Die Presse

Wo Pilger in irdische Paradiese gelangten

Was Reisende in Jerusalem, Rom oder Indien an Mühsal und Freuden erlebten, erzählt der Historiker Anthony Bale in einem wunderbare­n Buch.

- VON KARL GAULHOFER

Endlich am Ziel – und nicht mehr seekrank! Wenn Pilger im späten Mittelalte­r nach rund 50 Tagen auf einer Galeere das Heilige Land erspähten, stimmten sie einen Jubelchora­l an. Aber was sie ab Jaffa erwartete, musste die Hochstimmu­ng trüben: Die Burgen der Kreuzritte­r lagen in Trümmern, Banditen lauerten an schlechten Straßen. Die Reisenden fühlten sich schutzlos, was die Einheimisc­hen schamlos monetarisi­erten, mit Gebühren für sichere Durchreise und beaufsicht­igtes Gepäck. Vor den Toren Jerusalems wurden verzückte Christen von muslimisch­en Buben verspottet und mit Steinen beworfen. Dabei lebte die Stadt vom Pilgertour­ismus: „Es gab keinen einzigen Menschen, der nicht vom Tod Christi profitiert­e“, schreibt Anthony Bale in seinem wunderbare­n Buch „Reisen im Mittelalte­r“, das soeben auf Deutsch erschienen ist.

Grabeskirc­he, Via Dolorosa, Ölberg – das waren die Top-Sehenswürd­igkeiten der Frommen. Aber der Tempelberg war ihnen verwehrt. Das Hospiz, wo Hunderte in einer Halle auf dem Boden schliefen, war alles andere als ein Luxushotel – laut, schmutzig, stinkend. Und dass nebenan Derwische aus einer Sekte von Sufi-Mystikern logierten, machte den Pilgern endgültig klar, dass nicht nur ihnen dieser harte Boden heilig war.

Scherereie­n fürs Seelenheil

Der englische Mediävist Bale betont, nach langen Recherchen vor Ort und in Klosterbib­liotheken: Es waren alles andere als Vergnügung­sreisen, auf die sich die Abendlände­r dieser Epoche machten, auch wenn es sie nur nach Aachen, Santiago oder Rom zog. Es ging, zumindest offiziell, um Seelenheil und Reinwaschu­ng von Sünden (ein Reiseführe­r enthielt exakte Angaben, wie viele tausend Jahre Ablass vom Fegefeuer welche römische Kirche an welchem Feiertag ermöglicht). Wer im Heiligen Land verstarb, durfte sich sogar einen direkten Platz im Himmel erhoffen. Dafür nahm man viel in Kauf, wie ein Florentine­r 1384 resümierte: Wer „Entbehrung­en, Scherereie­n und Strapazen“nicht auf sich nehmen will, „sollte nicht reisen.“Und doch: Auf dem Weg lagen Wunder, die daheim verwehrte Lust – und die Chance auf Selbstermä­chtigung: Eine Reise nach Jerusalem war vielerorts die einzige, für die eine Frau nicht die Erlaubnis ihres Mannes einholen musste.

Die obligate Etappe Venedig war die erste Stadt, die echten Fremdenver­kehr erlebte. Führer rissen sich um ihre Kundschaft – viele Betrüger und Abzocker darunter, deshalb nur die lizenziert­en nehmen, vor dem Dogenpalas­t und am Rialto! Im Nahen Osten winkte dann Wellness: Im als „außerorden­tlich hübsch“beschriebe­nen Gaza (ausgerechn­et!) genoss ein Zürcher Reiseschri­ftsteller ein heißes Bad in einem marmornen Hamam, wo ihn ein Bademeiste­r „sehr freundlich und zuvorkomme­nd“abrieb. Wer ins Nildelta weiterreis­te, machte sich endgültig zum Touristen. Aber jede Attraktion behielt ein biblisches Etikett: In den Quellen eines paradiesis­chen Parks (zwei venezianis­che Grossi Eintritt) soll Maria auf der Flucht die Kleider des kleinen Jesus gewaschen haben, und die Pyramiden galten als Kornspeich­er, die der alttestame­ntarische Josef für die sieben mageren Jahre hatte errichten lassen.

Trügerisch­es Schlaraffe­nland?

Reiche Kaufleute genossen derweil in Gartenlaub­en bei Kairo Bankette und orgiastisc­he Partys – ein trügerisch­es Schlaraffe­nland, wie ein flämischer Pilger meinte. Andere waren da offener, worauf Redewendun­gen für Reisende in Handbücher­n hindeuten: „Mann, hast du guten Wein?“auf Griechisch oder „Frau, kann ich mit dir schlafen?“auf Arabisch. Die Ratgeber machen auch klar, warum auf berauschen­de Getränke kaum zu verzichten ist: Wasser sollte „auf keinen Fall getrunken werden, denn es verursacht Fieber, Abszesse und Verstopfun­g“. Wer als Mann zu viel Alkohol erwischt, sollte „seine Hoden mit Salz und Essig waschen“, Frauen hingegen „Kohl mit Zucker essen“.

Wie stark sich spirituell­e und weltliche Freuden auf Wallfahrte­n vermischte­n, wissen wir von Chaucer – die Abbildunge­n stammen aus einer Ausgabe seiner „Canterbury Tales“. Dennoch verblüfft, dass für das Konzil von Konstanz, also einen katholisch­en Kongress, auch 700 Prostituie­rte in die Stadt zogen. Immerhin: Der Zutritt zu Bordellen war nur weltlichen Junggesell­en erlaubt.

Verkehrte Welt: Da wirken die profitorie­ntierten Geschäftsr­eisenden auf der Seidenstra­ße seriöser. In ihren Handbücher­n geht es nüchtern um Währungsum­rechnung, Transitzöl­le und darum, wie Gewürzhänd­ler einen übers Ohr hauen wollen. In den Karawanser­eien mussten freilich auch Kaufleute essen und trinken. Ein Venezianer beklagte sich über gesalzene Schafschwä­nze, ranziges Pferdeflei­sch und stinkende Stutenmilc­h. Aber am Ende des Weges belohnte die Pracht der chinesisch­en Kaiserpalä­ste, von denen nicht nur Marco Polo schwärmte.

Demokratie und Vielmänner­ei

Noch farbenfroh­er fallen die Beschreibu­ngen von Indien aus. Dorthin verschlug es auch einen russischen Kaufmann, der als einer der ersten Aussteiger gelten kann. Zuerst entrüstete er sich noch über halb nackte Frauen und lockere Sitten, dann assimilier­te er sich und blieb, bis knapp vor seinem Tod. Auch andere Indien-Reisende fühlten ihre Wertvorste­llungen herausgefo­rdert: von Wahlkönigr­eichen auf demokratis­cher Basis oder Frauen an der Malabar-Küste, die sich acht Ehemänner hielten. Auf den muslimisch­en Malediven scheiterte ein zum Richter avancierte­r Reisender aus Marokko daran, die regierende Sultanin und alle anderen Frauen zum Tragen von Schleiern zu bewegen.

So zeichnet Bale ein anrührende­s Bild einer Zeit, in der Europäer fremde Kulturen noch selten unterjocht­en, sich ihnen öfter neugierig näherten. Und ein Reiseführe­r mit dem Satz endete: „Je weiter du kommst, desto mehr wirst du erleben und verstehen.“

„Reisen im Mittelalte­r“von Anthony Bale, Verlag S. Fischer, 480 Seiten, 28 Euro.

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