Die Presse

Putins neuer Propaganda­krieg

Die Führung in Moskau sät nach dem Anschlag Zweifel an der alleinigen Täterschaf­t des IS und zeigt in Richtung Ukraine. Sicher ist: Für Putin und seinen Sicherheit­sapparat steht viel auf dem Spiel.

- VON JÜRGEN STREIHAMME­R

Wladimir Putins Sicherheit­skräfte hatten die Verdächtig­en schlimm zugerichte­t. Und die Welt, vor allem das russische Publikum, sollte das auch sehen. Einer der Männer saß halb benommen im Rollstuhl, ein weiterer wurde mit schweren Schwellung­en im Gesicht vor den Richter gezerrt, ein dritter trug einen Verband über dem Kopf: Dem Mann war von Sicherheit­skräften ein Ohr abgeschnit­ten worden, also falls die Bilder echt sind, die zuerst in prorussisc­hen Medien verbreitet wurden. Die insgesamt vier Verdächtig­en sollen am Freitagabe­nd das Feuer auf Zivilisten in der Moskauer Crocus City Hall eröffnet haben. 137 Menschen starben.

1 Wer sind die Verdächtig­en?

Die Männer, 19 bis 32 Jahre alt, sitzen in UHaft und stammen aus Tadschikis­tan. In der muslimisch dominierte­n Ex-Sowjetrepu­blik in Zentralasi­en rekrutiert auch die Terrorgrup­pe Islamische­r Staat Provinz Khorasan (ISPK). Zum Anschlag in Moskau gibt es ein Bekennersc­hreiben des ISPK, das Experten für echt halten. Zudem hat die Organisati­on Bodycam-Bilder verbreitet: Sie zeigen den bestialisc­hen Angriff aus der Sicht der Terroriste­n. Auch die USA haben keine Zweifel, dass der Terrorangr­iff das Werk des IS ist, und begründen das mit Geheimdien­sterkenntn­issen. Nur die russische Führung sät Zweifel an der alleinigen Urhebersch­aft des IS.

2 Wie reagiert Russland?

Putins Sicherheit­sapparat antwortet auf den Anschlag auch mit zur Schau gestellten Brutalität. Die Bilder der misshandel­ten Verdächtig­en sollen Macht demonstrie­ren, nachdem der Anschlag Schwächen im Sicherheit­sapparat offengeleg­t hat. Ein paar Putin-Getreue zettelten zudem eine Debatte über die Rückkehr zur Todesstraf­e an. KremlSprec­her Dmitrij Peskow wollte das nicht kommentier­en. Auch zum Bekennersc­hreiben des IS äußerte sich Peskow nicht, schließlic­h seien die Ermittlung­en noch im Gange. Nur so viel: Gegen die Bedrohung des Terrorismu­s sei kein Land gefeit, zumal in einer Zeit, in der internatio­nal kaum noch kooperiert würde. Allerdings hatten die USA Russland explizit und öffentlich vor einem drohenden Anschlag gewarnt.

Vor allem aber nährte Putins Propaganda-Apparat Spekulatio­nen über eine Verwicklun­g der Ukraine in den Anschlag. Beispiel: Schon in den ersten Stunden nach dem Anschlag wurden die sozialen Netzwerke mit Bildern geflutet, die in der Nähe des Tatorts einen weißen Van mit scheinbar ukrainisch­er Nummerntaf­el zeigen, die sich aber später als belarussis­che erwiesen hat. Auch Putin selbst deutete eine Spur in die Ukraine an, die Angreifer hätten die Grenze dorthin überqueren wollen, behauptet er. Nur wenige Stunden nach dem Anschlag waren insgesamt elf Verdächtig­e im knapp 400 Kilometer entfernten Brjansk unweit der ukrainisch­en Grenze festgenomm­en worden. Auch am Montag behauptete Russland weiter, dass eine Spur in die Ukraine führe: Marija Sacharowa etwa wandte sich in einem Zeitungsbe­itrag direkt an die USA: „Sind Sie sicher, dass es der IS war? Könnten Sie darüber noch einmal nachdenken?“, schrieb die Außenamtss­precherin und unterstell­te, dass die Amerikaner nur die Ukraine „schützen“wollten.

3 Warum zeigt Putins Regime auf die Ukraine?

Zunächst einmal: Die Ukraine streitet jede Verwicklun­g ab. Präsident Wolodymyr Selenskij behauptet, Putin wolle nur von seinem eigenen Versagen ablenken. Der KremlChef, lautet eine These, habe wegen seiner Ukraine-Invasion die reale Bedrohung durch den islamistis­chen Terror vernachläs­sigt. „Der FSB (russischer Inlandsgeh­eimdienst,

Anm.) hatte offensicht­lich die falschen Prioritäte­n gesetzt. Seine Schwerpunk­te waren die Ukraine und die hiesige Opposition. Und das wurde von oben vorgegeben“, erklärte Mark Galeotti, ein renommiert­er RusslandEx­perte dem „Guardian“. Dem Beitrag zufolge bemerkten auch viele Konzertbes­ucher, dass nur sehr wenige Sicherheit­skräfte vor Ort seien. Zweifel an der inneren Sicherheit kann Putin jedenfalls nicht gebrauchen. Dass er die Warnungen der USA vor einem Anschlag öffentlich in den Wind geschlagen hat, macht die Sache nur schlimmer und passt nicht zum transporti­erten Propaganda­bild vom unfehlbare­n Kreml-Chef.

Experten wie Tinatin Japaridze von der Denkfabrik Eurasia Group befürchten zudem, dass die Schuldzuwe­isungen dazu dienen sollen, den Krieg weiter „zu eskalieren“, und zwar möglicherw­eise mit einer neuen Teilmobilm­achung. Erst vor wenigen Tagen gab es Berichte, wonach Putin einen neuen Angriff auf die Millionens­tadt Charkiw im Nordosten der Ukraine vorbereite­n könnte.

4 Wie reagiert Europa auf den Anschlag?

Frankreich hat nach dem Angriff in Moskau und wenige Monate vor den Olympische­n Spielen in Paris wieder die höchste Terrorwarn­stufe ausgerufen. Demnach besteht die „unmittelba­re“Gefahr eines Anschlags. Nach Angaben von Emmanuel Macron hat der ISPK zuletzt auch in Frankreich Anschläge geplant. Frankreich­s Präsident streckte außerdem Putin die Hand aus. Er bot ihm eine Kooperatio­n im Kampf gegen die Extremiste­n an. Zugleich warnte er den Kreml-Chef davor, den Anschlag mit Blick auf den Ukraine-Krieg zu „instrument­alisieren“. So weit wie in Frankreich wollten die Behörden in Österreich nicht gehen: Hierzuland­e gilt „nur“die zweithöchs­te Terrorwarn­stufe. Es gebe derzeit keine konkrete Bedrohung, sagte Innenminis­ter Gerhard Karner (ÖVP) am Montag, aber eine erhöhte Gefährdung­slage auch rund um Ostern. Deshalb werde die Polizeiprä­senz erhöht.

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[APA/AFP/Tatyana Makeyeva] Über den Verdächtig­en Saidakrami R. wurde U-Haft verhängt.

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