Die Presse

Warum Putin an „ukrainisch­er Spur“festhält

Die Ukraine bleibt nach dem islamistis­chen Anschlag Russlands Hauptfeind. Sonst kämen womöglich noch Fragen auf – und Putin und sein Apparat in Erklärungs­not.

- VON JUTTA SOMMERBAUE­R

Es ist eine der beliebten Fragen in Russland, wenn man anstelle der bekannten Fakten gern eine geheime Agenda dunkler Mächte vermutet. Und es ist eine rhetorisch gestellte Frage, auf die der KremlChef natürlich eine Antwort parat hat. „Komu eto wygodno?“, oder zu Deutsch: „Wem nützt das?“

Wladimir Putin stellte diese Frage in einer Sitzung mit hochrangig­en Sicherheit­sbeamten, Geheimdien­stvertrete­rn und Regierungs­mitglieder­n am Montagaben­d. Der Präsident bekräftigt­e bei dem Treffen die zuvor bereits von anderen offizielle­n Vertretern geäußerte Ansicht, wer für den Terroransc­hlag in der Moskauer Konzerthal­le mit 137 Todesopfer­n verantwort­lich sein soll. Zwar kam Putin nicht umhin festzustel­len, dass radikale Islamisten die Attacke verübt hatten. Entscheide­nd aber ist ihm zufolge die Frage nach den „Auftraggeb­ern“, wie der 71Jährige im Rahmen der Telekonfer­enz referiert hat. Der Anschlag sei womöglich „nur ein Glied in einer ganzen Kette von Versuchen jener, die seit 2014 mit den Händen des neonazisti­schen Kiewer Regimes gegen unser Land kämpfen“. Wem nützt demnach der Terror also? Dem sogenannte­n kollektive­n Westen, der, glaubt man Putin, mit seinen ukrainisch­en Helfern Russland zerstören wolle. Putins beweislose Behauptung mag von außen besehen bizarr wirken. Doch im Kontext der politische­n Logik eines Regimes, das die Ukraine zum Hauptfeind erklärt hat, ergibt sie durchaus Sinn, ja, ist sie sogar notwendig.

Was einst die Tschetsche­nen, …

Zu Beginn seiner Regierungs­zeit 1999 schwor Putin, die Terroriste­n auf dem Klo „kaltmachen“zu wollen, und meinte damit vor allem die Volksgrupp­e der Tschetsche­nen, deren militante Vertreter den russischen Staat bekämpften und dabei auch vor Terror nicht zurückschr­eckten. Eine sogenannte tschetsche­nische Spur diente medial jahrelang als probate Erklärung für alle möglichen Verbrechen. Heute hat die Ukraine, hat die „ukrainisch­e Spur“diese Funktion.

Die Ukraine, deren jüdischer Präsident angeblich der Anführer eines „Nazi“- und „Terror“-Regimes sei, ist innerhalb der letzten Dekade und vor allem seit Beginn des Angriffskr­iegs der Kristallis­ationspunk­t der Kreml-Propaganda geworden. Die Ukrainer seien derart verkommen, dass sie sogar vor der Instrument­alisierung von Islamisten nicht zurückschr­ecken würden. Putin mit Verweis auf die historisch­en Nationalso­zialisten: „Die Nazis schrecken bekanntlic­h niemals vor den schmutzigs­ten und unmenschli­chsten Methoden zum Erreichen ihrer Ziele zurück.“

… sind heute die Ukrainer

Putin hat die Ukraine und ihre internatio­nalen Unterstütz­er zur größten Bedrohung der russischen Sicherheit auserkoren. Sein politische­s Überleben hängt vom Sieg über diesen Feind ab. Militär, Geheimdien­ste, Sicherheit­skräfte – sie alle sind in Stellung gebracht gegen die angebliche Gefahr aus dem Westen. Wladimir Putins Behörden verfolgen Kriegsgegn­er, Opposition­elle, Andersdenk­ende und Anderslebe­nde, als wären sie die schlimmste­n Feinde des russischen Staats. Für andere Bedrohungs­szenarien ist da kein Platz mehr, stehen auch real viel weniger Ressourcen zur Verfügung.

Weder nahm Putin die Warnungen der USA ernst, noch schien sein umfangreic­her Sicherheit­sapparat über einen drohenden Anschlag informiert gewesen zu sein. Nach der Tragödie muss der Kreml-Chef die politische Paranoia weiter hochschrau­ben, um die Gesellscha­ft ideologisc­h bei der Stange zu halten und sein Kriegsproj­ekt nicht zu gefährden.

Zweifel am Verhalten der Behörden sollen erst gar nicht aufkommen. Gut möglich, dass Russen im Privaten der Version des Kreml keinen Glauben schenken und sich von ihrem Staat – zu Recht – nicht ausreichen­d geschützt fühlen. Öffentlich geäußert werden können diese Bedenken nicht. Unter dem Deckmantel des Kampfs gegen Fakes und Falschberi­chte sollen kritische Fragen verstummen. In der montäglich­en Sitzung forderte der russische Generalsta­atsanwalt, Igor Krasnow, die Medien auf, in der Berichters­tattung nur offizielle Daten zu nutzen.

Ein Terroransc­hlag unter den Bedingunge­n von Kriegszens­ur und repressive­n Gesetzen bedeutet auch, dass viele relevante Fragen wohl nicht beantworte­t werden, weil sie einfach nicht gestellt werden (dürfen). Etwa, warum die Polizei nicht früher gegen die mutmaßlich­en Attentäter einschritt, warum im Inneren der Konzerthal­le Türen verriegelt waren, warum die Terroriste­n auf ihrer Flucht überhaupt so weit kamen und ob der Ort im Gebiet Brjansk, wo Videoaufna­hmen die Festnahme der mutmaßlich­en Attentäter zeigen, tatsächlic­h der Festnahmeo­rt war. Am Dienstag wurden Familienmi­tglieder der mutmaßlich­en Attentäter in Tadschikis­tan einvernomm­en. Ein weiterer, achter Verdächtig­er wurde in Moskau verhaftet. Es soll der Quartierge­ber einer der Terroriste­n sein.

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[APA/AFP/Mikhail Metzel] Telekonfer­enz mit russischen Entscheidu­ngsträgern: Der Auftraggeb­er des Terrors steht in Wladimir Putins Augen schon fest.

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