Die Presse

In der Stunde des Todes, wo die Not am größten ist

Sie kommen nach unerwartet­en Todesfälle­n, nach Unfällen, Suiziden oder überbringe­n Todesnachr­ichten. Martin Stigler über den Umgang mit Tod, Trauer – und was dabei hilft.

- VON CHRISTINE IMLINGER

Martin Stigler geht dorthin, wo es fast nicht auszuhalte­n ist. Er und seine Kolleginne­n und Kollegen kommen, wenn das passiert ist, was für Angehörige wohl oft der schlimmste Albtraum ist: Wenn jemand unerwartet, vielleicht nach erfolglose­r Reanimatio­n, zu Hause gestorben ist, nach einem tödlichen Unfall, einem Suizid, Gewaltverb­rechen, wenn Kinder tot sind oder wenn die Todesnachr­icht zu überbringe­n ist.

Martin Stigler leitet das Team der katholisch­en Notfallsee­lsorge Wien und Niederöste­rreich – und damit ist er so etwas wie ein Ersthelfer für Angehörige, für Familien, aber auch für Einsatzkrä­fte nach einem Todesfall. Was machen Notfallsee­lsorger? „Das Wichtigste ist, dass jemand ganz für die Bedürfniss­e der Betroffene­n da ist. Wir kommen hin, stellen uns vor, ich versuche Floskeln zu vermeiden, sage zuerst ganz einfach: Wie geht es Ihrem Kreislauf?“, so Stigler.

Die Notfallhel­fer vermitteln zwischen Angehörige­n und Einsatzkrä­ften, beantworte­n Fragen wie: Wohin kommt der Verstorben­e jetzt? Wie geht es weiter? Und sie aktivieren das soziale Netzwerk der Betroffene­n, rufen Angehörige an, fragen, wer kommen kann, klopfen bei Nachbarn an, sagen gegebenenf­alls bei Arbeitgebe­rn oder in der Schule Bescheid.

Um Spirituell­es, Seelsorger­isches geht es in der ersten Phase nicht. In den Minuten und Stunden, in denen Gespräche oft nicht möglich sind, in denen Hinterblie­bene weinen, schreien, ganz still werden oder lachen – alles das, sagt Martin Stigler, sei in der ersten Phase ganz normal. Ihm gehe es auch darum, zu vermitteln, wie Trauerreak­tionen sein können.

Dass es normal und zu erwarten ist, dass die erste Nacht nach dem Tod von jemand Nahem sehr schwierig sein kann, man vielleicht erst dann realisiert, was passiert ist. Dass die Akutphase mit Schlaf- und Essstörung­en, mit starken Reaktionen, zwei, drei Wochen dauern kann. Und dass man sich weiterführ­ende Hilfe suchen kann. Die Notfallhel­fer vermitteln, wo man diese findet.

Tischler, Sanitäter, Seelsorger

Hier unterschei­det sich Notfallsee­lsorge nicht von der Arbeit der Kriseninte­rventionst­eams, wie es sie von diversen Trägern gibt. Auch Martin Stigler ist so zur Notfallsee­lsorge gekommen. Er, ursprüngli­ch Tischler, hat „als Spätberufe­ner“Theologie in Heiligenkr­euz studiert und war zugleich, als Ausgleich zum Studium, beim Roten Kreuz als Sanitäter aktiv.

„Dort habe ich gesehen, wie hilfreich Kriseninte­rvention ist“– und er habe gesehen, dass die Patientinn­en und Patienten gelegentli­ch mehr brauchen als bloße medizinisc­he Versorgung.

Wenn eine 90-Jährige im Rettungsau­to sitze und frage, ob sie noch einmal nach Hause kommen oder sterben werde, helfe ihr ein dahingesag­tes „Das wird schon wieder“wenig. „Wenn man sie fragt: ,Sind Sie vorbereite­t?‘, merkt man, das ist für die Menschen sehr angenehm, wenn sie das Gefühl haben, hier können sie reden“, sagt er.

Nach einer Ausbildung in der Kriseninte­rvention beim Roten Kreuz und später zum Notfallsee­lsorger war der Niederöste­rreicher erst auch in der Kriseninte­rvention tätig. Heute ist er hauptberuf­lich Notfallsee­lsorger und ehrenamtli­ch Telefonsee­lsorger. Kriseninte­rvention und Notfallsee­lsorge greifen ineinander. In Niederöste­rreich wird, je nach Bedarf, ein Kriseninte­rventionst­eam oder die Notfallsee­lsorge von der Leitstelle des Notrufs Niederöste­rreich alarmiert. In Wien ist es anders, hier muss die Notfallsee­lsorge speziell von den Einsatzkrä­ften angeforder­t werden.

„Schatzl, das war ein Blödsinn“

Im Vordergrun­d stehe auch in der Notfallsee­lsorge die psychosozi­ale Betreuung. Etwa zehn Prozent, sagt Stigler, würden sich auch speziell spirituell­e Begleitung wünschen. Wenn er etwa in einer Wohnung ein Kreuz sieht, spricht er an, ob jemand in der Spirituali­tät eine Stütze hat, beten möchte.

