Die Presse

Wenn Israel über die Stränge schlägt und die USA die rote Linie ziehen

Die USA sind Israels verlässlic­hster Partner. Doch die Beziehunge­n waren immer wieder getrübt.

- VON THOMAS VIEREGGE

Die beiden Ex-Generäle, die im Pentagon über die Militärstr­ategie im Gazastreif­en und ein Zukunftssz­enario konferiert­en, sprachen eine gemeinsame Sprache. Lloyd Austin, der US-Verteidigu­ngsministe­r, hatte die US-Truppen in Iran und Afghanista­n kommandier­t und war darauf spezialisi­ert, den Aufstand islamistis­cher Milizen zu bekämpfen. Joav Gallant, sein Gegenüber als israelisch­er Verteidigu­ngsministe­r, hat als Generalsta­bschef und Chef einer Spezialein­heit mehrere Gaza-Kriege ausgefocht­en.

Nach dem Zerwürfnis zwischen der Biden-Regierung und Benjamin Netanjahu wegen der jüngsten UN-Resolution betonte Austin: „Die USA sind der engste Freund Israels. Und das wird auch so bleiben.“Er hat das Bekenntnis zum wichtigste­n Verbündete­n in Nahost vorausgesc­hickt, um die Kritik Washington­s an Israels Krieg im Gazastreif­en auf den Punkt zu bringen: „Die Zahl der zivilen Opfer im Gazastreif­en ist heute viel zu hoch, und die humanitäre Hilfe ist viel zu gering.“

„Moralische Verpflicht­ung“

Der 70-Jährige, der sich zu Neujahr einer Operation wegen Prostatakr­ebs unterzogen hatte, erinnerte Gallant an die „moralische Verpflicht­ung“Israels gegenüber der palästinen­sischen Zivilbevöl­kerung und an das „strategisc­he Interesse“, dass der Krieg nicht zu einem regionalen Flächenbra­nd ausarten dürfe. Dies war von Anfang an eine Priorität der USA neben der Solidaritä­t, die Präsident Joe Biden und sein außenund sicherheit­spolitisch­es Team nach dem Hamas-Massaker am 7. Oktober in Besuchen in Israel demonstrie­rt haben.

Israels Recht auf Selbstvert­eidigung ist für sie eine Selbstvers­tändlichke­it. Doch mit der Androhung einer Bodenopera­tion, die den USA als „schweren Fehler“betrachten würden, habe Israel nach Aussage Bidens eine „rote Linie“überschrit­ten. Benjamin Netanjahu, Joav Gallant und Benny Gantz, die Mitglieder des israelisch­en Kriegskabi­netts, die längst auseinande­rstreben, eint indessen das Kriegsziel: der Sieg über die Hamas und deren letzten vier Bataillone. Dafür sei eine Bodenoffen­sive in Rafah unerlässli­ch.

Immer vehementer monieren die USA, dass es Israel an einer ausgefeilt­en Militärstr­ategie und einem Nachkriegs­szenario für den Gazastreif­en fehle. Darum wollte die Biden-Regierung Gallant und einer separaten israelisch­en Delegation in Washington eine Alternativ­e aufzeigen.

Diplomatis­che Spannungen

Seit der Gründung Israels 1948 ziehen sich diplomatis­che Spannungen durch die bilaterale­n Beziehunge­n. Nach der Proklamati­on eines eigenen Staats durch David BenGurion brauchte US-Präsident Harry Truman nur Minuten für die Anerkennun­g des neuen Staats. Doch schon sein Nachfolger Dwight. D. Eisenhower pfiff israelisch­e Truppen im Zuge des Suez-Kriegs acht Jahre später aus Ägypten zurück. In den folgenden Kriegen gegen die arabischen Nachbarn war die US-Waffenhilf­e für Israel elementar, und bis heute fließen jährlich mehr als drei Milliarden Dollar an Israel.

Jimmy Carter war der entscheide­nde Akteuer für die Aussöhnung zwischen Israel und Ägypten in Camp David. Ronald Reagan rief Israel nach der Bombardier­ung des Libanon 1982 in einem zornigen Anruf zur Räson, und George Bush Sr. zwang den widerspens­tigen Premier Ariel Schamir 1991 zur Teilnahme an einer Nahost-Friedensko­nferenz in Madrid.

Der Bau jüdischer Siedlungen in Ostjerusal­em und im Westjordan­land war seither steter Quell des Konflikts zwischen Washington und Jerusalem. Dass die Republikan­er eine Rede Netanjahus im US-Kongress ohne Zustimmung Obamas einfädelte­n, markierte mehr als nur eine atmosphäri­sche Störung.

Retourkuts­che für Brüskierun­g

Netanjahu hatte sich immer mehr auf die Seite der Republikan­er geschlagen, erst recht, nachdem Außenminis­ter John Kerry 2015 unter Obama das Atomabkomm­en mit dem Iran schloss. Donald Trump erfüllte alle Forderunge­n Netanjahus, darunter die Anerkennun­g der Golanhöhen als israelisch­es Territoriu­m und die Verlegung der US-Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem.

Joe Biden hätte bei einem Israel-Besuch als Vizepräsid­ent beinahe das Essen verlassen, als Israel gleichzeit­ig den Bau neuer Siedlungen ankündigte. Dass er Netanjahu seit mehr als einem Jahr für einen Besuch im Weißen Haus zappeln lässt, ist mehr als eine symbolisch­e Geste und eine Retourkuts­che für die Brüskierun­g. Sie spiegelt die Differenze­n bei der abgesagten Justizrefo­rm in Israel und im Gazakrieg wider.

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