In der Stunde des Todes, wo die Not am größten ist
Sie kommen nach unerwarteten Todesfällen, nach Unfällen, Suiziden oder überbringen Todesnachrichten. Martin Stigler über den Umgang mit Tod, Trauer – und was dabei hilft.
Martin Stigler geht dorthin, wo es fast nicht auszuhalten ist. Er und seine Kolleginnen und Kollegen kommen, wenn das passiert ist, was für Angehörige wohl oft der schlimmste Albtraum ist: Wenn jemand unerwartet, vielleicht nach erfolgloser Reanimation, zu Hause gestorben ist, nach einem tödlichen Unfall, einem Suizid, Gewaltverbrechen, wenn Kinder tot sind oder wenn die Todesnachricht zu überbringen ist.
Martin Stigler leitet das Team der katholischen Notfallseelsorge Wien und Niederösterreich – und damit ist er so etwas wie ein Ersthelfer für Angehörige, für Familien, aber auch für Einsatzkräfte nach einem Todesfall. Was machen Notfallseelsorger? „Das Wichtigste ist, dass jemand ganz für die Bedürfnisse der Betroffenen da ist. Wir kommen hin, stellen uns vor, ich versuche Floskeln zu vermeiden, sage zuerst ganz einfach: Wie geht es Ihrem Kreislauf?“, so Stigler.
Die Notfallhelfer vermitteln zwischen Angehörigen und Einsatzkräften, beantworten Fragen wie: Wohin kommt der Verstorbene jetzt? Wie geht es weiter? Und sie aktivieren das soziale Netzwerk der Betroffenen, rufen Angehörige an, fragen, wer kommen kann, klopfen bei Nachbarn an, sagen gegebenenfalls bei Arbeitgebern oder in der Schule Bescheid.
Um Spirituelles, Seelsorgerisches geht es in der ersten Phase nicht. In den Minuten und Stunden, in denen Gespräche oft nicht möglich sind, in denen Hinterbliebene weinen, schreien, ganz still werden oder lachen – alles das, sagt Martin Stigler, sei in der ersten Phase ganz normal. Ihm gehe es auch darum, zu vermitteln, wie Trauerreaktionen sein können.
Dass es normal und zu erwarten ist, dass die erste Nacht nach dem Tod von jemand Nahem sehr schwierig sein kann, man vielleicht erst dann realisiert, was passiert ist. Dass die Akutphase mit Schlaf- und Essstörungen, mit starken Reaktionen, zwei, drei Wochen dauern kann. Und dass man sich weiterführende Hilfe suchen kann. Die Notfallhelfer vermitteln, wo man diese findet.
Tischler, Sanitäter, Seelsorger
Hier unterscheidet sich Notfallseelsorge nicht von der Arbeit der Kriseninterventionsteams, wie es sie von diversen Trägern gibt. Auch Martin Stigler ist so zur Notfallseelsorge gekommen. Er, ursprünglich Tischler, hat „als Spätberufener“Theologie in Heiligenkreuz studiert und war zugleich, als Ausgleich zum Studium, beim Roten Kreuz als Sanitäter aktiv.
„Dort habe ich gesehen, wie hilfreich Krisenintervention ist“– und er habe gesehen, dass die Patientinnen und Patienten gelegentlich mehr brauchen als bloße medizinische Versorgung.
Wenn eine 90-Jährige im Rettungsauto sitze und frage, ob sie noch einmal nach Hause kommen oder sterben werde, helfe ihr ein dahingesagtes „Das wird schon wieder“wenig. „Wenn man sie fragt: ,Sind Sie vorbereitet?‘, merkt man, das ist für die Menschen sehr angenehm, wenn sie das Gefühl haben, hier können sie reden“, sagt er.
Nach einer Ausbildung in der Krisenintervention beim Roten Kreuz und später zum Notfallseelsorger war der Niederösterreicher erst auch in der Krisenintervention tätig. Heute ist er hauptberuflich Notfallseelsorger und ehrenamtlich Telefonseelsorger. Krisenintervention und Notfallseelsorge greifen ineinander. In Niederösterreich wird, je nach Bedarf, ein Kriseninterventionsteam oder die Notfallseelsorge von der Leitstelle des Notrufs Niederösterreich alarmiert. In Wien ist es anders, hier muss die Notfallseelsorge speziell von den Einsatzkräften angefordert werden.
