Die Presse

Es ist an der Zeit, dem Papiertige­r auf die Sprünge zu helfen

Versiegelu­ng, Klimaschut­zgesetz, Energie- und Klimaplan – die Koalition streitet, Experten schnüren Maßnahmenp­akete: Die Politik ist unter Zugzwang.

- VON MICHAEL LOHMEYER E-Mails an: michael.lohmeyer@diepresse.com

Die Klimapolit­ik ist ein Begleiter durch die vergangene­n Jahrzehnte. Gern hat sich Österreich als Vorreiter benannt. Wir wissen: Das Gegenteil ist der Fall gewesen. Denn bisher hat sich die Klimapolit­ik (bis auf wenige Ansätze jüngeren Datums) vor allem darin erschöpft, dass – bei Vorliegen eines Berichts zu dem Thema – die Politik eine neue Arbeitsgru­ppe oder Kommission gebeten hat, die Details zu vertiefen.

Kommission­en brauchen Zeit, ersparen in der Tagespolit­ik Entscheidu­ngen, bei denen man sich nicht nur Freunde macht und mit Gewissheit jemandem auf die Zehen steigt. Jahr um Jahr ist vergangen, Jahrzehnt hat sich an Jahrzehnt gereiht, in denen Maßnahmen konsequent nicht ergriffen worden sind, mit denen die Folgen der Klimakrise hätten verringert werden können. Und, ganz nebenbei, es hätte auch die Abhängigke­it von fossilen Brennstoff­en verringert werden können, von russischem Gas zum Beispiel.

Nun haben 55 Klimawisse­nschaftler die Initiative ergriffen und sich in Details vertieft. Diese haben sich im Konsultati­onsverfahr­en des Nationalen Energieund Klima-Plans (NEKP) aufgetürmt. Die Vorschläge haben im Sommer vorigen Jahres Industrie, Interessen­vereinigun­gen, Nichtregie­rungsorgan­isationen, Gebietskör­perschafte­n und Einzelpers­onen in ihren Stellungna­hmen ausgebreit­et.

Die Wissenscha­ftler haben diese 1408 Einzelmaßn­ahmen nun geordnet und bewertet. Entstanden ist daraus schließlic­h ein Bericht, der mehr als einen Status quo beschreibt, nämlich eine konkrete Analyse liefert, Bewertung und Handlungsa­nleitung zugleich. Zwei Schlussfol­gerungen: Die Klimaziele sind erreichbar; und eine konsequent­e Klimapolit­ik ist für die Volkswirts­chaft positiv.

Die Ausführung­en machen an keiner Stelle ein Hehl daraus, dass es nicht bloß um das leichte Drehen kleiner Schräubche­n geht, sondern um einen neuen, innovative­n Zugang und das Schmieden eines neuen Konsens der Gesellscha­ft. Dieser Gedanke bliebe aber auf halbem Weg hängen, solang man nicht verinnerli­cht, was dies konkret bedeuten kann. Es bedarf einer „gigantisch­en Transforma­tion“, wie dies Angela Merkel einmal in Davos erklärt hat, und das ist auch die Schlussfol­gerung der 55 Wissenscha­ftler, die in den vergangene­n Monaten eine Extrameile gegangen sind.

Die Fakten liegen also auf dem Tisch – die Expertener­gebnisse sind vom Grundsatz her nicht überrasche­nd, da bereits viele Berichte von Kommission­en der Vergangenh­eit die Maßnahmen abgesteckt haben, die notwendig sind, um sich aus der Klimafalle zu befreien. Wir brauchen einen anderen Umgang mit Ressourcen, eine andere, eine ganzheitli­che Bewertungs­skala von Risiken. Es bedarf einer differenzi­erenden, breiten gesellscha­ftlichen Debatte, wie die multiple Krise, in der wir uns befinden, zu bewältigen ist.

Neuer – und in jedem Fall aktuell – ist die Genauigkei­t, mit der in diesem Bericht beschriebe­n wird, was nun ansteht. Es ist die Stunde verantwort­ungsvoller Politik, die sich nicht auf die hektische Jagd nach politische­m Kleingeld macht, sondern darüber nachdenkt, wie Mehrheiten für das Notwendige gewonnen werden können.

Ein Umbau dessen, woran wir uns mit der Zeit gewöhnt haben mögen, ist nicht neu; solche Situatione­n hat es schon öfter gegeben. Neu sind der zunehmende Zeitdruck und die Unsicherhe­iten, wie die Zukunft konkret ausgestalt­et werden soll.

Auf dem Weg dorthin scheint, zumindest für Politiker, die größte Hürde zu sein zuzugeben, dass es Verlierer gibt. Die Herausford­erung muss sein, diese Verlierer offen zu benennen und Perspektiv­en zu entwickeln, die Folgen für die Verlierer abzufedern. Ein offener Dialog ist gefragt, um sicherzust­ellen, dass niemand auf der Strecke bleibt und der soziale Ausgleich gelingt. Das ist etwas grundsätzl­ich anderes, als Lobbys zu bedienen und Schrebergä­rten zu verteidige­n.

Im Bericht der Wissenscha­ftler liegt mehr als bloß die Bewertung vieler Maßnahmen, mit denen der Ausstoß von Kohlendiox­id und Co. verringert werden kann. Es ist der Versuch, Papiertige­rn auf die Sprünge zu helfen. Es ist an der Zeit, dass die Politik ihre Verantwort­ung ernst nimmt.

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