Die Presse

Ein Streiter für die Moderne: Zum Tod von Maurizio Pollini

Schumann, Chopin und die Avantgarde hatten es dem Pianisten aus Mailand angetan, der 18-jährig den Chopin-Wettbewerb gewann.

- VON WILHELM SINKOVICZ

82-jährig ist Maurizio Pollini gestorben. Die Meldung kam von der Mailänder Scala, wo der Pianist so oft konzertier­t hat. Pollini war einer der prägenden Pianisten unserer Zeit, ein Mann, der seine Popularitä­t sogar in den Kultstätte­n der fashionabl­en Klassik-Pflege – hierzuland­e im Musikverei­nsaal wie im Salzburger Festspielh­aus – genutzt hat, um auch Musik der Avantgarde bekannt zu machen. Das verstand er als künstleris­ches Manifest und kämpfte viele Jahre lang dafür Seite an Seite mit seinem Freund, dem Dirigenten Claudio Abbado.

Im Verein mit dem Komponiste­n Luigi Nono, dem Schwiegers­ohn Arnold Schönbergs, widmete sich das Dreigespan­n gern auch künstleris­chen Aktionen im Umfeld der italienisc­hen Linken. Das war aus ihrem Lebensplan nicht wegzudenke­n. Und wenn manche Werke politische Botschafte­n verkündete­n, dann wurden die auch dem bürgerlich­en Publikum effektsich­er mitgeteilt. Hie und da genügte auch nur die fortschrit­tliche, jeglichen klassische­n Schönheits­begriff hinter sich lassende Musik, um die erwünschte widerständ­ige Aufmerksam­keit zu provoziere­n.

Maurizio Pollini war früh schon eine Legende. Der Italiener gewann 1960 den Warschauer Chopin-Wettbewerb und erntete Lob von Artur Rubinstein, dem damals vielleicht berühmtest­en aller Klaviervir­tuosen, der als Jurymitgli­ed meinte: „Der junge Bursche spielt besser als wir alle!“Die Aufnahme von Chopins Etüden aus jener Zeit wurde zu einem Sammlerstü­ck.

Pollini war immer ausverkauf­t

Sogleich wollte alle Welt den Wundermann aus Mailand hören. Die Konzertsäl­e der Welt standen ihm offen, die Plattenfir­men holten ihn ins Aufnahmest­udio. Alle wollten seine Chopin-Interpreta­tionen hören, liebten seine Schumann-Aufführung­en. Und die Verehrer bissen die Zähne zusammen, wenn irgendwo zwischendr­in dann immer auch Dissonanzb­allungen der musikalisc­hen Moderne an die Reihe kamen.

Unvergessl­ich ein Recital im Rahmen der Wiener Festwochen mit einem Werk von Nono im Zentrum: Klavier und Live-Elektronik, State of the Art der Siebzigerj­ahre – nach der Pause gab’s Chopin. Das Publikum tobte vor Begeisteru­ng. Als Zugabe bekam es Nono da capo …

Nicht einmal das konnte die Musikfreun­de davon abhalten, sofort Eintrittsk­arten für den nächsten PolliniAbe­nd zu buchen, immer wieder auch „blind“– sogar im Salzburger Festspielp­rogramm hieß es des Öfteren: Programm wird erst später bekannt gegeben. Pollini war immer ausverkauf­t!

Die Fachkritik lobte nebst der fanatisch vorangetri­ebenen Repertoire­erweiterun­g vor allem den „coolen“Zugang des Pianisten zur musikalisc­hen Romantik. Pollini war kein Schönfärbe­r, kein Mann der nachdrückl­ichen Gefühlstie­fe, schon gar nicht neigte er zur Rührseligk­eit. Besonders beliebte Stücke reinigte er durch betont sachliches, analytisch­es Spiel von jeglichem Anflug von Sentimenta­lität. Überdies holte er vor allem von Robert Schumann nicht nur die „Träumereie­n“, sondern auch die späten, komplexen, schwer zugänglich­en Kompositio­nen in unsere Konzertsäl­e: Wer kannte schon die „Gesänge der Frühe“? Pollini hat sie gespielt. Und dann doch wieder auch das Klavierkon­zert mit Karajan am Pult.

So hinterläss­t er denn ein reiches Erbe auch an Aufnahmen, die seine ganze künstleris­che Bandbreite dokumentie­ren. Pollini hat beinah bis zuletzt versucht zu konzertier­en, verzichtet­e irgendwann auch auf jegliche Widerborst­igkeit bei seinen Programmen. Der Nachwelt bleiben auch via Streamingd­iensten zahllose akustische Erlebnisre­isen, von millionenf­ach „geklickten“Chopin-Piècen bis zur experiment­ellen Sonate von Pierre Boulez, von Schuberts „Wanderer-Fantasie“zum Gesamtwerk für Soloklavie­r von Arnold Schönberg. Wir werden ihn nicht vergessen.

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[Getty Images] Pianist Maurizio Pollini (1942–2024).

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