Wo Pilger in irdische Paradiese gelangten
Was Reisende in Jerusalem, Rom oder Indien an Mühsal und Freuden erlebten, erzählt der Historiker Anthony Bale in einem wunderbaren Buch.
Endlich am Ziel – und nicht mehr seekrank! Wenn Pilger im späten Mittelalter nach rund 50 Tagen auf einer Galeere das Heilige Land erspähten, stimmten sie einen Jubelchoral an. Aber was sie ab Jaffa erwartete, musste die Hochstimmung trüben: Die Burgen der Kreuzritter lagen in Trümmern, Banditen lauerten an schlechten Straßen. Die Reisenden fühlten sich schutzlos, was die Einheimischen schamlos monetarisierten, mit Gebühren für sichere Durchreise und beaufsichtigtes Gepäck. Vor den Toren Jerusalems wurden verzückte Christen von muslimischen Buben verspottet und mit Steinen beworfen. Dabei lebte die Stadt vom Pilgertourismus: „Es gab keinen einzigen Menschen, der nicht vom Tod Christi profitierte“, schreibt Anthony Bale in seinem wunderbaren Buch „Reisen im Mittelalter“, das soeben auf Deutsch erschienen ist.
Grabeskirche, Via Dolorosa, Ölberg – das waren die Top-Sehenswürdigkeiten der Frommen. Aber der Tempelberg war ihnen verwehrt. Das Hospiz, wo Hunderte in einer Halle auf dem Boden schliefen, war alles andere als ein Luxushotel – laut, schmutzig, stinkend. Und dass nebenan Derwische aus einer Sekte von Sufi-Mystikern logierten, machte den Pilgern endgültig klar, dass nicht nur ihnen dieser harte Boden heilig war.
Scherereien fürs Seelenheil
Der englische Mediävist Bale betont, nach langen Recherchen vor Ort und in Klosterbibliotheken: Es waren alles andere als Vergnügungsreisen, auf die sich die Abendländer dieser Epoche machten, auch wenn es sie nur nach Aachen, Santiago oder Rom zog. Es ging, zumindest offiziell, um Seelenheil und Reinwaschung von Sünden (ein Reiseführer enthielt exakte Angaben, wie viele tausend Jahre Ablass vom Fegefeuer welche römische Kirche an welchem Feiertag ermöglicht). Wer im Heiligen Land verstarb, durfte sich sogar einen direkten Platz im Himmel erhoffen. Dafür nahm man viel in Kauf, wie ein Florentiner 1384 resümierte: Wer „Entbehrungen, Scherereien und Strapazen“nicht auf sich nehmen will, „sollte nicht reisen.“Und doch: Auf dem Weg lagen Wunder, die daheim verwehrte Lust – und die Chance auf Selbstermächtigung: Eine Reise nach Jerusalem war vielerorts die einzige, für die eine Frau nicht die Erlaubnis ihres Mannes einholen musste.
Die obligate Etappe Venedig war die erste Stadt, die echten Fremdenverkehr erlebte. Führer rissen sich um ihre Kundschaft – viele Betrüger und Abzocker darunter, deshalb nur die lizenzierten nehmen, vor dem Dogenpalast und am Rialto! Im Nahen Osten winkte dann Wellness: Im als „außerordentlich hübsch“beschriebenen Gaza (ausgerechnet!) genoss ein Zürcher Reiseschriftsteller ein heißes Bad in einem marmornen Hamam, wo ihn ein Bademeister „sehr freundlich und zuvorkommend“abrieb. Wer ins Nildelta weiterreiste, machte sich endgültig zum Touristen. Aber jede Attraktion behielt ein biblisches Etikett: In den Quellen eines paradiesischen Parks (zwei venezianische Grossi Eintritt) soll Maria auf der Flucht die Kleider des kleinen Jesus gewaschen haben, und die Pyramiden galten als Kornspeicher, die der alttestamentarische Josef für die sieben mageren Jahre hatte errichten lassen.
Trügerisches Schlaraffenland?
Reiche Kaufleute genossen derweil in Gartenlauben bei Kairo Bankette und orgiastische Partys – ein trügerisches Schlaraffenland, wie ein flämischer Pilger meinte. Andere waren da offener, worauf Redewendungen für Reisende in Handbüchern hindeuten: „Mann, hast du guten Wein?“auf Griechisch oder „Frau, kann ich mit dir schlafen?“auf Arabisch. Die Ratgeber machen auch klar, warum auf berauschende Getränke kaum zu verzichten ist: Wasser sollte „auf keinen Fall getrunken werden, denn es verursacht Fieber, Abszesse und Verstopfung“. Wer als Mann zu viel Alkohol erwischt, sollte „seine Hoden mit Salz und Essig waschen“, Frauen hingegen „Kohl mit Zucker essen“.
Wie stark sich spirituelle und weltliche Freuden auf Wallfahrten vermischten, wissen wir von Chaucer – die Abbildungen stammen aus einer Ausgabe seiner „Canterbury Tales“. Dennoch verblüfft, dass für das Konzil von Konstanz, also einen katholischen Kongress, auch 700 Prostituierte in die Stadt zogen. Immerhin: Der Zutritt zu Bordellen war nur weltlichen Junggesellen erlaubt.
Verkehrte Welt: Da wirken die profitorientierten Geschäftsreisenden auf der Seidenstraße seriöser. In ihren Handbüchern geht es nüchtern um Währungsumrechnung, Transitzölle und darum, wie Gewürzhändler einen übers Ohr hauen wollen. In den Karawansereien mussten freilich auch Kaufleute essen und trinken. Ein Venezianer beklagte sich über gesalzene Schafschwänze, ranziges Pferdefleisch und stinkende Stutenmilch. Aber am Ende des Weges belohnte die Pracht der chinesischen Kaiserpaläste, von denen nicht nur Marco Polo schwärmte.
Demokratie und Vielmännerei
Noch farbenfroher fallen die Beschreibungen von Indien aus. Dorthin verschlug es auch einen russischen Kaufmann, der als einer der ersten Aussteiger gelten kann. Zuerst entrüstete er sich noch über halb nackte Frauen und lockere Sitten, dann assimilierte er sich und blieb, bis knapp vor seinem Tod. Auch andere Indien-Reisende fühlten ihre Wertvorstellungen herausgefordert: von Wahlkönigreichen auf demokratischer Basis oder Frauen an der Malabar-Küste, die sich acht Ehemänner hielten. Auf den muslimischen Malediven scheiterte ein zum Richter avancierter Reisender aus Marokko daran, die regierende Sultanin und alle anderen Frauen zum Tragen von Schleiern zu bewegen.
So zeichnet Bale ein anrührendes Bild einer Zeit, in der Europäer fremde Kulturen noch selten unterjochten, sich ihnen öfter neugierig näherten. Und ein Reiseführer mit dem Satz endete: „Je weiter du kommst, desto mehr wirst du erleben und verstehen.“
„Reisen im Mittelalter“von Anthony Bale, Verlag S. Fischer, 480 Seiten, 28 Euro.