Der Islamische Staat ist noch immer brandgefährlich
Der Westen scheint die Gefahr durch die Extremisten zu unterschätzen. Doch der IS war nie weg: nicht in Syrien, nicht in Russland – und nicht in der EU.
Bewaffnete, die auf Pick-ups heranbrausen, mit wehenden schwarzen Flaggen und dem Symbol des sogenannten Islamischen Staats (IS). Bilder wie diese haben lange Zeit die internationalen Medien dominiert. Damals, als vor fast zehn Jahren die Jihadisten begonnen haben, in rasender Geschwindigkeit große Gebiete in Syrien und im Irak unter ihre Kontrolle zu bringen. Mehrere Jahre haben die Extremisten das von ihnen ausgerufene „Kalifat“mit besonderer Grausamkeit beherrscht. Mittlerweile ist dieses jihadistische Staatsgebilde aber militärisch zerschlagen worden. Die IS-Kämpfer im Irak und in Syrien, die nicht getötet oder gefangen genommen wurden, sind in den Untergrund abgetaucht.
Jetzt, mit dem verheerenden Anschlag in Moskau, ist das Gespenst IS wieder auf der Bildfläche erschienen. Aufgeschreckt vom Massaker in Russlands Hauptstadt hat Frankreich die höchste Terrorwarnstufe ausgerufen. Dabei war die Gefahr durch die Jihadisten nie gebannt. Auch wenn man das in Europa nicht immer wahrhaben wollte: Der IS war nie weg. Und er ist nach wie vor brandgefährlich.
Die Führung in Moskau versuchte am Montag nochmals, Zweifel an der – alleinigen – Urheberschaft der Jihadisten an dem Attentat zu säen. Sie insinuiert, es würde auch eine Spur in die Ukraine führen. Zugleich präsentiert die russische Polizei vier Verdächtige aus Tadschikistan, die nach der Verhaftung offenbar schwer misshandelt wurden. Noch liegt manches im Dunkeln. Klar ist jedenfalls: Der sogenannte Islamische Staat Provinz Khorasan (ISPK) hat sich zum Anschlag bekannt. Für diese Botschaft wurden gängige IS-Kanäle benutzt. Und klar ist: Der ISPK ist derzeit eine der gefährlichsten ISFraktionen, die auch außerhalb ihres unmittelbaren Operationsgebiets aktiv ist.
Der ISPK will ein neues „Kalifat“errichten, das sich über ehemalige Sowjetrepubliken in Zentralasien, den Iran und Afghanistan erstrecken soll. Eines seiner Hauptschlachtfelder ist der Hindukusch, wo seine Kämpfer die extremistischen Taliban herausfordern – aus machtpolitischen Gründen, aber auch aufgrund ideologischer Differenzen. Der IS hat, anders als die Taliban, eine globale Agenda. Und seine Vertreter waren stets radikaler und totalitärer als andere Extremistenorganisationen, seien es eben die Taliban in Afghanistan, seien es Ableger des Terrornetzwerks al-Qaida in Syrien. Der ISPK scheint auch für Jihadisten in der EU zunehmend attraktiv zu werden. Mehrere Personen, die wegen Anschlagsplänen verhaftet wurden, beriefen sich auf ihn.
Doch auch in dem Gebiet, das der IS einst am stärksten im Griff hatte, ist er keineswegs völlig besiegt. Im Irak und in Syrien operieren seine Kämpfer aus dem Untergrund, führen Bombenattentate und militärische Überfälle durch. In Nordsyrien kämpfen vor allem kurdische Einheiten der Selbstverwaltung an der Seite von US-Soldaten gegen untergetauchte Jihadisten. Dazu kommt die prekäre Lage in den völlig überfüllten Haftzentren für IS-Anhänger. Mehrere Tausend IS-Kämpfer sitzen in Gefängnissen der Selbstverwaltung. Und Zehntausende IS-Familienangehörige werden in Lagern wie dem al-Hol-Camp festgehalten. Viele von ihnen stammen aus Europa. Die Selbstverwaltung in Nordsyrien warnt seit Jahren davor, dass sie auf Dauer all die Gefangenen nicht kontrollieren könne. Und dass die Kinder in den Camps von IS-Anhängerinnen radikalisiert würden. Sie bittet die Europäer um Hilfe, um das Problem zu bewältigen – bisher weitgehend vergeblich. Sollte es einen Massenausbruch aus dem al-Hol-Camp geben, wäre das ein Fiasko für die ganze Region.
Es scheint eine Bewältigungsstrategie à la „Aus den Augen, aus dem Sinn“zu sein, die im Westen zuletzt im Umgang mit dem IS angewandt wurde. Doch die Gefahr, die vom IS und von seinen Splittergruppen ausgeht, darf nicht unterschätzt werden. Die zynischen Verführer der Extremisten versuchen alles, um neue Mitglieder anzuwerben – auch in Europa. Vor zehn Jahren missbrauchten sie die schauerlichen Bilder der vom Regime getöteten Zivilisten aus dem Syrien-Krieg, um Jugendliche zu radikalisieren. Heute setzen sie auf neue Propagandamunition, um Menschen zu verführen: das Leid im Gazastreifen.