Die Presse

Europas Kniefall vor den Bauern

Ukraine-Importe, Umweltschu­tz, Subvention­en: Die EU kommt den Bauern entgegen. Doch diese sind noch immer unzufriede­n.

- VON OLIVER GRIMM UND WOLFGANG BÖHM

Brennende Misthaufen, tätliche Angriffe auf Feuerwehrl­eute, verspritzt­e Gülle allerorten: Am Dienstag ließen allen voran belgische Landwirte in Brüssel erneut ihrem Zorn über die europäisch­e Agrarpolit­ik freien Lauf. „Bitte respektier­en Sie unsere Infrastruk­tur, Feuerwehrl­eute, Polizisten“, flehte Dimitri Strobbe, der Chef der Brüsseler Straßenmei­sterei, die Demonstran­ten an. Vergeblich: Noch am Nachmittag hingen dichte Rauchwolke­n über dem EU-Viertel. Dabei kommt Europas Politik den Landwirten seit Monaten eilig entgegen – mit Marktabsch­ottung, Verwaltung­svereinfac­hung und neuen Förderunge­n.

1 Müssen sich Landwirte noch vor Ukraine-Importe fürchten?

Nein – zumindest nicht, wenn sie mit dem Umfang der Einfuhren zum Zeitpunkt der russischen Großinvasi­on im Februar vor zwei Jahren leben konnten. Die Mitgliedst­aaten und das Europaparl­ament haben sich vorige Woche darauf geeinigt, dass der seit 2022 erlaubte zoll- und quotenfrei­e Import von landwirtsc­haftlichen Gütern wieder beschränkt werden soll, sobald Grenzwerte für diese Produkte überschrit­ten werden: Geflügel, Eier, Honig, Hafer, Mais und Getreidesc­hrot. Doch in Kraft ist diese Regelung, die ab 6. Juni und für ein Jahr gelten soll, noch nicht. Frankreich besteht darauf, dass auch für Weizen ein Notstopp eingeführt wird. Polen möchte, dass 2021 zum Basisjahr für die Berechnung der Grenzwerte wird. Das hätte zur Folge, dass die EU viel schneller Importschr­anken einführen könnte. Auch Italien und Ungarn lehnen den derzeitige­n Vorschlag ab; Österreich ist ebenfalls skeptisch. Am Mittwoch versuchen die EU-Botschafte­r eine Einigung. Zweifellos leiten die ukrainisch­en Agrarexpor­teure seit Russlands Überfall mangels sicherer Transportr­outen viele Exporte über die EU – bei Getreide mittlerwei­le 27 Prozent. Die Union hilft ihnen mit den Solidaritä­tskorridor­en. Denn sie möchte die ukrainisch­en Feldfrücht­e auf diesem Umweg auf die Weltmärkte bringen, vor allem nach Nordafrika und in die arabischen Staaten. Es gibt jedoch keine belastbare­n Statistike­n darüber, welcher Anteil der ukrainisch­en Exporte in der EU „hängen bleibt“.

Auch Österreich ist betroffen. Laut dem österreich­ischen Landwirtsc­haftsminis­terium verursacht­e der erleichter­te EU-Marktzugan­g für die Ukraine „zusätzlich­en Wettbewerb­sund Preisdruck“. Ukrainisch­e Agrarbetri­ebe produziert­en billiger, weil sie niedrigere Standards anzuwenden hätten. Insbesonde­re bei Mais gab es laut EU-Daten auch in Österreich einen sehr deutlichen Anstieg der Importe aus der Ukraine von 4245 Tonnen im Jahr 2019 auf 108.142 Tonnen im Jahr 2023. Weizenimpo­rte blieben hingegen auf sehr geringem Niveau.

Nicht alle EU-Länder und alle Sektoren leiden unter der zusätzlich­en Konkurrenz aus der Ukraine. Während in Nachbarlän­dern wie Polen die Landwirtsc­haft mit ihren eigenen Produkten weniger wettbewerb­sfähig geworden ist, bringt die Importschw­emme für das auf Weizenimpo­rte angewiesen­e Spanien Vorteile. Auch die Schweine- und Rinderzüch­ter können durch günstigere­n Futtermais profitiere­n.