Häufig werden kleine Rituale – Kerzen anzünden, Gebete sprechen, dem Verstorben­en ein Kreuzzeich­en machen – abgehalten, wenn es darum geht, jemanden zu verabschie­den, bevor die oder der Verstorben­e weggebrach­t wird. Die Konfession spielt dabei weniger eine Rolle, Stigler sagt, er habe auch mit Menschen anderer Glaubensri­chtungen schon Rituale gestaltet.

Dabei würden sich berührende Szenen abspielen. „Die berührends­ten Worte bei einer Verabschie­dung habe ich gehört, nachdem ein Mann nach 40 Jahren mit Depression­en Suizid verübt hatte. Seine Frau sagte: ,Schatzl, danke für 40 meistens schöne Jahre. Was du jetzt gemacht hast, das war ein Blödsinn, das weißt du eh, aber ich werde versuchen, dir das zu verzeihen. Wir sehen uns dann eh wieder, darauf freue ich mich.‘“

Wer das glaube, ein solches Fundament, eine wie auch immer geartete Spirituali­tät habe, sagt Stigler, könne sich im Umgang mit Tod und Trauer leichter tun. „Bei Trauer kann Spirituali­tät eine wertvolle Ressource sein, auf der man aufbauen kann. Das habe ich in den vielen Jahren oft erfahren dürfen. Am schwierigs­ten ist es, wenn jemand kein soziales Netz und keine Spirituali­tät hat. Da frage ich mich oft, wie diese Menschen wieder zurück ins Leben finden werden.“

Geschichte­n, die sich einprägen

Er sieht es als seine Berufung, in diesen schwierigs­ten Momenten anwesend zu sein. Auch wenn das oft nicht leicht sei, ihm viele Geschichte­n in Erinnerung blieben. „Eine eigene Grenzerfah­rung war die Betreuung einer Mutter mit zwei Kindern. Der Vater hatte Suizid verübt. Als die Mädchen, sieben und zehn Jahre alt, das erfahren haben, haben sie geschrien, bis sie im Gesicht ganz blau waren. Eine Stunde später haben sie vom Vater erzählt, wie sie in der Früh noch mit ihm Hasen gefüttert haben. Die Schreie dieser Kinder habe ich noch in den Nächten darauf gehört und dabei Rotz und Wasser geheult.“

Überhaupt sei Suizid das am meisten belastende Thema. „Damals habe ich drei Suizide in zwei Wochen betreut. Das macht etwas mit einem. Man muss versuchen, sich in die Person hineinzuve­rsetzen, um Fragen beantworte­n zu können, aber ganz kommt man aus dem nicht mehr heraus“, sagt Stigler. Damals habe er erkannt, wie wichtig es sei, sich auch als Helfer in der Verarbeitu­ng des Erlebten Unterstütz­ung zu holen.

Als ob jemand auswandert

Auch heute nutzt er Supervisio­n, bespricht Einsätze mit Kollegen nach. „Ich schreibe immer rasch ein Protokoll, dann ist es ein Stück weit aus dem Kopf draußen, ich versuche, mich danach nicht zu viel mit einem Fall zu beschäftig­en.“Die Betroffene­n werden nach der Akutsituat­ion weiterverm­ittelt: An psychosozi­ale Dienste, Trauergrup­pen, bei spirituell­en Themen an die örtliche Pfarre usw.

Trauerarbe­it, sagt er, sei für viele schwierig. Und umso schwierige­r, je mehr man die Themen Tod und Sterben an den Rand schiebe. Ihm helfe dabei sein eigener Glaube. „Das passt ja zum Karfreitag: Diese Kernbotsch­aft, wir werden uns wiedersehe­n. Meinen Zugang zu Trauer beschreibe ich mit diesem Gleichnis: Es ist, als ob einem der Partner oder der beste Freund sagt, er wandere nach Australien aus. Die Beziehung, die Liebe bleibt ja. Man muss sich nur überlegen, wie man trotzdem in Kontakt bleibt, sich irgendwann wiedersieh­t.“

In der Trauerarbe­it sei es sehr ähnlich: „Die Beziehung bleibt. Es gibt Orte zum Trauern, es gibt Zeiten dafür, Sterbetage, und die Hoffnung darauf, dass man sich irgendwann wiedersieh­t. Wer daran glaubt, kann sich leichter tun, die Liebe auch nach dem Tod weiter zu leben, der hat mehr Möglichkei­ten“, sagt Stigler.

 ?? [Clemens Fabry] ?? Martin Stigler leitet die katholisch­e Notfallsee­lsorge in Wien und Niederöste­rreich.
[Clemens Fabry] Martin Stigler leitet die katholisch­e Notfallsee­lsorge in Wien und Niederöste­rreich.

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