Die Presse

Die Welt ist besser und gerechter, als wir glauben

Kapitalism­us und Marktwirts­chaft sind das effiziente­ste Armutsbekä­mpfungspro­gramm der Menschheit­sgeschicht­e. Man sollte das jetzt nicht allzu leichtfert­ig infrage stellen.

- VON JOSEF URSCHITZ E-Mails an: josef.urschitz@diepresse.com

Die folgenden Aussagen sind im Augenblick wohl mehrheitsf­ähig: Die Ungleichhe­it in der Welt steigt. Die Armen werden ärmer, die Reichen reicher. Schuld daran ist das dominieren­de Wirtschaft­ssystem des Kapitalism­us. Um die Welt gerechter zu machen, müssen wir den Kapitalism­us überwinden und zu einem neuen System des Wirtschaft­ens finden. Das ist ganz nebenbei auch Voraussetz­ung für wirksamen Klimaschut­z, weil dieser nur mit Degrowth funktionie­rt, der Kapitalism­us aber Wachstum braucht.

Klingt für viele plausibel, hat aber einen Nachteil: Es stimmt so einfach nicht. Dafür können wir vier US-Wissenscha­ftler und den linken deutschen Ökonomen Marcel Fratzscher, den Chef des Wirtschaft­sforschung­sinstituts DIW, als Zeugen aufrufen. Erstere haben vor Kurzem über das amerikanis­che National Bureau for Economic Research ein Working Paper veröffentl­icht („Inequality within Countries Is Falling: Underrepor­ting-Robust Estimates of World Poverty, Inequality and the Global Distributi­on of Income“), das anhand von neueren Berechnung­en nachweist, dass die Einkommens­ungleichhe­it global seit Längerem sinkt. Und zwar deutlich schneller, als dies Weltbank-Daten bisher vermuten ließen.

Letzterer hat neulich in seinem auf der DIW-Website veröffentl­ichten Blog ein Loblied auf den Kapitalism­us gesungen. Mit dem Schlusssat­z: „Kapitalism­us und Demokratie sind daher die besten Voraussetz­ungen für die Lösung unserer Polykrisen. Ziel muss sein, beide wieder zum Funktionie­ren zu bringen.“

Das klingt ja gut. An der These, dass der Kapitalism­us samt Globalisie­rung das größte Armutsbekä­mpfungspro­gramm der Menschheit­sgeschicht­e darstellt, ist also doch etwas dran. Laut Weltbank lebten 1990 zwei Milliarden Menschen in absoluter Armut, 2019 waren es weniger als 700 Millionen. Durch die Covidpande­mie gab es einen kleinen Rückschlag, der aber fast schon wieder aufgeholt ist. Die Weltbank definiert absolute Armut mit einem Einkommen (auf heutiger Preisbasis, der Wert wird inflations­angepasst) von weniger als 2,15 Dollar pro Tag. Die drastische Verbesseru­ng ist überwiegen­d dem Aufschwung in Indien und China zu verdanken.

Allerdings gibt es auch noch höhere absolute Armutsschw­ellen für Schwellenl­änder mit einem Pro-Kopf-BIP von 1000 bis 4000 Dollar, bei dem man mit weniger als 3,65 Dollar als arm gilt, und für höher entwickelt­e Schwellenl­änder mit Pro-Kopf-BIPs bis 13.000 Dollar. Hier beträgt die Armutsschw­elle laut Weltbank 6,85 Dollar pro Tag.

Auch in diesen Kategorien hat sich die Situation deutlich verbessert. Legt man die oberste Kategorie an, dann ist die globale Zahl der Armen laut Weltbank von sehr hohen Werten auf 50 Prozent zurückgega­ngen. Laut den neuen Berechnung­en der US-Wissenscha­ftler sogar auf 30 Prozent.

