Erdoğans Wahlschlacht um Istanbul
Am Wochenende finden in der Türkei Kommunalwahlen statt. Für Staatschef Erdoğan und das ganze Land ist entscheidend, wie in der Metropole Istanbul abgestimmt wird.
Recep Tayyip Erdoğan wirft alles in die Schlacht um Istanbul. Vor den türkischen Kommunalwahlen am kommenden Sonntag hat der Präsident die Führung des Wahlkampfes seiner Partei AKP in der 16-Millionen-Metropole am Bosporus übernommen. Bei einer Massenkundgebung mit Hunderttausenden Anhängern in Istanbul rief er jetzt zur Abwahl des Oberbürgermeisters Ekrem İmamoğlu auf, der zur Opposition gehört. Mit seinem persönlichen Einsatz zeigt der Präsident, wie wichtig die Wahl für seine Zukunft und die des Landes ist : In Istanbul werden am Sonntag die Weichen für die Türkei neu gestellt. Auch die Beziehungen zu Europa könnten sich nach der Wahl verändern.
Konservative Konkurrenz
Erdoğan erklärte die Kommunalwahlen und besonders die Bürgermeisterwahl in Istanbul zur Abstimmung über seine Politik, indem er verkündete, dies sei die letzte Wahl seiner Laufbahn. Er schickte den farblosen Ex-Bauminister Murat Kurum als AKP-Kandidaten in Istanbul gegen İmamoğlu in den Ring und machte so deutlich, dass es bei der Wahl am Bosporus vor allem um ihn selbst geht.
Umfragen sagen einen knappen Wahlausgang voraus. İmamoğlu wird anders als bei seinem Sieg 2019 nur von seiner eigenen Partei CHP unterstützt und nicht von anderen Oppositionsparteien. Das könnte ihn entscheidende Prozentpunkte kosten. Erdoğan kämpft gegen wachsende Beliebtheit einer islamistischen Splitterpartei, die in Istanbul mit einem eigenen Kandidaten antritt und der AKP religiös-konservative Wähler abjagen könnte.
Der Staatschef nimmt das Rennen in seiner Heimatstadt Istanbul persönlich: Vor 30 Jahren begann er hier als Bürgermeister seine Karriere; als Istanbul vor fünf Jahren an die Opposition fiel, war das eine Demütigung für den Präsidenten. Als Wirtschaftsmetropole, die etwa die Hälfte aller Steuereinnahmen der Türkei liefert, ist Istanbul zudem als Geldbringer für die jeweils herrschende Partei wichtig.
Im Wahlkampf tritt Erdoğan auf, als sei er – und nicht Kurum – der AKP-Bewerber für den Istanbuler Bürgermeisterposten. Bei einer Großveranstaltung sagte er, İmamoğlu habe sich seit 2019 kaum um die Stadt gekümmert, sei ständig im Urlaub oder auf Wahlkampftour. İmamoğlu antwortete, Erdoğan greife kurz vor der Wahl aus Verzweiflung zu Verschwörungstheorien und Lügen. „Kümmere dich um deinen eigenen Job“, sagte er an den Präsidenten gerichtet.
Wie die Wahl auch ausgehen wird: Am 1. April werden die Bürger „in einer anderen Türkei aufwachen“, sagt der Blogger Murat Yetkin zur „Presse“. Mit einem erneuten Sieg İmamoğlus würden die Wähler zeigen, dass sie keine Alleinherrschaft Erdoğans wollten, sondern zumindest auf kommunaler Ebene politische Gegengewichte bevorzugten. İmamoğlu wäre nach einem zweiten Sieg der „natürliche Anführer der Opposition gegen Erdoğan“, meint Yetkin, Autor des einflussreichen Blogs „YetkinReport“.
Geht Erdoğan aus der Wahl am Sonntag als Sieger hervor, könne der Präsident sein Präsidialsystem im ganzen Staat durchsetzen, schildert Yetkin. „Wenn er Istanbul zurückerobert, wird es wohl mehr Druck auf die Opposition und die Medien geben.“Manche Kurdenpolitiker hoffen zwar, dass Erdoğan aus einer Position der Stärke nach der Wahl einen neuen Versuch beginnen könnte, die Kurdenfrage politisch zu lösen. Yetkin glaubt jedoch nicht daran: Erdoğans Regierung stützt sich auf die rechtsnationalistische Partei MHP, für die eine Liberalisierung der Kurdenpolitik nicht infrage komme.
Wenn Erdoğan Istanbul zurückerobert, wird es mehr Druck auf Opposition und Medien geben.
Vorbereitung auf Referendum
Nach dem Wahltag stehen Wirtschaftsreformen an, die Erdoğan bisher mit Rücksicht auf die Kommunalwahlen vermieden hat. Yetkin erwartet einen Abbau von Subventionen bei Benzin und Gas sowie Änderungen der Steuergesetze – schmerzhafte Einschnitte für türkische Normalverbraucher. Diese Reformen möglichst schnell durchzuziehen liegt im Interesse des Präsidenten. Denn trotz seiner Ankündigung, er gehe am Sonntag in seine letzte Wahl, bereitet Erdoğan die nächste landesweite Abstimmung vor: ein Verfassungsreferendum, das ihm den Verbleib an der Macht über das Ende seiner derzeitigen Amtszeit im Jahr 2028 hinaus ermöglichen soll.
Um dieses Referendum zu gewinnen, braucht der türkische Präsident Erdoğan die Hilfe nationalistischer und islamistischer Parteien, die mit der AKP verbündet sind. Machtverschiebungen innerhalb dieser Allianz bei den Kommunalwahlen könnten Auswirkungen auf die Beziehungen zum Westen haben, sagte die Türkei-Expertin und Politikberaterin Nebahat Tanrıverdi der „Presse“. Das Wahlergebnis entscheide deshalb mit darüber, ob die türkische Außenpolitik „auf einen aggressiveren Kurs einschwenkt oder ob die Annäherung an Europa weitergeht“.
Murat Yetkin, türkischer Blogger