Wie steht es um das Kino, Herr Direktor?
Filmkultur. Das Österreichische Filmmuseum wird 60. Aus diesem Anlass haben wir alle drei lebenden Leitfiguren der Institution zu Themen befragt, die die Filmwelt bewegen.
Die Presse: Das Filmmuseum feiert sein 60-jähriges Bestehen. Eine seiner Hauptmissionen ist die Bewahrung materieller und immaterieller Filmkultur. Diese steht vor großen Herausforderungen, darunter auch Debatten über den filmhistorischen Kanon. Wer soll entscheiden, welche Filme vor dem Vergessen bewahrt werden und welche nicht?
Peter Kubelka: Das Konzept des Österreichischen Filmmuseums zu seiner Gründung 1964 sieht vor: Alle analogen Filme, die man kriegen kann, hebt man auf. Bei der Vorführung wird der Film als eigenständiges, unersetzbares Medium der Kommunikation durch Beispiele repräsentiert, nicht durch Texte. Gezeigt werden Filme aller Denkrichtungen, die weltanschauliche Ausrichtung spielt bei der Auswahl keine Rolle. Das ÖFM sieht sich als Hochschule für Filmemacher und ernstlich Interessierte, Leitbild ist das Kunsthistorische Museum.
Die Presse: Analoges Filmmaterial ist ein Kernbestand der Sammlung des Filmmuseums. Gleichzeitig wurde der reguläre Kinobetrieb längst auf Digital umgestellt. Den meisten Menschen ist der Unterschied gar nicht bewusst. Wenn analoger Film ein Auslaufmodell ist: Wozu soll man sich dann noch um ihn kümmern?
Kubelka: Auf analogem Filmmaterial hat sich 100 Jahre lang das Denken der Welt niedergeschlagen. Gerade weil der Mainstream andere Wege geht, steigern sich Wert und Bedeutung analoger Sammlungen und Vorführungen. Der analoge Film ist durch das digitale Medium nicht archivierbar, genauso wie ein Gemälde nicht durch einen Kunstdruck archivierbar oder ersetzbar ist. Und er wird durch das digitale Medium nicht überflüssig, genauso wenig wie das Theater durch den Film überflüssig wurde.
Die Presse:
Die Vermittlung von Film als Kunstform und politisches Medium ist Ihnen allen ein wichtiges Anliegen. Dabei haftet dem Kino noch immer der Ruch an, sein Publikum zu „verdummen“. Wie kann man diesem schlechten Leumund entgegenwirken?
Kubelka: Gesellschaftspolitik ist nicht die Sache eines Filmmuseums.
Die Presse: Das Österreichische Filmmuseum hat den Fokus immer wieder auf das Schaffen einzelner Regie- und Schauspielpersönlichkeiten gelegt. Ist das nicht eine Art von Geniekult, die längst überholt ist?
Kubelka: Um sich zu orientieren, merkt man sich in der Literatur die Dichter, in der Malerei die Maler, in der Musik die Komponisten. Auch im Film findet man sich am besten zurecht, wenn man sich Autoren merkt. Im industriellen, von Teams erstellten Film heißt diese Funktion „Regisseur“/„Regisseurin“; im unabhängigen, von Einzelnen erstellten Werk heißt es „Filmmacher“/„Filmmacherin“. Also eine Orientierungshilfe, kein Geniekult. Schauspieler hingegen sind im Film nicht Kriterien der Qualitätsbestimmung. Unter mir gab es keine Schauspieler-Retrospektiven.
Die Presse:
Die Filmwelt ist Epizentrum eines Kulturwandels, bei dem das Bewusstsein für Diversität und Machtgefälle im Vordergrund steht. Das hat Auswirkungen auf die Branche, vom „Gender-Budgeting“bis zur Etablierung neuer Berufe, wie der „Intimitätskoordination“. Wird die künstlerische Freiheit durch diesen Paradigmenwechsel beschnitten?