„Schatzl, das war ein Blödsinn“
Im Vordergrund stehe auch in der Notfallseelsorge die psychosoziale Betreuung. Etwa zehn Prozent, sagt Stigler, würden sich auch speziell spirituelle Begleitung wünschen. Wenn er etwa in einer Wohnung ein Kreuz sieht, spricht er an, ob jemand in der Spiritualität eine Stütze hat, beten möchte.
Häufig werden kleine Rituale – Kerzen anzünden, Gebete sprechen, dem Verstorbenen ein Kreuzzeichen machen – abgehalten, wenn es darum geht, jemanden zu verabschieden, bevor die oder der Verstorbene weggebracht wird. Die Konfession spielt dabei weniger eine Rolle, Stigler sagt, er habe auch mit Menschen anderer Glaubensrichtungen schon Rituale gestaltet.
Dabei würden sich berührende Szenen abspielen. „Die berührendsten Worte bei einer Verabschiedung habe ich gehört, nachdem ein Mann nach 40 Jahren mit Depressionen Suizid verübt hatte. Seine Frau sagte: ,Schatzl, danke für 40 meistens schöne Jahre. Was du jetzt gemacht hast, das war ein Blödsinn, das weißt du eh, aber ich werde versuchen, dir das zu verzeihen. Wir sehen uns dann eh wieder, darauf freue ich mich.‘“
Wer das glaube, ein solches Fundament, eine wie auch immer geartete Spiritualität habe, sagt Stigler, könne sich im Umgang mit Tod und Trauer leichter tun. „Bei Trauer kann Spiritualität eine wertvolle Ressource sein, auf der man aufbauen kann. Das habe ich in den vielen Jahren oft erfahren dürfen. Am schwierigsten ist es, wenn jemand kein soziales Netz und keine Spiritualität hat. Da frage ich mich oft, wie diese Menschen wieder zurück ins Leben finden werden.“
Geschichten, die sich einprägen
Er sieht es als seine Berufung, in diesen schwierigsten Momenten anwesend zu sein. Auch wenn das oft nicht leicht sei, ihm viele Geschichten in Erinnerung blieben. „Eine eigene Grenzerfahrung war die Betreuung einer Mutter mit zwei Kindern. Der Vater hatte Suizid verübt. Als die Mädchen, sieben und zehn Jahre alt, das erfahren haben, haben sie geschrien, bis sie im Gesicht ganz blau waren. Eine Stunde später haben sie vom Vater erzählt, wie sie in der Früh noch mit ihm Hasen gefüttert haben. Die Schreie dieser Kinder habe ich noch in den Nächten darauf gehört und dabei Rotz und Wasser geheult.“
Überhaupt sei Suizid das am meisten belastende Thema. „Damals habe ich drei Suizide in zwei Wochen betreut. Das macht etwas mit einem. Man muss versuchen, sich in die Person hineinzuversetzen, um Fragen beantworten zu können, aber ganz kommt man aus dem nicht mehr heraus“, sagt Stigler. Damals habe er erkannt, wie wichtig es sei, sich auch als Helfer in der Verarbeitung des Erlebten Unterstützung zu holen.
Als ob jemand auswandert
Auch heute nutzt er Supervision, bespricht Einsätze mit Kollegen nach. „Ich schreibe immer rasch ein Protokoll, dann ist es ein Stück weit aus dem Kopf draußen, ich versuche, mich danach nicht zu viel mit einem Fall zu beschäftigen.“Die Betroffenen werden nach der Akutsituation weitervermittelt: An psychosoziale Dienste, Trauergruppen, bei spirituellen Themen an die örtliche Pfarre usw.
Trauerarbeit, sagt er, sei für viele schwierig. Und umso schwieriger, je mehr man die Themen Tod und Sterben an den Rand schiebe. Ihm helfe dabei sein eigener Glaube. „Das passt ja zum Karfreitag: Diese Kernbotschaft, wir werden uns wiedersehen. Meinen Zugang zu Trauer beschreibe ich mit diesem Gleichnis: Es ist, als ob einem der Partner oder der beste Freund sagt, er wandere nach Australien aus. Die Beziehung, die Liebe bleibt ja. Man muss sich nur überlegen, wie man trotzdem in Kontakt bleibt, sich irgendwann wiedersieht.“
In der Trauerarbeit sei es sehr ähnlich: „Die Beziehung bleibt. Es gibt Orte zum Trauern, es gibt Zeiten dafür, Sterbetage, und die Hoffnung darauf, dass man sich irgendwann wiedersieht. Wer daran glaubt, kann sich leichter tun, die Liebe auch nach dem Tod weiter zu leben, der hat mehr Möglichkeiten“, sagt Stigler.