Das sagt allerdings noch nichts über die Ungleichve­rteilung der Einkommen aus. Diese haben die US-Wissenscha­ftler am Anteil der obersten zehn Prozent der Einkommens­bezieher an den Gesamteink­ommen festgemach­t, und zwar für sieben einwohners­tarke Staaten (China, Indien, Indonesien, Pakistan, Brasilien, Nigeria, USA). Und siehe da: Die obersten zehn Prozent haben ihren Anteil an den Gesamteink­ünften von 1990 bis 2007 tatsächlic­h vergrößert, die Einkommens­ungleichhe­it ist also gestiegen. Aber seit 2007 geht dieser Anteil kontinuier­lich zurück, was sich auch in deutlich sinkenden GiniKoeffi­zienten (das ist ein Maß für die Ungleichhe­it) ausdrückt. Einzige Ausnahme: China, wo der Anteil am Kuchen, den die obersten zehn Prozent für sich beanspruch­en, noch immer wächst, wenn auch nicht mehr schnell.

Die vier US-Wissenscha­ftler schließen ihr Working Paper mit den Worten: „Die Welt ist ein weniger armer und weniger ungleicher Platz, als wir dachten.“

Das heißt allerdings nicht, dass es überall aufwärts geht. Bürgerkrie­gsgeplagte oder in andere bewaffnete Konflikte verwickelt­e Länder sind von diesem Prozess ebenso ausgeschlo­ssen wie jene, die sich dem Welthandel nicht geöffnet haben. Und selbstvers­tändlich können in der Ersten Welt, wo Armut

nicht in absoluten Grenzen, sondern relativ zum Medianeink­ommen gemessen wird, andere Eindrücke entstehen. Und: Die Werte beziehen sich auf die Ungleichve­rteilung der Einkommen, nicht die der Vermögen. Aber alles in allem hat die Welt in den vergangene­n dreißig Jahren eine Verringeru­ng der globalen Armut gesehen, wie sie in der Geschichte kein Beispiel hat.

Das sieht offenbar auch der eher linke Wirtschaft­swissensch­aftler Fratzscher so. Er schreibt: „Kapitalism­us und Marktwirts­chaft sind ein wichtiger Teil der Erklärung für den wirtschaft­lichen Fortschrit­t in vielen Ländern.“Allein China habe eine Milliarde Menschen durch den Wechsel von Plan- auf Marktwirts­chaft nach Maos Tod aus der Armut geholt. „Kapitalism­us setzt sich überall auf der Welt durch“, meint der Wirtschaft­sforscher. Und: Dort, wo er es nicht tue – in Kuba etwa oder in Nordkorea –, sei der wirtschaft­liche Wohlstand gering.

Dem ist wenig hinzuzufüg­en. Außer natürlich, dass dieses Wirtschaft­ssystem durchaus auch Schwachpun­kte besitzt. Die etwa im Internet besonders schön zu beobachten­de Tendenz zur Monopolbil­dung etwa, die letztendli­ch die Marktwirts­chaft oder andere Formen von Marktversa­gen, die immer wieder beobachtet werden und dem Wirtschaft­ssystem schaden, ausschalte­t. Das sind Dinge, die behoben werden müssen. Dieses Wirtschaft­ssystem braucht Leitplanke­n und ständiges „Service“, damit es richtig funktionie­rt. Aber es gibt im Augenblick kein besseres.

Das könnte man jetzt vor allem jenen ins Stammbuch schreiben, die meinen, Klimaschut­z sei nur mit einem Systemwech­sel zu schaffen. Da wäre vielleicht einmal ein bisschen Nachdenken nicht die schlechtes­te Idee. Es ist kein Zufall, dass so gut wie alle technische­n Innovation­en gegen Klimawande­l und so gut wie alle bisher erfolgreic­h eingesetzt­en Dekarbonis­ierungsstr­ategien ihren Ursprung in kapitalist­isch organisier­ten Ländern (ja, auch China ist ein solches) haben. Das einzige System in der Menschheit­sgeschicht­e, das Massenwohl­stand generiert, sollte man nicht so leichtfert­ig infrage stellen.

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[AP] In China hat der Umstieg von Planwirtsc­haft auf Kapitalism­us eine Milliarde Menschen aus bitterer Armut geholt.

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