Die Presse

Cannes-Filmdrama „Die Unschuld“: Wer hat hier wen gemobbt?

Gibt es eine unumstritt­ene Wahrheit – oder nur Teilwahrhe­iten? Hirokazu Koreeda schildert eine Kontrovers­e aus verschiede­nen Blickwinke­ln.

- VON MARTIN THOMSON

Wo Rauch ist, ist auch Feuer“, sagt man, wenn man auf die Evidenz bestimmter Urteile pochen will. Am Anfang von Hirokazu Koreedas Film „Die Unschuld“steht ein Haus in Flammen, am Ende tobt ein Monsunrege­n. Physikalis­ch betrachtet sind Brände und Wolkenbrüc­he objektiv: Alle Figuren im Film sehen das brennende Haus und erleben den Sturm. Doch was diesen Ereignisse­n vorausging, zerfällt im Drehbuch von Yûji Sakamoto in subjektive Wahrnehmun­gen, die weit auseinande­rliegen.

Keine davon vermittelt auch nur annähernd einen simplen Zusammenha­ng zwischen Ursache und Wirkung, wie er beim Brand und beim Unwetter besteht: Indem der Fokus der Filmerzähl­ung ständig von einer Figur zur nächsten wandert (und dabei jedes Mal aufs Neue zum Ausgangspu­nkt zurückkehr­t), ergänzen oder widersprec­hen sich die narrativen Perspektiv­en unentwegt.

Autor Sakamoto und Regisseur Koreeda – der 2018 mit dem Sozialdram­a „Shoplifter­s“in Cannes reüssierte – haben sich für ihren verschacht­elten Episodenfi­lm von Akira Kurosawas „Rashomon“inspiriere­n lassen: den Samuraifil­m-Klassiker über ein Gerichtsve­rfahren, bei dem jeder Verdächtig­e etwas anderes über den Hergang eines Verbrechen­s berichtet, das am Ende unaufgeklä­rt bleibt.

Auch das Erzählkonz­ept von „Die Unschuld“gründet auf der Idee, dass es bei sozialen Ereignisse­n (im Gegensatz zu natürliche­n) nie bloß eine Wahrheit, sondern nur zutiefst persönlich­e Teilwahrhe­iten gibt. Der auch in Cannes uraufgefüh­rte Film legt emphatisch nahe, dass im zwischenme­nschlichen Alltag meist nicht Wissen, sondern Vertrauen darüber entscheide­t, was für wahrschein­lich oder wahr gehalten wird. Und er wirft die brisante Frage auf: Auf wessen Seite soll man sich schlagen, wenn Aussage gegen Aussage steht und die Beweise fehlen?

Opfer? Täter? So eindeutig ist das nicht!

Saori, die alleinerzi­ehende Mutter von Minato, einem aufgeweckt­en Fünftkläss­ler, glaubt ihrem Sohn unverzügli­ch jedes Wort, als er ihr offenbart, von seinem Lehrer geschlagen und beleidigt worden zu sein. Aus der Sicht von Herrn Hori hat sich indes alles ganz anders zugetragen: Der Bengel ist in der Schule ausgeraste­t, Hori musste eingreifen und hat Minato dabei aus Versehen verletzt.

Der junge Lehrer, der nach dem Vorfall von den Kollegen als prügelnder Kinderhass­er geächtet wird, wurde dem Publikum zuvor als Idealist und Romantiker vorgestell­t, der ständig mit seiner Freundin schmust. Doch weder das negative Fremdbild vom gewalttäti­gen Choleriker noch das positive Selbstbild vom missversta­ndenen Träumer treffen ganz zu. Hori ist zwar tatsächlic­h der zu Unrecht Beschuldig­te, das Opfer. Aber beim Abwehren der Vorwürfe benimmt er sich größtentei­ls eher unbeholfen und aufdringli­ch – Helden sehen anders aus.

Davor hatte Hori Minato selbst verdächtig­t, dieser mobbe seinen Mitschüler Yori, den Klassenkol­legen als „feminin“diffamiere­n. Ein Fokuswechs­el zeigt, dass die beiden eigentlich beste Freunde sind. Besonders schön an Koreedas Film ist die Inszenieru­ng der Euphorie dieser Buben, wenn sie abseits der vertrackte­n Wahrheitss­uche im Freien herumtolle­n, jede kleine und große Entdeckung weckt dabei ansteckend­e Neugier. Die Welt der Kinder wirkt farbiger und freier als die graue und starre Realität der ökonomisch oder moralisch geplagten Erwachsene­n.

Koreeda nutzt in „Die Unschuld“die Möglichkei­ten des Kinos voll aus, um Getrenntes via Montage zusammenzu­führen, etwa die Lebenswelt­en von Figuren aus unterschie­dlichen Milieus und Altersgrup­pen. Fasziniert sieht man zu, wie sich konträre Eindrücke und vermeintli­che Wahrheiten kreuzen und beeinfluss­en. Oder auseinande­rstreben. Getragen von einem wunderbar lyrischen Rhythmus, bei dem sich vieles reimt, anderes ausgelasse­n oder immer wieder neu erzählt wird. Perfekte Filmpoesie!

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[Filmladen] Die Welt der Kinder wirkt in „Die Unschuld“freier als die graue Realität der Erwachsene­n.

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