Cannes-Filmdrama „Die Unschuld“: Wer hat hier wen gemobbt?
Gibt es eine unumstrittene Wahrheit – oder nur Teilwahrheiten? Hirokazu Koreeda schildert eine Kontroverse aus verschiedenen Blickwinkeln.
Wo Rauch ist, ist auch Feuer“, sagt man, wenn man auf die Evidenz bestimmter Urteile pochen will. Am Anfang von Hirokazu Koreedas Film „Die Unschuld“steht ein Haus in Flammen, am Ende tobt ein Monsunregen. Physikalisch betrachtet sind Brände und Wolkenbrüche objektiv: Alle Figuren im Film sehen das brennende Haus und erleben den Sturm. Doch was diesen Ereignissen vorausging, zerfällt im Drehbuch von Yûji Sakamoto in subjektive Wahrnehmungen, die weit auseinanderliegen.
Keine davon vermittelt auch nur annähernd einen simplen Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung, wie er beim Brand und beim Unwetter besteht: Indem der Fokus der Filmerzählung ständig von einer Figur zur nächsten wandert (und dabei jedes Mal aufs Neue zum Ausgangspunkt zurückkehrt), ergänzen oder widersprechen sich die narrativen Perspektiven unentwegt.
Autor Sakamoto und Regisseur Koreeda – der 2018 mit dem Sozialdrama „Shoplifters“in Cannes reüssierte – haben sich für ihren verschachtelten Episodenfilm von Akira Kurosawas „Rashomon“inspirieren lassen: den Samuraifilm-Klassiker über ein Gerichtsverfahren, bei dem jeder Verdächtige etwas anderes über den Hergang eines Verbrechens berichtet, das am Ende unaufgeklärt bleibt.
Auch das Erzählkonzept von „Die Unschuld“gründet auf der Idee, dass es bei sozialen Ereignissen (im Gegensatz zu natürlichen) nie bloß eine Wahrheit, sondern nur zutiefst persönliche Teilwahrheiten gibt. Der auch in Cannes uraufgeführte Film legt emphatisch nahe, dass im zwischenmenschlichen Alltag meist nicht Wissen, sondern Vertrauen darüber entscheidet, was für wahrscheinlich oder wahr gehalten wird. Und er wirft die brisante Frage auf: Auf wessen Seite soll man sich schlagen, wenn Aussage gegen Aussage steht und die Beweise fehlen?
Opfer? Täter? So eindeutig ist das nicht!
Saori, die alleinerziehende Mutter von Minato, einem aufgeweckten Fünftklässler, glaubt ihrem Sohn unverzüglich jedes Wort, als er ihr offenbart, von seinem Lehrer geschlagen und beleidigt worden zu sein. Aus der Sicht von Herrn Hori hat sich indes alles ganz anders zugetragen: Der Bengel ist in der Schule ausgerastet, Hori musste eingreifen und hat Minato dabei aus Versehen verletzt.
Der junge Lehrer, der nach dem Vorfall von den Kollegen als prügelnder Kinderhasser geächtet wird, wurde dem Publikum zuvor als Idealist und Romantiker vorgestellt, der ständig mit seiner Freundin schmust. Doch weder das negative Fremdbild vom gewalttätigen Choleriker noch das positive Selbstbild vom missverstandenen Träumer treffen ganz zu. Hori ist zwar tatsächlich der zu Unrecht Beschuldigte, das Opfer. Aber beim Abwehren der Vorwürfe benimmt er sich größtenteils eher unbeholfen und aufdringlich – Helden sehen anders aus.
Davor hatte Hori Minato selbst verdächtigt, dieser mobbe seinen Mitschüler Yori, den Klassenkollegen als „feminin“diffamieren. Ein Fokuswechsel zeigt, dass die beiden eigentlich beste Freunde sind. Besonders schön an Koreedas Film ist die Inszenierung der Euphorie dieser Buben, wenn sie abseits der vertrackten Wahrheitssuche im Freien herumtollen, jede kleine und große Entdeckung weckt dabei ansteckende Neugier. Die Welt der Kinder wirkt farbiger und freier als die graue und starre Realität der ökonomisch oder moralisch geplagten Erwachsenen.
Koreeda nutzt in „Die Unschuld“die Möglichkeiten des Kinos voll aus, um Getrenntes via Montage zusammenzuführen, etwa die Lebenswelten von Figuren aus unterschiedlichen Milieus und Altersgruppen. Fasziniert sieht man zu, wie sich konträre Eindrücke und vermeintliche Wahrheiten kreuzen und beeinflussen. Oder auseinanderstreben. Getragen von einem wunderbar lyrischen Rhythmus, bei dem sich vieles reimt, anderes ausgelassen oder immer wieder neu erzählt wird. Perfekte Filmpoesie!