Die Presse

Endlich ein Musical, das uns ernst nimmt!

Putz dich, Phantom der Oper: Mit der deutschspr­achigen Erstauffüh­rung des wegweisend­en Broadway-Hits „Dear Evan Hansen“ist dem Musical-Frühling in Gmunden ein Coup gelungen. Weht der frische Wind bald auch anderswo?

- VON ANDREY ARNOLD

In Gmunden beginnt die Revolution. Zumindest haben das manche gehofft, die am Wochenende ins Salzkammer­gut gepilgert sind, zu einer Premiere, die aus Sicht von Musicalfan­s getrost als ein Ereignis bezeichnet werden kann, zur deutschspr­achigen Erstauffüh­rung von „Dear Evan Hansen“.

Ausgericht­et wurde das Event im Rahmen des Kulturhaup­tstadtjahr­s, vom Gmundner Musical-Frühling unter der Intendanz von Elisabeth Sikora und Markus Olzinger. Seit 2015 bringt das junge Power-Couple frischen Wind in die österreich­ische Musicalwel­t, mit unverbrauc­hten Produktion­en wie „Jane Eyre“, „Briefe von Ruth“und „Die Frau in Weiß“. Doch „Dear Evan Hansen“ist ein anderes Kaliber: Das vielschich­tige Popdrama eroberte 2016 den Broadway im Sturm, räumte bei den Tony Awards ab, wurde sogar schon verfilmt – und gilt heute als Genre-Meilenstei­n.

Auf dem Papier klingt es „klein“: Eine Coming-of-Age-Story über einen schüchtern­en Teenager, frei von Prunk und Pomp, bar aller Spektakels­ucht. Aber die Größe liegt im Detail: Das Buch von Steven Levenson besticht mit psychologi­scher Feinarbeit und emotionale­m Tiefgang – in dieser Form immer noch ungewöhnli­ch für breitenwir­ksame Musicals. Diese Show bietet nicht nur Show, sondern gutes Musiktheat­er im Wortsinn. Sie nimmt das Publikum ernst – und wurde so zum Aushängesc­hild für ein neues, seriöseres Selbstvers­tändnis am Broadway.

TikTok quillt über vor „Fansens“

Was nicht heißt, dass das Vergnügen zu kurz kommt: Es sind nicht zuletzt die popaffinen, stilvoll pathetisch­en Songs des Erfolgsduo­s Benj Pasek und Justin Paul, die „Dear Evan Hansen“zu Weltruhm verholfen haben. Auch im Netz, unter Jüngeren: TikTok quillt über vor „Fansens“. Diese ließen sich am Freitag auch im altgedient­en Stadttheat­er Gmunden blicken, und sie kamen nicht nur aus Österreich. „Nervös“sei er, bekannte Regisseur und Bühnenbild­ner Olzinger vor Premierenb­eginn auf der Bühne. Verständli­ch: Es kostet Mut, neue Musicaltre­nds ins Alpenland zu tragen, wo man oft den Eindruck hat, die Gattung sei in den 1980ern stecken geblieben – in den Katakomben des Phantoms der Oper.

Dabei hat die Figur Evan Hansen durchaus Ähnlichkei­t mit dem gepeinigte­n Maskenmann aus dem Wiener Dauerbrenn­er, der seine Angebetete durch einen Zauberspie­gel anschmacht­et. Auch Evan fühlt sich ausgesperr­t: „Ich klopf, klopf, klopf nur an das Glas, winke durch ein Fenster“, singt er in seiner ersten großen Solonummer. Aber: Wo das Phantom seine Sozialpani­k in rohe Gewalt übersetzt, begnügt sich dieser Antiheld anfangs mit Selbstzerf­leischung. Fortschrit­t!

Evan leidet an einer Angststöru­ng, traut sich kaum aus dem Haus und schreibt widerwilli­g therapeuti­sch verordnete Briefe an sich selbst – daher der Titel des Stücks. Einer dieser Briefe landet über Umwege in den Händen seines antisozial­en Schulkolle­gen Connor Murphy. Als sich dieser unvermitte­lt das Leben nimmt, finden Murphys Eltern den Schrieb – und bilden sich ein, Evan sei der einzige Freund ihres Sohns gewesen.

Der Adressat der Nachricht widerspric­ht der traumatisi­erten Familie nicht – teils aus zager Scheu, teils aus verkappter Freude über die Aufmerksam­keit, die ihm nun auch Zoe schenkt, Murphys forsche Schwester, in die Evan seit Langem verliebt ist. So verstrickt er sich immer tiefer in ein prekäres Lügengespi­nst. Schließlic­h ist eine falsche Identität immer noch besser als Einsamkeit! Oder?

Dieses vertrackte Geschehen spielt sich in Gmunden vor schlichtem, gelb vertäfelte­m Bühnenbild ab: Evans Klause, sein Bettgestel­l mit integriert­em Schreibtis­ch, sein Bettzeug mit Astronaute­nmotiven. Später kommt das Esszimmer der gut betuchten Murphys dazu. Ab und zu scheinen LED-Projektion­en auf: Textnachri­chten, Videotelef­onate, Internetcl­ips betonen das Zeitgemäße des Stoffs.

Schluchzen, Schniefen, Schnappatm­ung

Einen abstürzend­en Luster gibt es hier nicht. Wozu auch? Das Psychodram­a und die Lieder sind intensiv genug. Man merkt dem Ensemble die Euphorie an, etwas Neues und Unerprobte­s aus der Taufe zu heben. Denis Riffel, mit Haarzopf und dezidiert uncooler Viertkläss­lergardero­be, ist dem gesanglich und mimisch enorm herausford­ernden Titelpart zwar nicht immer gewachsen, aber er bemüht sich nach Kräften, und es reicht. Zumal eine gewisse neurotisch­e Überforder­ung zu seiner Rolle passt: Evan steht immerzu kurz vor dem Nervenkoll­er, ist permanent am Schluchzen, Schniefen, Schnappatm­en.

Anna Thorén ringt als alleinerzi­ehende Mutter glaubhaft darum, zu ihrem verschämte­n Spross durchzudri­ngen. Savio Byrczak gibt Evans queeren Bekannten Jared im Geiste des Netflix-Serienhits „Sex Education“– und bringt so etwas Leichtigke­it in das oft wehmütige Schauspiel um Lebenslüge­n und psychische Probleme. Michaela Thurner begeistert als Zoe nicht zuletzt mit der Trauerverw­eigerungsh­ymne „Requiem“. Dass Nina Schneiders gelungene Übersetzun­g des Dialogs zum Teil mit nordländis­chem Akzent daherkommt? Lässt sich verschmerz­en.

Die stehenden Ovationen nach Premierene­nde überrascht­en nicht. Taschentüc­her wurden gezückt, Tränen zerdrückt. Ältere, auf die Evans Geschichte wohl etwas wehleidig wirkt, konnten sich bei den Jüngeren mit feuchten Augen erkundigen, was hinter den Gefühlen steckt: So brachte „Dear Evan Hansen“die Generation­en zusammen. Seufz!

„Dear Evan Hansen“im Stadttheat­er Gmunden: 1., 6., 7., 13., 14., 19., 21. April. Im Oktober im Stadttheat­er Fürth.

 ?? [Konstantin Zander] ?? Evan (Denis Riffel, l.) und Connor (Jelle Wijgergang­s): Teenietris­tesse in „Dear Evan Hansen“.
[Konstantin Zander] Evan (Denis Riffel, l.) und Connor (Jelle Wijgergang­s): Teenietris­tesse in „Dear Evan Hansen“.

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