brutalität der Kleinstadt herausholen lassen würden. Drei kommen im Stück ausführlich vor: die irre Carol, die – im Gegensatz zum umschwärmten Val – wirkliche Außenseiterin, die sich nach einer wilden, romantischen Vorzeit sehnt, die fromme, naiv kunstsinnige, doch auch abgründige Polizistengattin Vee und vor allem Lady, die vergleichsweise junge Frau von Jabe, dem Mann, der ihren Vater, einen italienischen Immigranten, auf dem Gewissen hat. Jabes Bande hat dessen Gasthaus angezündet, weil er illegalen Alkohol an Schwarze verkauft hat.
Nun ist Jabe sterbenskrank, alle warten auf seinen Tod. Ungeachtet dessen ist er weiterhin böse, fast ohne Nuancen, einfach ein gemeiner Patriarch in den letzten Zügen. Auch das macht diese Kleinstadt-Antiidylle zur Unterwelt. Und Val zum potenziellen Erlöser: Sein Familienname Xavier klingt auch wie „saviour“, und Kušej lässt ihn sogar einmal als „Messias“ansprechen.
Dass es mit der Erlösung nichts wird, ist freilich von vornherein klar: Die Bluthunde bellen schon, es knarrt im Gebälk, das Feuer muss kommen, und es kommt. Allerdings lässt es sich Zeit. Diese Inszenierung wirkt langsam, lastend, bedrückend, wie die Musik, die Welter spielt: Death Country hat man dergleichen in den dunklen 1980er-Jahren genannt. Entsprechend düster ist die Szenerie: Die Beleuchtung suggeriert oft Mondlicht. Dazu dreht sich die von Annette Murschetz gestaltete Bühne gnadenlos, zeigt das baufällige Allzweckhaus immer wieder von einer anderen Seite.
Lisa Wagner: Lady mit bitterem Stolz
Wie oft dreht sie sich? Schaut man häufig auf die Uhr in den beinahe drei Stunden in dieser schäbigen Hölle? Nein. Dass „Orpheus steigt herab“kaum je fad wird, liegt, wie so oft im Burgtheater, zu einem guten Teil an den Schauspielern. Tim Werths ist ein schlaksiger, am Anfang etwas gar angestrengt unwirsch blickender Val mit Rod-Stewart-Frisur, der allmählich erkennt, dass er nicht nur Leidenschaften weckt, sondern auch in sich selbst solche zumindest ahnt. Lisa Wagner ist eine Lady, der man schmerzlich anmerkt, wie sie fürchtet, lächerlich zu wirken, wie schwer es ihr fällt, den Stolz aufzugeben. Lang sieht sie Val gar nicht an. Doch dann glaubt man ihr die Liebende, die Verbitterte und am Ende sogar die Furie.
Nina Siewert wurde von Kostümbildnerin Heide Kastler als Spätpunk à la Courtney Love hergerichtet: Mit löchrigen Strumpfhosen und schwarz verschmierter Augenpartie, später auch mit Blut auf dem Kleid, gibt sie eine Carol, der schon alles egal ist, außer dem Schrei nach Leben und Liebe natürlich. Sarah Viktoria Frick ist wieder einmal Komödiantin am Abgrund: eine Vee, die man belächeln kann und lieb haben muss. Wahrscheinlich würde man ihr sogar ein abstraktes Heiligenbild abkaufen.
Auch alle anderen wurden zu Recht beklatscht, natürlich auch Martin Kušej, der dezente Schlangenlederschuhe trug, als wollte er sagen: Ein bisschen Val wären wir doch alle gern. Guter Abgang.