„Sind ja nicht deppert, nur weil wir obdachlos sind“
In Österreich sind rund 20.000 Menschen als obdachoder wohnungslos registriert. Die Dunkelziffer ist weit höher. Sozialminister Rauch sprach mit (ehemaligen) Betroffenen.
Als Sandra einen Monat alt war, ging ihre Mutter ins Kino und kam nicht mehr zurück. Ihr Vater hatte sie von vornherein nicht als seine Tochter anerkannt. Sandra kam als „Mädchen ohne Namen“zuerst in die Wiener Semmelweisklinik, dann zu Pflegeeltern ins Burgenland, später in ein Heim. Als sie zehn war, stand der Vater dann doch irgendwann vor der Tür und nahm sie mit. Doch bei ihm wollte sie nicht bleiben. Sie lief von zu Hause weg – und landete am Wiener Praterstern. Mit zehn war Sandra das erste Mal obdachlos, danach noch einige Male in ihrem Leben.
Heute ist sie 55 Jahre alt und selbst Mutter zweier Töchter. Den kleinen Park am Praterstern nennt sie bis heute „ihren Park“. Es ist jener Ort, an dem im vergangenen Sommer der sogenannte Wiener Obdachlosenmörder eine schlafende Frau attackiert hat. In diesem Park steht Sandra jetzt mit Sozialminister Johannes Rauch (Grüne). In ihrer Funktion als „Backstreet Guide“nimmt sie den Minister mit auf eine Grätzltour, spricht über das Leben auf der Straße und die Schwierigkeiten, mit denen vor allem Frauen konfrontiert sind, die obdach- bzw. wohnungslos sind.
Der Unterschied zwischen Obdachund Wohnungslosigkeit ist schnell erklärt: Obdachlos sind Menschen, die kein Dach über dem Kopf haben. Wohnungslos sind jene, die eine vorübergehende Unterkunft, aber keine eigene Wohnung haben – etwa auf der Couch von Bekannten übernachten. Im Jahr 2022 waren laut Statistik Austria 19.667 Personen als obdach- oder wohnungslos registriert, etwa ein Drittel davon waren Frauen, zehn Prozent Minderjährige. Die Dunkelziffer dürfte aber vor allem unter den Frauen viel höher sein.
Sandra ist eine kleine Frau mit kurzen roten Haaren und einer rosa Bugs-Bunny-Kappe auf dem Kopf. In der einen Hand hält sie einen Energydrink, in der anderen eine Zigarette, während sie neben dem Minister hergeht. „Ich hätt nie damit gerechnet, dass so wer Hoher amal mit uns auf Tour geht“, sagt sie. Hoch oder nicht – der Minister wird von ihr geduzt. „Das Sie ist mir zu anstrengend, mit dem Du lässt es sich leichter reden“, sagt Sandra.
Für Frauen sei die Situation auf der Straße besonders hart. Aus Sicherheitsgründen könnten Frauen immer nur in der Gruppe unterwegs sein. Viele Frauen seien auch versteckt wohnungslos oder würden sich in Beziehungen begeben, die sie eigentlich nicht wollten, um ein Dach über dem Kopf zu haben. In Notquartieren würden teilweise bis zu 50 Menschen in einem Raum schlafen, in den WGs würden Frauen mit Kindern mitunter mit Junkies und Alkoholikern zusammenleben. „Es braucht mehr Raum für Frauen und Jugendliche“, erklärt Sandra dem Minister. Außerdem empfiehlt sie mehr sichtbare Information darüber, wo man Hilfe bekommen kann. Und: „Bevor Politiker handeln, sollten sie Betroffene mitreden lassen. Wir sind ja nicht deppert, nur weil wir obdachlos sind.“Sandras Freundin Hedy, die neben ihr steht, pflichtet ihr bei. Manchmal habe sie das Gefühl, in den Hilfseinrichtungen wäre man mehr mit der Verwaltung von Förderungen beschäftigt als mit der Arbeit mit Menschen, sagt Hedy.
Wohnungsvermittlung
2021 hat die Regierung zuerst das Projekt „zu Hause ankommen“dann „Housing First Österreich“gestartet. 6,6 Millionen Euro stehen dafür zur Verfügung. Statt in Notquartieren
oder Übergangswohneinrichtungen unterzukommen, wird wohnungslosen Menschen dabei direkt eine eigene Wohnung vermittelt. Sie unterschreiben einen eigenen Mietvertrag und kommen selbst für die Miete auf. Finanzierungsbeiträge, Umzugskosten und Kautionen werden vom Projekt übernommen. Damit sollen mehr Menschen langfristig aus der Obdachund Wohnungslosigkeit begleitet werden. Von Herbst 2021 bis Frühling 2023 sind laut Angaben des Ministeriums rund 560 Wohnungen an mehr als 1100 Menschen vermittelt worden.
In der Station Praterstern stellt Sandra dem Minister Ferdinand vor. Er ist ein kräftiger, älterer Mann, der einen Rollator vor sich herschiebt. Alle möglichen Sozialleistungen seien angehoben worden, nur das Arbeitslosengeld nicht, sagt er zu Rauch. „Fallt euch da nix ein?“Der Minister nickt – da seien leider die Verhandlungen mit dem Koalitionspartner gescheitert, sagt er. Seit März 2022 gibt es dafür einen Wohnschirm, der Menschen mit geringem Einkommen helfen soll, die von einer Delogierung bzw. Wohnungslosigkeit bedroht sind. Bei Delogierungen in Österreich wird seit dem Ende der Coronapandemie wieder ein steigender Trend beobachtet.
„Obdachlosigkeit und Armut können jedem jederzeit passieren, unabhängig von Job, Ausbildung und familiärem Hintergrund“, sagt Ferdinand. Er selbst hat die HTL absolviert, dann die Militärakademie in Wiener Neustadt, von dort wurde er in die Privatwirtschaft abgeworben – zu einem Münchner Industrieunternehmen, das mit dem neuen Werk, in dem er arbeitete, scheiterte, erzählt er. Zur gleichen Zeit verlor er seinen Bruder und es ging bergab. Aus der Obdachlosigkeit könne man mit etwas Aufwand aber schon herauskommen. Ferdinand ist nicht gut beisammen, er kann nicht lang bleiben. „Der Kreislauf“, sagt er und verabschiedet sich von Sandra. „Bitte ruf mich kurz an, wenn du daheim bist“, sagt die. Der Satz klingt fürsorglich. Es dauert ein bisschen, bis sickert, was er für Menschen, die Wohnungslosigkeit erlebt haben, bedeuten muss. „Wenn du daheim bist …“