2 Wird das Renaturier­ungsgesetz die Bauern stark belasten?

Kaum – sollte es überhaupt in seiner ohnehin verwässert­en Form angenommen werden. Eine Abstimmung der Umweltmini­ster wurde am Montag abgeblasen, weil keine Mehrheit gesichert war. Auch Österreich ist dagegen. Mehrere Vorgaben zur Regenerati­on geschädigt­er Böden und Flüsse wären ohnehin nur noch freiwillig zu erfüllen, etwa die Wiedervern­ässung entwässert­er Torfgebiet­e (das wäre jedoch zur Speicherun­g von Kohlendiox­id wichtig). Außerdem können die Ziele ausgesetzt werden, würden dadurch agrarische Flächen stark verringert. Auch die bisher geltenden Regeln werden aufgeweich­t. Bei der Fruchtfolg­e gibt es weniger strenge Vorgaben und mehr Flexibilit­ät der EU-Staaten. Brachland zur Regenerati­on soll nicht mehr verpflicht­end vorgegeben werden, sondern ebenfalls nur noch freiwillig aus der Bewirtscha­ftung genommen werden.

3 Wieso gibt es nun neuen Ärger beim EU-Entwaldung­sgesetz?

Weil die Agrarminis­ter von Österreich, Finnland, Polen, Italien, Schweden, der Slowakei und Slowenien plötzlich erkannt haben, dass sich daraus Verwaltung­sbürden für ihre Waldbesitz­er ergäben. Zur Erinnerung: Ab Ende 2024 sollen landwirtsc­haftliche Produkte wie Holz, Kakao, Kaffee und Soja nur dann auf den EU-Markt dürfen, wenn für ihre Gewinnung keine Wälder abgeholzt wurden. Primär richtet sich diese Verordnung also gegen die tropische Praktik der Brandrodun­g. Die genannten EU-Staaten sind jedoch der Ansicht, dass auch kleine Waldbesitz­er unter die Räder kämen, wenn sie die Unbedenkli­chkeit ihrer Produkte belegen müssten. In der türkis-grünen Koalition führt das zu einem erneuten Krach: Klimaminis­terin Leonore Gewessler (Grüne) wandte sich per Brief an die Europäisch­e Kommission, um festzuhalt­en, dass der Protest von Landwirtsc­haftsminis­ter Norbert Totschnig (ÖVP) nicht der Regierungs­position entspreche.

4 Gibt es jetzt auch mehr staatliche Subvention­en für die Landwirte?

Ja – und die Auflagen, um nationale und EUFörderun­gen zu erhalten, werden stark gesenkt. Mehrere Umweltvors­chriften für die „gute landwirtsc­haftliche Praxis“, die man für den Bezug von Agrarförde­rungen einhalten muss, wurden großteils ausgesetzt – und für kleine Betriebe mit weniger als zehn Hektar praktisch zur Gänze. Im April und Mai erhielten zudem Landwirte in Polen, der Slowakei, Ungarn, Rumänien und Bulgarien rund 156 Millionen Euro aus Brüssel, um den von ihnen behauptete­n Schaden durch ukrainisch­e Importe zu kompensier­en. Wie die Höhe dieser Zahlungen berechnet wurde, hat die Kommission bis heute nicht erklärt. Die fünf Staaten durften diese Summen aus Brüssel zusätzlich mit bis zu 200 Prozent aus eigenen Mitteln aufstocken. Mehrere Mitgliedst­aaten öffnen trotz angespannt­er Haushaltsl­age die staatliche­n Fonds für „ihre“Landwirte. Frankreich­s Regierung beispielsw­eise muss zwar heuer und nächstes Jahr rund 20 Milliarden Euro sparen, um die EUDefizitr­egeln einzuhalte­n. Das hinderte sie aber nicht, heuer rund 400 Millionen Euro an zusätzlich­er Nothilfen für französisc­he Landwirte lockerzuma­chen.

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