Europas Kniefall vor den Bauern
Ukraine-Importe, Umweltschutz, Subventionen: Die EU kommt den Bauern entgegen. Doch diese sind noch immer unzufrieden.
Brennende Misthaufen, tätliche Angriffe auf Feuerwehrleute, verspritzte Gülle allerorten: Am Dienstag ließen allen voran belgische Landwirte in Brüssel erneut ihrem Zorn über die europäische Agrarpolitik freien Lauf. „Bitte respektieren Sie unsere Infrastruktur, Feuerwehrleute, Polizisten“, flehte Dimitri Strobbe, der Chef der Brüsseler Straßenmeisterei, die Demonstranten an. Vergeblich: Noch am Nachmittag hingen dichte Rauchwolken über dem EU-Viertel. Dabei kommt Europas Politik den Landwirten seit Monaten eilig entgegen – mit Marktabschottung, Verwaltungsvereinfachung und neuen Förderungen.
1 Müssen sich Landwirte noch vor Ukraine-Importe fürchten?
Nein – zumindest nicht, wenn sie mit dem Umfang der Einfuhren zum Zeitpunkt der russischen Großinvasion im Februar vor zwei Jahren leben konnten. Die Mitgliedstaaten und das Europaparlament haben sich vorige Woche darauf geeinigt, dass der seit 2022 erlaubte zoll- und quotenfreie Import von landwirtschaftlichen Gütern wieder beschränkt werden soll, sobald Grenzwerte für diese Produkte überschritten werden: Geflügel, Eier, Honig, Hafer, Mais und Getreideschrot. Doch in Kraft ist diese Regelung, die ab 6. Juni und für ein Jahr gelten soll, noch nicht. Frankreich besteht darauf, dass auch für Weizen ein Notstopp eingeführt wird. Polen möchte, dass 2021 zum Basisjahr für die Berechnung der Grenzwerte wird. Das hätte zur Folge, dass die EU viel schneller Importschranken einführen könnte. Auch Italien und Ungarn lehnen den derzeitigen Vorschlag ab; Österreich ist ebenfalls skeptisch. Am Mittwoch versuchen die EU-Botschafter eine Einigung. Zweifellos leiten die ukrainischen Agrarexporteure seit Russlands Überfall mangels sicherer Transportrouten viele Exporte über die EU – bei Getreide mittlerweile 27 Prozent. Die Union hilft ihnen mit den Solidaritätskorridoren. Denn sie möchte die ukrainischen Feldfrüchte auf diesem Umweg auf die Weltmärkte bringen, vor allem nach Nordafrika und in die arabischen Staaten. Es gibt jedoch keine belastbaren Statistiken darüber, welcher Anteil der ukrainischen Exporte in der EU „hängen bleibt“.
Auch Österreich ist betroffen. Laut dem österreichischen Landwirtschaftsministerium verursachte der erleichterte EU-Marktzugang für die Ukraine „zusätzlichen Wettbewerbsund Preisdruck“. Ukrainische Agrarbetriebe produzierten billiger, weil sie niedrigere Standards anzuwenden hätten. Insbesondere bei Mais gab es laut EU-Daten auch in Österreich einen sehr deutlichen Anstieg der Importe aus der Ukraine von 4245 Tonnen im Jahr 2019 auf 108.142 Tonnen im Jahr 2023. Weizenimporte blieben hingegen auf sehr geringem Niveau.
Nicht alle EU-Länder und alle Sektoren leiden unter der zusätzlichen Konkurrenz aus der Ukraine. Während in Nachbarländern wie Polen die Landwirtschaft mit ihren eigenen Produkten weniger wettbewerbsfähig geworden ist, bringt die Importschwemme für das auf Weizenimporte angewiesene Spanien Vorteile. Auch die Schweine- und Rinderzüchter können durch günstigeren Futtermais profitieren.
2 Wird das Renaturierungsgesetz die Bauern stark belasten?
Kaum – sollte es überhaupt in seiner ohnehin verwässerten Form angenommen werden. Eine Abstimmung der Umweltminister wurde am Montag abgeblasen, weil keine Mehrheit gesichert war. Auch Österreich ist dagegen. Mehrere Vorgaben zur Regeneration geschädigter Böden und Flüsse wären ohnehin nur noch freiwillig zu erfüllen, etwa die Wiedervernässung entwässerter Torfgebiete (das wäre jedoch zur Speicherung von Kohlendioxid wichtig). Außerdem können die Ziele ausgesetzt werden, würden dadurch agrarische Flächen stark verringert. Auch die bisher geltenden Regeln werden aufgeweicht. Bei der Fruchtfolge gibt es weniger strenge Vorgaben und mehr Flexibilität der EU-Staaten. Brachland zur Regeneration soll nicht mehr verpflichtend vorgegeben werden, sondern ebenfalls nur noch freiwillig aus der Bewirtschaftung genommen werden.
3 Wieso gibt es nun neuen Ärger beim EU-Entwaldungsgesetz?
Weil die Agrarminister von Österreich, Finnland, Polen, Italien, Schweden, der Slowakei und Slowenien plötzlich erkannt haben, dass sich daraus Verwaltungsbürden für ihre Waldbesitzer ergäben. Zur Erinnerung: Ab Ende 2024 sollen landwirtschaftliche Produkte wie Holz, Kakao, Kaffee und Soja nur dann auf den EU-Markt dürfen, wenn für ihre Gewinnung keine Wälder abgeholzt wurden. Primär richtet sich diese Verordnung also gegen die tropische Praktik der Brandrodung. Die genannten EU-Staaten sind jedoch der Ansicht, dass auch kleine Waldbesitzer unter die Räder kämen, wenn sie die Unbedenklichkeit ihrer Produkte belegen müssten. In der türkis-grünen Koalition führt das zu einem erneuten Krach: Klimaministerin Leonore Gewessler (Grüne) wandte sich per Brief an die Europäische Kommission, um festzuhalten, dass der Protest von Landwirtschaftsminister Norbert Totschnig (ÖVP) nicht der Regierungsposition entspreche.
4 Gibt es jetzt auch mehr staatliche Subventionen für die Landwirte?
Ja – und die Auflagen, um nationale und EUFörderungen zu erhalten, werden stark gesenkt. Mehrere Umweltvorschriften für die „gute landwirtschaftliche Praxis“, die man für den Bezug von Agrarförderungen einhalten muss, wurden großteils ausgesetzt – und für kleine Betriebe mit weniger als zehn Hektar praktisch zur Gänze. Im April und Mai erhielten zudem Landwirte in Polen, der Slowakei, Ungarn, Rumänien und Bulgarien rund 156 Millionen Euro aus Brüssel, um den von ihnen behaupteten Schaden durch ukrainische Importe zu kompensieren. Wie die Höhe dieser Zahlungen berechnet wurde, hat die Kommission bis heute nicht erklärt. Die fünf Staaten durften diese Summen aus Brüssel zusätzlich mit bis zu 200 Prozent aus eigenen Mitteln aufstocken. Mehrere Mitgliedstaaten öffnen trotz angespannter Haushaltslage die staatlichen Fonds für „ihre“Landwirte. Frankreichs Regierung beispielsweise muss zwar heuer und nächstes Jahr rund 20 Milliarden Euro sparen, um die EUDefizitregeln einzuhalten. Das hinderte sie aber nicht, heuer rund 400 Millionen Euro an zusätzlicher Nothilfen für französische Landwirte lockerzumachen.