Die Welt ist besser und gerechter, als wir glauben
Kapitalismus und Marktwirtschaft sind das effizienteste Armutsbekämpfungsprogramm der Menschheitsgeschichte. Man sollte das jetzt nicht allzu leichtfertig infrage stellen.
Die folgenden Aussagen sind im Augenblick wohl mehrheitsfähig: Die Ungleichheit in der Welt steigt. Die Armen werden ärmer, die Reichen reicher. Schuld daran ist das dominierende Wirtschaftssystem des Kapitalismus. Um die Welt gerechter zu machen, müssen wir den Kapitalismus überwinden und zu einem neuen System des Wirtschaftens finden. Das ist ganz nebenbei auch Voraussetzung für wirksamen Klimaschutz, weil dieser nur mit Degrowth funktioniert, der Kapitalismus aber Wachstum braucht.
Klingt für viele plausibel, hat aber einen Nachteil: Es stimmt so einfach nicht. Dafür können wir vier US-Wissenschaftler und den linken deutschen Ökonomen Marcel Fratzscher, den Chef des Wirtschaftsforschungsinstituts DIW, als Zeugen aufrufen. Erstere haben vor Kurzem über das amerikanische National Bureau for Economic Research ein Working Paper veröffentlicht („Inequality within Countries Is Falling: Underreporting-Robust Estimates of World Poverty, Inequality and the Global Distribution of Income“), das anhand von neueren Berechnungen nachweist, dass die Einkommensungleichheit global seit Längerem sinkt. Und zwar deutlich schneller, als dies Weltbank-Daten bisher vermuten ließen.
Letzterer hat neulich in seinem auf der DIW-Website veröffentlichten Blog ein Loblied auf den Kapitalismus gesungen. Mit dem Schlusssatz: „Kapitalismus und Demokratie sind daher die besten Voraussetzungen für die Lösung unserer Polykrisen. Ziel muss sein, beide wieder zum Funktionieren zu bringen.“
Das klingt ja gut. An der These, dass der Kapitalismus samt Globalisierung das größte Armutsbekämpfungsprogramm der Menschheitsgeschichte darstellt, ist also doch etwas dran. Laut Weltbank lebten 1990 zwei Milliarden Menschen in absoluter Armut, 2019 waren es weniger als 700 Millionen. Durch die Covidpandemie gab es einen kleinen Rückschlag, der aber fast schon wieder aufgeholt ist. Die Weltbank definiert absolute Armut mit einem Einkommen (auf heutiger Preisbasis, der Wert wird inflationsangepasst) von weniger als 2,15 Dollar pro Tag. Die drastische Verbesserung ist überwiegend dem Aufschwung in Indien und China zu verdanken.
Allerdings gibt es auch noch höhere absolute Armutsschwellen für Schwellenländer mit einem Pro-Kopf-BIP von 1000 bis 4000 Dollar, bei dem man mit weniger als 3,65 Dollar als arm gilt, und für höher entwickelte Schwellenländer mit Pro-Kopf-BIPs bis 13.000 Dollar. Hier beträgt die Armutsschwelle laut Weltbank 6,85 Dollar pro Tag.
Auch in diesen Kategorien hat sich die Situation deutlich verbessert. Legt man die oberste Kategorie an, dann ist die globale Zahl der Armen laut Weltbank von sehr hohen Werten auf 50 Prozent zurückgegangen. Laut den neuen Berechnungen der US-Wissenschaftler sogar auf 30 Prozent.
Das sagt allerdings noch nichts über die Ungleichverteilung der Einkommen aus. Diese haben die US-Wissenschaftler am Anteil der obersten zehn Prozent der Einkommensbezieher an den Gesamteinkommen festgemacht, und zwar für sieben einwohnerstarke Staaten (China, Indien, Indonesien, Pakistan, Brasilien, Nigeria, USA). Und siehe da: Die obersten zehn Prozent haben ihren Anteil an den Gesamteinkünften von 1990 bis 2007 tatsächlich vergrößert, die Einkommensungleichheit ist also gestiegen. Aber seit 2007 geht dieser Anteil kontinuierlich zurück, was sich auch in deutlich sinkenden GiniKoeffizienten (das ist ein Maß für die Ungleichheit) ausdrückt. Einzige Ausnahme: China, wo der Anteil am Kuchen, den die obersten zehn Prozent für sich beanspruchen, noch immer wächst, wenn auch nicht mehr schnell.
Die vier US-Wissenschaftler schließen ihr Working Paper mit den Worten: „Die Welt ist ein weniger armer und weniger ungleicher Platz, als wir dachten.“
Das heißt allerdings nicht, dass es überall aufwärts geht. Bürgerkriegsgeplagte oder in andere bewaffnete Konflikte verwickelte Länder sind von diesem Prozess ebenso ausgeschlossen wie jene, die sich dem Welthandel nicht geöffnet haben. Und selbstverständlich können in der Ersten Welt, wo Armut
nicht in absoluten Grenzen, sondern relativ zum Medianeinkommen gemessen wird, andere Eindrücke entstehen. Und: Die Werte beziehen sich auf die Ungleichverteilung der Einkommen, nicht die der Vermögen. Aber alles in allem hat die Welt in den vergangenen dreißig Jahren eine Verringerung der globalen Armut gesehen, wie sie in der Geschichte kein Beispiel hat.
Das sieht offenbar auch der eher linke Wirtschaftswissenschaftler Fratzscher so. Er schreibt: „Kapitalismus und Marktwirtschaft sind ein wichtiger Teil der Erklärung für den wirtschaftlichen Fortschritt in vielen Ländern.“Allein China habe eine Milliarde Menschen durch den Wechsel von Plan- auf Marktwirtschaft nach Maos Tod aus der Armut geholt. „Kapitalismus setzt sich überall auf der Welt durch“, meint der Wirtschaftsforscher. Und: Dort, wo er es nicht tue – in Kuba etwa oder in Nordkorea –, sei der wirtschaftliche Wohlstand gering.
Dem ist wenig hinzuzufügen. Außer natürlich, dass dieses Wirtschaftssystem durchaus auch Schwachpunkte besitzt. Die etwa im Internet besonders schön zu beobachtende Tendenz zur Monopolbildung etwa, die letztendlich die Marktwirtschaft oder andere Formen von Marktversagen, die immer wieder beobachtet werden und dem Wirtschaftssystem schaden, ausschaltet. Das sind Dinge, die behoben werden müssen. Dieses Wirtschaftssystem braucht Leitplanken und ständiges „Service“, damit es richtig funktioniert. Aber es gibt im Augenblick kein besseres.
Das könnte man jetzt vor allem jenen ins Stammbuch schreiben, die meinen, Klimaschutz sei nur mit einem Systemwechsel zu schaffen. Da wäre vielleicht einmal ein bisschen Nachdenken nicht die schlechteste Idee. Es ist kein Zufall, dass so gut wie alle technischen Innovationen gegen Klimawandel und so gut wie alle bisher erfolgreich eingesetzten Dekarbonisierungsstrategien ihren Ursprung in kapitalistisch organisierten Ländern (ja, auch China ist ein solches) haben. Das einzige System in der Menschheitsgeschichte, das Massenwohlstand generiert, sollte man nicht so leichtfertig infrage stellen.