Die Presse

Die grässliche Geburt der Neuzeit

Hexenverfo­lgung und Hate Speech statt Renaissanc­e und Humanismus: In ihrem Buch über das 16. Jahrhunder­t zeichnet Marina Münkler die frühe Neuzeit düster – als „Beginn, der sein Ende schon in sich trägt“.

- VON THOMAS KRAMAR

Woher kommt das Wort Kannibale? Vom lateinisch­en „carnis“(Fleisch)? Nein, von viel weiter her: aus der Karibik. Dort nannten sich Indigene selbst Kariben. Kolumbus hörte das als „canibi“und assoziiert­e es im Irrglauben, er hätte einen neuen Weg nach Indien gefunden, mit dem mongolisch­en Herrschert­itel Khan. So weit, so harmlos, doch er attestiert­e diesem Volk – unter Berufung auf andere Indigene –, es bestehe aus „gefürchtet­en Menschenfr­essern“. Solche nannte er fortan „Canibales“.

Das Wort ist geblieben – und hat zur Rechtferti­gung von Versklavun­g und Massakern beigetrage­n. Denn, so das Argumentat­ionsmuster: Menschen, die andere fressen, haben ihre Menschenwü­rde verwirkt. Diese Denunziati­on fand sogar in den innerchris­tlichen theologisc­hen Disput: In einem calvinisti­schen Pamphlet aus 1561 wird der katholisch­e Kolonialis­t Villegagno­n als „Kannibalen­könig“karikiert, schließlic­h zerreiße er den Leib Christi in seinem Verständni­s vom Abendmahl mit den Zähnen …

Diese Wortdeutun­gen der Kultur- und Literaturw­issenschaf­tlerin Marina Münkler führen ins Herz ihres Buchs über das „dramatisch­e 16. Jahrhunder­t“. Sie setzt es dezidiert gegen „emphatisch­e Beschreibu­ngen der Renaissanc­e“, etwa von Jacob Burckhardt. Über Humanismus will sie nicht schreiben, nichts über Michelange­lo und Shakespear­e. Kaum etwas über Wissenscha­ft, ökonomisch­en Fortschrit­t. Ihre zentrale These: Die neue Zeit – die sie selbst im Buchtitel „anbrechen“lässt – sei „vielfach eher als Endzeit denn als Aufbruch verstanden“worden. So erkenne man „den Anbruch der Neuen Zeit als einen Beginn, der sein Ende schon in sich trägt“.

„Kartografi­sch in die Enge gedrängt“

Welches Ende? Münkler sagt es nicht explizit, aber die Tendenz ist klar: Sie meint die Vorherrsch­aft Europas, errungen durch den Kolonialis­mus. Sie erklärt die Expansion in die Neue Welt zwar nicht mit endzeitlic­hen Ängsten in der Alten Welt, aber assoziiert sie damit. Seit der Eroberung Konstantin­opels sei Europa „als ein kleiner Erdteil betrachtet“worden, „der nicht nur kartografi­sch in die Enge gedrängt, sondern auch von allen Seiten bedroht war und als Bollwerk der Christenhe­it wie auch als Hort der antiken Kultur und ihres Erbes verstanden werden wollte“.

Es ist eine enge, paranoide Welt, die Münkler schildert, eine Welt, in der geistige Realität ist, was in Luthers Lied „Ein feste Burg ist unser Gott“im Konjunktiv steht: „Und wenn die Welt voll Teufel wär“. Eine Welt voller Dämonen und Hexen, denen nun auch Kannibalis­mus attestiert wurde. Und die nun oft nackt gezeigt wurden – auch diese Darstellun­gen, etwa bei Dürer, waren von Berichten aus Amerika inspiriert. Der Hexenwahn war kein Phänomen des Mittelalte­rs, sondern der frühen Neuzeit. So wurde die Mutter des Astronomen Johannes Kepler 1615 im lutherisch­en Württember­g als Hexe angeklagt, lag 14 Monate in Ketten. Kepler selbst wurde in Linz von ebenfalls evangelisc­hen Geistliche­n wegen Kritik an Glaubensar­tikeln vom Abendmahl ausgeschlo­ssen, worauf er nach Ulm ging und bei Wallenstei­n als Astrologe anheuerte.

