Die grässliche Geburt der Neuzeit
Hexenverfolgung und Hate Speech statt Renaissance und Humanismus: In ihrem Buch über das 16. Jahrhundert zeichnet Marina Münkler die frühe Neuzeit düster – als „Beginn, der sein Ende schon in sich trägt“.
Woher kommt das Wort Kannibale? Vom lateinischen „carnis“(Fleisch)? Nein, von viel weiter her: aus der Karibik. Dort nannten sich Indigene selbst Kariben. Kolumbus hörte das als „canibi“und assoziierte es im Irrglauben, er hätte einen neuen Weg nach Indien gefunden, mit dem mongolischen Herrschertitel Khan. So weit, so harmlos, doch er attestierte diesem Volk – unter Berufung auf andere Indigene –, es bestehe aus „gefürchteten Menschenfressern“. Solche nannte er fortan „Canibales“.
Das Wort ist geblieben – und hat zur Rechtfertigung von Versklavung und Massakern beigetragen. Denn, so das Argumentationsmuster: Menschen, die andere fressen, haben ihre Menschenwürde verwirkt. Diese Denunziation fand sogar in den innerchristlichen theologischen Disput: In einem calvinistischen Pamphlet aus 1561 wird der katholische Kolonialist Villegagnon als „Kannibalenkönig“karikiert, schließlich zerreiße er den Leib Christi in seinem Verständnis vom Abendmahl mit den Zähnen …
Diese Wortdeutungen der Kultur- und Literaturwissenschaftlerin Marina Münkler führen ins Herz ihres Buchs über das „dramatische 16. Jahrhundert“. Sie setzt es dezidiert gegen „emphatische Beschreibungen der Renaissance“, etwa von Jacob Burckhardt. Über Humanismus will sie nicht schreiben, nichts über Michelangelo und Shakespeare. Kaum etwas über Wissenschaft, ökonomischen Fortschritt. Ihre zentrale These: Die neue Zeit – die sie selbst im Buchtitel „anbrechen“lässt – sei „vielfach eher als Endzeit denn als Aufbruch verstanden“worden. So erkenne man „den Anbruch der Neuen Zeit als einen Beginn, der sein Ende schon in sich trägt“.
„Kartografisch in die Enge gedrängt“
Welches Ende? Münkler sagt es nicht explizit, aber die Tendenz ist klar: Sie meint die Vorherrschaft Europas, errungen durch den Kolonialismus. Sie erklärt die Expansion in die Neue Welt zwar nicht mit endzeitlichen Ängsten in der Alten Welt, aber assoziiert sie damit. Seit der Eroberung Konstantinopels sei Europa „als ein kleiner Erdteil betrachtet“worden, „der nicht nur kartografisch in die Enge gedrängt, sondern auch von allen Seiten bedroht war und als Bollwerk der Christenheit wie auch als Hort der antiken Kultur und ihres Erbes verstanden werden wollte“.
Es ist eine enge, paranoide Welt, die Münkler schildert, eine Welt, in der geistige Realität ist, was in Luthers Lied „Ein feste Burg ist unser Gott“im Konjunktiv steht: „Und wenn die Welt voll Teufel wär“. Eine Welt voller Dämonen und Hexen, denen nun auch Kannibalismus attestiert wurde. Und die nun oft nackt gezeigt wurden – auch diese Darstellungen, etwa bei Dürer, waren von Berichten aus Amerika inspiriert. Der Hexenwahn war kein Phänomen des Mittelalters, sondern der frühen Neuzeit. So wurde die Mutter des Astronomen Johannes Kepler 1615 im lutherischen Württemberg als Hexe angeklagt, lag 14 Monate in Ketten. Kepler selbst wurde in Linz von ebenfalls evangelischen Geistlichen wegen Kritik an Glaubensartikeln vom Abendmahl ausgeschlossen, worauf er nach Ulm ging und bei Wallenstein als Astrologe anheuerte.
Das war bereits im Dreißigjährigen Krieg (1618–1648): Münkler liebäugelt damit, das 16. Jahrhundert im Sinn eines „langen Jahrhunderts“bis zu diesem auszudehnen, mit ihm endet sie auch ihr Buch: „Die Alte Welt wird verwüstet.“
Wann begann diese „grundstürzende Epoche“, wie Münkler sie nennt? Sie erwägt die drei traditionellen Datierungen des Beginns der Neuzeit: Landung des Kolumbus auf den Bahamas (1492), Eroberung Konstantinopels (1453), Luthers Thesen (1517). Entsprechend gelten diesen drei Umwälzungen – Kolonialisierung Amerikas, Expansion des osmanischen Reichs, Reformation – die drei Abschnitte ihres Buchs. Querverbindungen liegen nahe: So sah Luther die Türken als Zuchtrute Gottes ob der Verfehlungen der römischen Kirche.
„Verfluchte Sitten der Frauen“
Sein Wissen über die Türken hatte Luther teilweise aus dem „Traktat über die Sitten, Lebensverhältnisse und die Arglist der Türken“des Dominikanermönchs Georg von Ungar. Es folgt einem Muster, das an die „Germania“des Tacitus erinnert, aber auch an die Haltung mancher heutiger Konservativer zum Islam: Das Volk, das „uns“bedroht, ist frömmer, tugendhafter als unsere dekadente Gesellschaft, seine Männer sind noch tapfer und seine Frauen züchtig. Die „Ehrbarkeit, die ich in der Türkei beim weiblichen Geschlecht gesehen habe“, setzt Georg gegen den „schamlosen Aufputz und die verfluchten Sitten der Frauen bei den Christen“.
Luther selbst übersetzte Georgs 1481 erschienenes Traktat 1529 auf Deutsch. Der Buchdruck vervielfachte seine Verbreitung – wie jene der Bibel, aber auch unzähliger Flugschriften. Eine Medienrevolution, die die Massenkommunikation verändert habe wie heute die sozialen Medien, meint Münkler. Damals wie heute hätten „die schmähendste Rede, das bösartigste Wortspiel, die übelste Anschuldigung die größte Aufmerksamkeit erzeugt“, hätte „der Kampf um die Wirkmacht der Bilder“getobt. Münkler verwendet das Wort „Hate Speech“nicht; aber wenn man liest, wie Luther gegen Bauern, Juden, Mönche hetzte, drängt es sich auf. Manche seiner Gegner blieben ihm nichts schuldig. So zeichnete der Franziskaner Johannes Nas in blutigen Details, wie Anhänger Luthers dessen Leib zersägen und zerhacken, um daraus Reliquien zu machen.
Oft, auch in den Feldzügen gegen die Indigenen in Amerika, dienten die Grässlichkeiten, die man den Feinden unterstellte – oder ihnen zu Recht attestierte, wie den Azteken die Praxis der Menschenopfer – als Vorwand für eigene Gräuel. Die oft vor aller Augen vollzogen wurden: Hinrichtungen und Hexenverbrennungen waren öffentliche Spektakel. Ist wenigstens, bei allen Parallelen zur frühen Neuzeit, solches Theater der Grausamkeit im heutigen Europa undenkbar geworden? Mit dieser leisen Hoffnung lässt einen Münklers düsteres Buch allein.
Buch: Marina Münkler, „Anbruch der neuen Zeit. Das dramatische 16. Jahrhundert“(Rowohlt Berlin, 540 S.)