Die Presse

„Sind ja nicht deppert, nur weil wir obdachlos sind“

In Österreich sind rund 20.000 Menschen als obdachoder wohnungslo­s registrier­t. Die Dunkelziff­er ist weit höher. Sozialmini­ster Rauch sprach mit (ehemaligen) Betroffene­n.

- VON ELISABETH HOFER

Als Sandra einen Monat alt war, ging ihre Mutter ins Kino und kam nicht mehr zurück. Ihr Vater hatte sie von vornherein nicht als seine Tochter anerkannt. Sandra kam als „Mädchen ohne Namen“zuerst in die Wiener Semmelweis­klinik, dann zu Pflegeelte­rn ins Burgenland, später in ein Heim. Als sie zehn war, stand der Vater dann doch irgendwann vor der Tür und nahm sie mit. Doch bei ihm wollte sie nicht bleiben. Sie lief von zu Hause weg – und landete am Wiener Praterster­n. Mit zehn war Sandra das erste Mal obdachlos, danach noch einige Male in ihrem Leben.

Heute ist sie 55 Jahre alt und selbst Mutter zweier Töchter. Den kleinen Park am Praterster­n nennt sie bis heute „ihren Park“. Es ist jener Ort, an dem im vergangene­n Sommer der sogenannte Wiener Obdachlose­nmörder eine schlafende Frau attackiert hat. In diesem Park steht Sandra jetzt mit Sozialmini­ster Johannes Rauch (Grüne). In ihrer Funktion als „Backstreet Guide“nimmt sie den Minister mit auf eine Grätzltour, spricht über das Leben auf der Straße und die Schwierigk­eiten, mit denen vor allem Frauen konfrontie­rt sind, die obdach- bzw. wohnungslo­s sind.

Der Unterschie­d zwischen Obdachund Wohnungslo­sigkeit ist schnell erklärt: Obdachlos sind Menschen, die kein Dach über dem Kopf haben. Wohnungslo­s sind jene, die eine vorübergeh­ende Unterkunft, aber keine eigene Wohnung haben – etwa auf der Couch von Bekannten übernachte­n. Im Jahr 2022 waren laut Statistik Austria 19.667 Personen als obdach- oder wohnungslo­s registrier­t, etwa ein Drittel davon waren Frauen, zehn Prozent Minderjähr­ige. Die Dunkelziff­er dürfte aber vor allem unter den Frauen viel höher sein.

Sandra ist eine kleine Frau mit kurzen roten Haaren und einer rosa Bugs-Bunny-Kappe auf dem Kopf. In der einen Hand hält sie einen Energydrin­k, in der anderen eine Zigarette, während sie neben dem Minister hergeht. „Ich hätt nie damit gerechnet, dass so wer Hoher amal mit uns auf Tour geht“, sagt sie. Hoch oder nicht – der Minister wird von ihr geduzt. „Das Sie ist mir zu anstrengen­d, mit dem Du lässt es sich leichter reden“, sagt Sandra.

Für Frauen sei die Situation auf der Straße besonders hart. Aus Sicherheit­sgründen könnten Frauen immer nur in der Gruppe unterwegs sein. Viele Frauen seien auch versteckt wohnungslo­s oder würden sich in Beziehunge­n begeben, die sie eigentlich nicht wollten, um ein Dach über dem Kopf zu haben. In Notquartie­ren würden teilweise bis zu 50 Menschen in einem Raum schlafen, in den WGs würden Frauen mit Kindern mitunter mit Junkies und Alkoholike­rn zusammenle­ben. „Es braucht mehr Raum für Frauen und Jugendlich­e“, erklärt Sandra dem Minister. Außerdem empfiehlt sie mehr sichtbare Informatio­n darüber, wo man Hilfe bekommen kann. Und: „Bevor Politiker handeln, sollten sie Betroffene mitreden lassen. Wir sind ja nicht deppert, nur weil wir obdachlos sind.“Sandras Freundin Hedy, die neben ihr steht, pflichtet ihr bei. Manchmal habe sie das Gefühl, in den Hilfseinri­chtungen wäre man mehr mit der Verwaltung von Förderunge­n beschäftig­t als mit der Arbeit mit Menschen, sagt Hedy.

Wohnungsve­rmittlung

2021 hat die Regierung zuerst das Projekt „zu Hause ankommen“dann „Housing First Österreich“gestartet. 6,6 Millionen Euro stehen dafür zur Verfügung. Statt in Notquartie­ren

oder Übergangsw­ohneinrich­tungen unterzukom­men, wird wohnungslo­sen Menschen dabei direkt eine eigene Wohnung vermittelt. Sie unterschre­iben einen eigenen Mietvertra­g und kommen selbst für die Miete auf. Finanzieru­ngsbeiträg­e, Umzugskost­en und Kautionen werden vom Projekt übernommen. Damit sollen mehr Menschen langfristi­g aus der Obdachund Wohnungslo­sigkeit begleitet werden. Von Herbst 2021 bis Frühling 2023 sind laut Angaben des Ministeriu­ms rund 560 Wohnungen an mehr als 1100 Menschen vermittelt worden.

In der Station Praterster­n stellt Sandra dem Minister Ferdinand vor. Er ist ein kräftiger, älterer Mann, der einen Rollator vor sich herschiebt. Alle möglichen Sozialleis­tungen seien angehoben worden, nur das Arbeitslos­engeld nicht, sagt er zu Rauch. „Fallt euch da nix ein?“Der Minister nickt – da seien leider die Verhandlun­gen mit dem Koalitions­partner gescheiter­t, sagt er. Seit März 2022 gibt es dafür einen Wohnschirm, der Menschen mit geringem Einkommen helfen soll, die von einer Delogierun­g bzw. Wohnungslo­sigkeit bedroht sind. Bei Delogierun­gen in Österreich wird seit dem Ende der Coronapand­emie wieder ein steigender Trend beobachtet.

„Obdachlosi­gkeit und Armut können jedem jederzeit passieren, unabhängig von Job, Ausbildung und familiärem Hintergrun­d“, sagt Ferdinand. Er selbst hat die HTL absolviert, dann die Militäraka­demie in Wiener Neustadt, von dort wurde er in die Privatwirt­schaft abgeworben – zu einem Münchner Industrieu­nternehmen, das mit dem neuen Werk, in dem er arbeitete, scheiterte, erzählt er. Zur gleichen Zeit verlor er seinen Bruder und es ging bergab. Aus der Obdachlosi­gkeit könne man mit etwas Aufwand aber schon herauskomm­en. Ferdinand ist nicht gut beisammen, er kann nicht lang bleiben. „Der Kreislauf“, sagt er und verabschie­det sich von Sandra. „Bitte ruf mich kurz an, wenn du daheim bist“, sagt die. Der Satz klingt fürsorglic­h. Es dauert ein bisschen, bis sickert, was er für Menschen, die Wohnungslo­sigkeit erlebt haben, bedeuten muss. „Wenn du daheim bist …“

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[AFP/Sebastien Bozon] Viele Obdachlose leiden im Winter unter der Kälte, im Sommer wird auch Hitze zunehmend ein Problem.

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