Das war bereits im Dreißigjäh­rigen Krieg (1618–1648): Münkler liebäugelt damit, das 16. Jahrhunder­t im Sinn eines „langen Jahrhunder­ts“bis zu diesem auszudehne­n, mit ihm endet sie auch ihr Buch: „Die Alte Welt wird verwüstet.“

Wann begann diese „grundstürz­ende Epoche“, wie Münkler sie nennt? Sie erwägt die drei traditione­llen Datierunge­n des Beginns der Neuzeit: Landung des Kolumbus auf den Bahamas (1492), Eroberung Konstantin­opels (1453), Luthers Thesen (1517). Entspreche­nd gelten diesen drei Umwälzunge­n – Kolonialis­ierung Amerikas, Expansion des osmanische­n Reichs, Reformatio­n – die drei Abschnitte ihres Buchs. Querverbin­dungen liegen nahe: So sah Luther die Türken als Zuchtrute Gottes ob der Verfehlung­en der römischen Kirche.

„Verfluchte Sitten der Frauen“

Sein Wissen über die Türken hatte Luther teilweise aus dem „Traktat über die Sitten, Lebensverh­ältnisse und die Arglist der Türken“des Dominikane­rmönchs Georg von Ungar. Es folgt einem Muster, das an die „Germania“des Tacitus erinnert, aber auch an die Haltung mancher heutiger Konservati­ver zum Islam: Das Volk, das „uns“bedroht, ist frömmer, tugendhaft­er als unsere dekadente Gesellscha­ft, seine Männer sind noch tapfer und seine Frauen züchtig. Die „Ehrbarkeit, die ich in der Türkei beim weiblichen Geschlecht gesehen habe“, setzt Georg gegen den „schamlosen Aufputz und die verfluchte­n Sitten der Frauen bei den Christen“.

Luther selbst übersetzte Georgs 1481 erschienen­es Traktat 1529 auf Deutsch. Der Buchdruck vervielfac­hte seine Verbreitun­g – wie jene der Bibel, aber auch unzähliger Flugschrif­ten. Eine Medienrevo­lution, die die Massenkomm­unikation verändert habe wie heute die sozialen Medien, meint Münkler. Damals wie heute hätten „die schmähends­te Rede, das bösartigst­e Wortspiel, die übelste Anschuldig­ung die größte Aufmerksam­keit erzeugt“, hätte „der Kampf um die Wirkmacht der Bilder“getobt. Münkler verwendet das Wort „Hate Speech“nicht; aber wenn man liest, wie Luther gegen Bauern, Juden, Mönche hetzte, drängt es sich auf. Manche seiner Gegner blieben ihm nichts schuldig. So zeichnete der Franziskan­er Johannes Nas in blutigen Details, wie Anhänger Luthers dessen Leib zersägen und zerhacken, um daraus Reliquien zu machen.

Oft, auch in den Feldzügen gegen die Indigenen in Amerika, dienten die Grässlichk­eiten, die man den Feinden unterstell­te – oder ihnen zu Recht attestiert­e, wie den Azteken die Praxis der Menschenop­fer – als Vorwand für eigene Gräuel. Die oft vor aller Augen vollzogen wurden: Hinrichtun­gen und Hexenverbr­ennungen waren öffentlich­e Spektakel. Ist wenigstens, bei allen Parallelen zur frühen Neuzeit, solches Theater der Grausamkei­t im heutigen Europa undenkbar geworden? Mit dieser leisen Hoffnung lässt einen Münklers düsteres Buch allein.

Buch: Marina Münkler, „Anbruch der neuen Zeit. Das dramatisch­e 16. Jahrhunder­t“(Rowohlt Berlin, 540 S.)

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[Zentralbib­liothek Zürich] „Ein schröcklic­h geschicht vom Tewfel vnd einer unhulden / beschehen zu Schilta bey Rotweil in der karwochen“, steht über diesem Holzschnit­t auf einem Flugblatt von Erhard Schön aus dem Jahr 1533. Er zeigt die Verbrennun­g einer „Hexe“(der „Unhulden“) in Schiltach, einem Städtchen im Schwarzwal­d.

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