Endlich ein Musical, das uns ernst nimmt!
Putz dich, Phantom der Oper: Mit der deutschsprachigen Erstaufführung des wegweisenden Broadway-Hits „Dear Evan Hansen“ist dem Musical-Frühling in Gmunden ein Coup gelungen. Weht der frische Wind bald auch anderswo?
In Gmunden beginnt die Revolution. Zumindest haben das manche gehofft, die am Wochenende ins Salzkammergut gepilgert sind, zu einer Premiere, die aus Sicht von Musicalfans getrost als ein Ereignis bezeichnet werden kann, zur deutschsprachigen Erstaufführung von „Dear Evan Hansen“.
Ausgerichtet wurde das Event im Rahmen des Kulturhauptstadtjahrs, vom Gmundner Musical-Frühling unter der Intendanz von Elisabeth Sikora und Markus Olzinger. Seit 2015 bringt das junge Power-Couple frischen Wind in die österreichische Musicalwelt, mit unverbrauchten Produktionen wie „Jane Eyre“, „Briefe von Ruth“und „Die Frau in Weiß“. Doch „Dear Evan Hansen“ist ein anderes Kaliber: Das vielschichtige Popdrama eroberte 2016 den Broadway im Sturm, räumte bei den Tony Awards ab, wurde sogar schon verfilmt – und gilt heute als Genre-Meilenstein.
Auf dem Papier klingt es „klein“: Eine Coming-of-Age-Story über einen schüchternen Teenager, frei von Prunk und Pomp, bar aller Spektakelsucht. Aber die Größe liegt im Detail: Das Buch von Steven Levenson besticht mit psychologischer Feinarbeit und emotionalem Tiefgang – in dieser Form immer noch ungewöhnlich für breitenwirksame Musicals. Diese Show bietet nicht nur Show, sondern gutes Musiktheater im Wortsinn. Sie nimmt das Publikum ernst – und wurde so zum Aushängeschild für ein neues, seriöseres Selbstverständnis am Broadway.
TikTok quillt über vor „Fansens“
Was nicht heißt, dass das Vergnügen zu kurz kommt: Es sind nicht zuletzt die popaffinen, stilvoll pathetischen Songs des Erfolgsduos Benj Pasek und Justin Paul, die „Dear Evan Hansen“zu Weltruhm verholfen haben. Auch im Netz, unter Jüngeren: TikTok quillt über vor „Fansens“. Diese ließen sich am Freitag auch im altgedienten Stadttheater Gmunden blicken, und sie kamen nicht nur aus Österreich. „Nervös“sei er, bekannte Regisseur und Bühnenbildner Olzinger vor Premierenbeginn auf der Bühne. Verständlich: Es kostet Mut, neue Musicaltrends ins Alpenland zu tragen, wo man oft den Eindruck hat, die Gattung sei in den 1980ern stecken geblieben – in den Katakomben des Phantoms der Oper.
Dabei hat die Figur Evan Hansen durchaus Ähnlichkeit mit dem gepeinigten Maskenmann aus dem Wiener Dauerbrenner, der seine Angebetete durch einen Zauberspiegel anschmachtet. Auch Evan fühlt sich ausgesperrt: „Ich klopf, klopf, klopf nur an das Glas, winke durch ein Fenster“, singt er in seiner ersten großen Solonummer. Aber: Wo das Phantom seine Sozialpanik in rohe Gewalt übersetzt, begnügt sich dieser Antiheld anfangs mit Selbstzerfleischung. Fortschritt!
Evan leidet an einer Angststörung, traut sich kaum aus dem Haus und schreibt widerwillig therapeutisch verordnete Briefe an sich selbst – daher der Titel des Stücks. Einer dieser Briefe landet über Umwege in den Händen seines antisozialen Schulkollegen Connor Murphy. Als sich dieser unvermittelt das Leben nimmt, finden Murphys Eltern den Schrieb – und bilden sich ein, Evan sei der einzige Freund ihres Sohns gewesen.
Der Adressat der Nachricht widerspricht der traumatisierten Familie nicht – teils aus zager Scheu, teils aus verkappter Freude über die Aufmerksamkeit, die ihm nun auch Zoe schenkt, Murphys forsche Schwester, in die Evan seit Langem verliebt ist. So verstrickt er sich immer tiefer in ein prekäres Lügengespinst. Schließlich ist eine falsche Identität immer noch besser als Einsamkeit! Oder?
Dieses vertrackte Geschehen spielt sich in Gmunden vor schlichtem, gelb vertäfeltem Bühnenbild ab: Evans Klause, sein Bettgestell mit integriertem Schreibtisch, sein Bettzeug mit Astronautenmotiven. Später kommt das Esszimmer der gut betuchten Murphys dazu. Ab und zu scheinen LED-Projektionen auf: Textnachrichten, Videotelefonate, Internetclips betonen das Zeitgemäße des Stoffs.
Schluchzen, Schniefen, Schnappatmung
Einen abstürzenden Luster gibt es hier nicht. Wozu auch? Das Psychodrama und die Lieder sind intensiv genug. Man merkt dem Ensemble die Euphorie an, etwas Neues und Unerprobtes aus der Taufe zu heben. Denis Riffel, mit Haarzopf und dezidiert uncooler Viertklässlergarderobe, ist dem gesanglich und mimisch enorm herausfordernden Titelpart zwar nicht immer gewachsen, aber er bemüht sich nach Kräften, und es reicht. Zumal eine gewisse neurotische Überforderung zu seiner Rolle passt: Evan steht immerzu kurz vor dem Nervenkoller, ist permanent am Schluchzen, Schniefen, Schnappatmen.
Anna Thorén ringt als alleinerziehende Mutter glaubhaft darum, zu ihrem verschämten Spross durchzudringen. Savio Byrczak gibt Evans queeren Bekannten Jared im Geiste des Netflix-Serienhits „Sex Education“– und bringt so etwas Leichtigkeit in das oft wehmütige Schauspiel um Lebenslügen und psychische Probleme. Michaela Thurner begeistert als Zoe nicht zuletzt mit der Trauerverweigerungshymne „Requiem“. Dass Nina Schneiders gelungene Übersetzung des Dialogs zum Teil mit nordländischem Akzent daherkommt? Lässt sich verschmerzen.
Die stehenden Ovationen nach Premierenende überraschten nicht. Taschentücher wurden gezückt, Tränen zerdrückt. Ältere, auf die Evans Geschichte wohl etwas wehleidig wirkt, konnten sich bei den Jüngeren mit feuchten Augen erkundigen, was hinter den Gefühlen steckt: So brachte „Dear Evan Hansen“die Generationen zusammen. Seufz!
„Dear Evan Hansen“im Stadttheater Gmunden: 1., 6., 7., 13., 14., 19., 21. April. Im Oktober im Stadttheater Fürth.