Es ist an der Zeit, dem Papiertiger auf die Sprünge zu helfen
Versiegelung, Klimaschutzgesetz, Energie- und Klimaplan – die Koalition streitet, Experten schnüren Maßnahmenpakete: Die Politik ist unter Zugzwang.
Die Klimapolitik ist ein Begleiter durch die vergangenen Jahrzehnte. Gern hat sich Österreich als Vorreiter benannt. Wir wissen: Das Gegenteil ist der Fall gewesen. Denn bisher hat sich die Klimapolitik (bis auf wenige Ansätze jüngeren Datums) vor allem darin erschöpft, dass – bei Vorliegen eines Berichts zu dem Thema – die Politik eine neue Arbeitsgruppe oder Kommission gebeten hat, die Details zu vertiefen.
Kommissionen brauchen Zeit, ersparen in der Tagespolitik Entscheidungen, bei denen man sich nicht nur Freunde macht und mit Gewissheit jemandem auf die Zehen steigt. Jahr um Jahr ist vergangen, Jahrzehnt hat sich an Jahrzehnt gereiht, in denen Maßnahmen konsequent nicht ergriffen worden sind, mit denen die Folgen der Klimakrise hätten verringert werden können. Und, ganz nebenbei, es hätte auch die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen verringert werden können, von russischem Gas zum Beispiel.
Nun haben 55 Klimawissenschaftler die Initiative ergriffen und sich in Details vertieft. Diese haben sich im Konsultationsverfahren des Nationalen Energieund Klima-Plans (NEKP) aufgetürmt. Die Vorschläge haben im Sommer vorigen Jahres Industrie, Interessenvereinigungen, Nichtregierungsorganisationen, Gebietskörperschaften und Einzelpersonen in ihren Stellungnahmen ausgebreitet.
Die Wissenschaftler haben diese 1408 Einzelmaßnahmen nun geordnet und bewertet. Entstanden ist daraus schließlich ein Bericht, der mehr als einen Status quo beschreibt, nämlich eine konkrete Analyse liefert, Bewertung und Handlungsanleitung zugleich. Zwei Schlussfolgerungen: Die Klimaziele sind erreichbar; und eine konsequente Klimapolitik ist für die Volkswirtschaft positiv.
Die Ausführungen machen an keiner Stelle ein Hehl daraus, dass es nicht bloß um das leichte Drehen kleiner Schräubchen geht, sondern um einen neuen, innovativen Zugang und das Schmieden eines neuen Konsens der Gesellschaft. Dieser Gedanke bliebe aber auf halbem Weg hängen, solang man nicht verinnerlicht, was dies konkret bedeuten kann. Es bedarf einer „gigantischen Transformation“, wie dies Angela Merkel einmal in Davos erklärt hat, und das ist auch die Schlussfolgerung der 55 Wissenschaftler, die in den vergangenen Monaten eine Extrameile gegangen sind.
Die Fakten liegen also auf dem Tisch – die Expertenergebnisse sind vom Grundsatz her nicht überraschend, da bereits viele Berichte von Kommissionen der Vergangenheit die Maßnahmen abgesteckt haben, die notwendig sind, um sich aus der Klimafalle zu befreien. Wir brauchen einen anderen Umgang mit Ressourcen, eine andere, eine ganzheitliche Bewertungsskala von Risiken. Es bedarf einer differenzierenden, breiten gesellschaftlichen Debatte, wie die multiple Krise, in der wir uns befinden, zu bewältigen ist.
Neuer – und in jedem Fall aktuell – ist die Genauigkeit, mit der in diesem Bericht beschrieben wird, was nun ansteht. Es ist die Stunde verantwortungsvoller Politik, die sich nicht auf die hektische Jagd nach politischem Kleingeld macht, sondern darüber nachdenkt, wie Mehrheiten für das Notwendige gewonnen werden können.
Ein Umbau dessen, woran wir uns mit der Zeit gewöhnt haben mögen, ist nicht neu; solche Situationen hat es schon öfter gegeben. Neu sind der zunehmende Zeitdruck und die Unsicherheiten, wie die Zukunft konkret ausgestaltet werden soll.
Auf dem Weg dorthin scheint, zumindest für Politiker, die größte Hürde zu sein zuzugeben, dass es Verlierer gibt. Die Herausforderung muss sein, diese Verlierer offen zu benennen und Perspektiven zu entwickeln, die Folgen für die Verlierer abzufedern. Ein offener Dialog ist gefragt, um sicherzustellen, dass niemand auf der Strecke bleibt und der soziale Ausgleich gelingt. Das ist etwas grundsätzlich anderes, als Lobbys zu bedienen und Schrebergärten zu verteidigen.
Im Bericht der Wissenschaftler liegt mehr als bloß die Bewertung vieler Maßnahmen, mit denen der Ausstoß von Kohlendioxid und Co. verringert werden kann. Es ist der Versuch, Papiertigern auf die Sprünge zu helfen. Es ist an der Zeit, dass die Politik ihre Verantwortung ernst nimmt.