Kubelka: Wer einen politischen Paradigmenwechsel für richtig hält, der verliert keine Freiheit, wenn er ihn vollzieht. Ein Filmmuseum hat seine eigenen Paradigmen. Aus der Distanz beobachtet, archiviert und zeigt es die Dokumente der menschlichen Auseinandersetzung mit der Welt, dem Publikum die Freiheit der Meinung.
Die Presse: Im 20. Jahrhundert war der Kinofilm das populäre Bildmedium schlechthin. Heute steht das infrage: Der Konsum von Bewegtbildern auf digitalen Endgeräten ist die derzeit dominante Form audiovisueller Unterhaltung. Warum soll man noch ins Kino gehen, wenn man sich die meisten Filme auch gemütlich zu Hause ansehen kann?
Kubelka: Für die Leichtlebigkeit des digitalen Mediums ist das Patschenkino ein bequemer Ort, aber auch dieser weicht zunehmend dem allgegenwärtigen Ort des mobilen Telefons. Das Schattenspiel des analogen Films funktioniert nicht bei Tageslicht. Es braucht den verdunkelten Raum. Dieser Defekt bescherte uns den großartigsten Begegnungsplatz mit dem Denken eines Mitmenschen: Das Publikum sitzt im Kopf des Autors, sieht und hört sich um in dessen Welt, ohne Ablenkung, parallele Tätigkeiten und frühzeitigen Aufbruch. Die schwarzen Kinoräume sind die Kathedralen unserer Zeit.
Peter Kubelka, 1934 geboren, gründete 1964 mit Peter Konlechner das ÖFM und war bis 2001 dessen Co-Leiter. Zudem ist er als Avantgarde-Filmemacher (z. B. „Arnulf Rainer“) global renommiert.
Alexander Horwath: Niemand. Bewahrt werden Filme in Archiven, Museen, Sammlungen (inkl. privater Festplatten und Dachböden). Der Ausdruck „Vor dem Vergessen bewahrt“hingegen insinuiert, dass es eine allgemein akzeptierte „Bekanntheitsgrenze“gäbe, die das Vergessene vom Erinnerten trennt. Aber worauf sich das Milieu X zum Zeitpunkt Y als „vergessens- und erinnernswert“einigt, ist völlig irrelevant für einzelne Menschen oder Institutionen, die selbst entscheiden, was sie sehen, zeigen, sammeln oder erinnern wollen.
Horwath: Erstens: Museen und Archive sind genau dafür da – Dinge zu bewahren, die in profitorientierten Bereichen der Gesellschaft als „Auslaufmodelle“abqualifiziert werden. Zweitens: Das ÖFM und alle anderen Filmmuseen, die ich kenne, sammeln und bewahren längst auch digitale Bewegtbilder. Drittens: Werfen Sie alle Fotografien weg, die sich über Jahrzehnte in Ihrer Familie erhalten haben, nur weil Sie fünf Prozent davon scannen konnten? Würden Sie sie wegwerfen, wenn sie alle gescannt haben?
Horwath: Zum Beispiel, indem man seine Kommunikationsmilieus wechselt : Wer sich unter Menschen bewegt, die dem Kino den „Ruch“zuschreiben, es „verdumme“sein Publikum (also im Milieu von Oberstudienräten der frühen 1950er-Jahre), der muss einer drängenderen Gefahr entgehen als jener, vom Kino verdummt zu werden.
Horwath: Abgesehen davon, dass das Österreichische Filmmuseum den Blick auch auf viele andere Bereiche und Fragestellungen der Filmgeschichte richtet: Mir wäre nicht bewusst, dass die schiere Existenz des „Schaffens“einzelner „Persönlichkeiten“einen „Geniekult“begründet. Ich kenne kein kulturelles Leben, das sich vor Werken einzelner Menschen fürchtet; selbst dann nicht, wenn von Werk zu Werk etwas „Wiedererkennbares“oder gar Konsistentes entsteht. Kann es sein, dass Sie das Seminar über den „Tod des Autors“zu wörtlich genommen haben?
Horwath: Nein.
