Die Presse

Der Islamische Staat ist noch immer brandgefäh­rlich

Der Westen scheint die Gefahr durch die Extremiste­n zu unterschät­zen. Doch der IS war nie weg: nicht in Syrien, nicht in Russland – und nicht in der EU.

- VON WIELAND SCHNEIDER E-Mails an: wieland.schneider@diepresse.com

Bewaffnete, die auf Pick-ups heranbraus­en, mit wehenden schwarzen Flaggen und dem Symbol des sogenannte­n Islamische­n Staats (IS). Bilder wie diese haben lange Zeit die internatio­nalen Medien dominiert. Damals, als vor fast zehn Jahren die Jihadisten begonnen haben, in rasender Geschwindi­gkeit große Gebiete in Syrien und im Irak unter ihre Kontrolle zu bringen. Mehrere Jahre haben die Extremiste­n das von ihnen ausgerufen­e „Kalifat“mit besonderer Grausamkei­t beherrscht. Mittlerwei­le ist dieses jihadistis­che Staatsgebi­lde aber militärisc­h zerschlage­n worden. Die IS-Kämpfer im Irak und in Syrien, die nicht getötet oder gefangen genommen wurden, sind in den Untergrund abgetaucht.

Jetzt, mit dem verheerend­en Anschlag in Moskau, ist das Gespenst IS wieder auf der Bildfläche erschienen. Aufgeschre­ckt vom Massaker in Russlands Hauptstadt hat Frankreich die höchste Terrorwarn­stufe ausgerufen. Dabei war die Gefahr durch die Jihadisten nie gebannt. Auch wenn man das in Europa nicht immer wahrhaben wollte: Der IS war nie weg. Und er ist nach wie vor brandgefäh­rlich.

Die Führung in Moskau versuchte am Montag nochmals, Zweifel an der – alleinigen – Urhebersch­aft der Jihadisten an dem Attentat zu säen. Sie insinuiert, es würde auch eine Spur in die Ukraine führen. Zugleich präsentier­t die russische Polizei vier Verdächtig­e aus Tadschikis­tan, die nach der Verhaftung offenbar schwer misshandel­t wurden. Noch liegt manches im Dunkeln. Klar ist jedenfalls: Der sogenannte Islamische Staat Provinz Khorasan (ISPK) hat sich zum Anschlag bekannt. Für diese Botschaft wurden gängige IS-Kanäle benutzt. Und klar ist: Der ISPK ist derzeit eine der gefährlich­sten ISFraktion­en, die auch außerhalb ihres unmittelba­ren Operations­gebiets aktiv ist.

Der ISPK will ein neues „Kalifat“errichten, das sich über ehemalige Sowjetrepu­bliken in Zentralasi­en, den Iran und Afghanista­n erstrecken soll. Eines seiner Hauptschla­chtfelder ist der Hindukusch, wo seine Kämpfer die extremisti­schen Taliban herausford­ern – aus machtpolit­ischen Gründen, aber auch aufgrund ideologisc­her Differenze­n. Der IS hat, anders als die Taliban, eine globale Agenda. Und seine Vertreter waren stets radikaler und totalitäre­r als andere Extremiste­norganisat­ionen, seien es eben die Taliban in Afghanista­n, seien es Ableger des Terrornetz­werks al-Qaida in Syrien. Der ISPK scheint auch für Jihadisten in der EU zunehmend attraktiv zu werden. Mehrere Personen, die wegen Anschlagsp­länen verhaftet wurden, beriefen sich auf ihn.

Doch auch in dem Gebiet, das der IS einst am stärksten im Griff hatte, ist er keineswegs völlig besiegt. Im Irak und in Syrien operieren seine Kämpfer aus dem Untergrund, führen Bombenatte­ntate und militärisc­he Überfälle durch. In Nordsyrien kämpfen vor allem kurdische Einheiten der Selbstverw­altung an der Seite von US-Soldaten gegen untergetau­chte Jihadisten. Dazu kommt die prekäre Lage in den völlig überfüllte­n Haftzentre­n für IS-Anhänger. Mehrere Tausend IS-Kämpfer sitzen in Gefängniss­en der Selbstverw­altung. Und Zehntausen­de IS-Familienan­gehörige werden in Lagern wie dem al-Hol-Camp festgehalt­en. Viele von ihnen stammen aus Europa. Die Selbstverw­altung in Nordsyrien warnt seit Jahren davor, dass sie auf Dauer all die Gefangenen nicht kontrollie­ren könne. Und dass die Kinder in den Camps von IS-Anhängerin­nen radikalisi­ert würden. Sie bittet die Europäer um Hilfe, um das Problem zu bewältigen – bisher weitgehend vergeblich. Sollte es einen Massenausb­ruch aus dem al-Hol-Camp geben, wäre das ein Fiasko für die ganze Region.

Es scheint eine Bewältigun­gsstrategi­e à la „Aus den Augen, aus dem Sinn“zu sein, die im Westen zuletzt im Umgang mit dem IS angewandt wurde. Doch die Gefahr, die vom IS und von seinen Splittergr­uppen ausgeht, darf nicht unterschät­zt werden. Die zynischen Verführer der Extremiste­n versuchen alles, um neue Mitglieder anzuwerben – auch in Europa. Vor zehn Jahren missbrauch­ten sie die schauerlic­hen Bilder der vom Regime getöteten Zivilisten aus dem Syrien-Krieg, um Jugendlich­e zu radikalisi­eren. Heute setzen sie auf neue Propaganda­munition, um Menschen zu verführen: das Leid im Gazastreif­en.

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