Horwath: Niemand „soll“. Aber jede und jeder „darf“– solang in demokratischen Gemeinwesen noch ein Konsens darüber vorhanden ist, dass wie auch immer definierte „dominante“Formen nicht die einzigen Formen – welchen Konsums auch immer – sein sollen.
Alexander Horwath, 1964 geboren, leitete das ÖFM von 2002 bis 2017. Davor war er u. a. als Viennale-Direktor und Filmkritiker tätig. Sein erster Film, „Henry Fonda for President“, feierte heuer Premiere.
Michael Loebenstein: Dafür gibt es in den Museen Kuratorinnen und Kuratoren: Menschen mit Ausbildung, Leidenschaft, Weitblick, die dafür sorgen (der lateinische Wortstamm „curare“bedeutet genau das), dass wir eine Auswahl bedeutender Werke für die Zukunft bewahren. Diese Arbeit dem Markt zu überlassen, wäre fahrlässig. Museen sind auch keine Inseln mehr, Kuratorinnen und Kuratoren arbeiten global vernetzt, im Bewusstsein eines großen Ganzen: Was hält das Weltkino bereit, wer kümmert sich um welche Aspekte der Filmgeschichte?
Loebenstein: Drei Antworten: Weil wir die Kulturtechnik Film, ihre Ästhetik, ihre Wirtschafts- und Kulturgeschichte nur vor dem Hintergrund der Technologie „analoger Film“vollständig begreifen können; weil die Digitalisierung nur die Spitze des Eisbergs „Filmgeschichte“darstellt und das meiste, was in den Speichern liegt, noch analog ist; weil Film als „Werkstoff“oder Material im Bereich des künstlerischen Films eine Rolle spielt und nicht einfach durch ein elektronisches Faksimile ersetzt werden kann.
Loebenstein: Warum sollte der Film verdummen? Ich kann solchen kategorischen Zuweisungen nichts abgewinnen. Warum gilt das nicht für andere Kunstformen und Kulturtechniken auch?
Loebenstein: Die meisten Filmmuseen wurden in den 1950er- und 1960er-Jahren vor dem Hintergrund der „Autorentheorie“gegründet, die im kommerziellen Produkt Film die Einzigartigkeit und Originalität, die künstlerische Handschrift eines Schöpfers (meist des Regisseurs) betonte. Und als Ausstellungsmacher oder Filmprogrammgestalter arbeitet man mit Vertrautem, um das Publikum an die Geschichte des Mediums heranzuführen. Aber ich glaube, wir sind längst weg vom Geniekult, beleuchten auch andere kulturell relevante Kontexte historischer Filme.
Loebenstein: Wenn Menschen Kunstfreiheit als Deckmantel verstehen, unter dessen Schutz andere diskriminiert, erniedrigt, ausgebeutet oder ausgegrenzt werden können, dann ja. Ansonsten ein klares Nein. Und dass sich Museen heute damit auseinandersetzen müssen, was sie zeigen und wie sie es zeigen, ist an sich nichts Schlechtes. Bedauerlich ist nur, wie undifferenziert die öffentliche Auseinandersetzung mit diesen Fragen bisweilen geführt wird.
Loebenstein: Unsere Geräte fügen sich reibungslos in einen Alltag ein, der von Leistungsdruck, Erreichbarkeit und fragmentierter Wahrnehmung geprägt ist. Da ist das Kinoerlebnis ein Luxus: Geschichten, Menschen, Orte in Echtzeit, ohne Ablenkung. Wir installieren Apps, um „Achtsamkeit“zu üben oder unseren Medienkonsum zu kontrollieren, um „digital zu entgiften“. Film im Kino ist all das: Wir begeben uns freiwillig in seine Hände, schenken ihm das Kostbarste, was wir haben – unsere ungeteilte Aufmerksamkeit und Lebenszeit. Und, ganz wichtig: weil eben nicht „alles“digital verfügbar ist!
Michael Loebenstein, 1974 geboren, hat seit 2017 die Leitung des ÖFM inne. Davor war er CEO des National Film and Sound Archive in Australien und an diversen Filmforschungsprojekten beteiligt.