Ein mutiger Literat, den wir verdrängt haben
Am Karfreitag wäre Gerhard Fritsch 100 Jahre alt geworden. Erinnerungen an einen Wiener Avantgardedichter, dessen zweieinhalb Romane zu den Schlüsselwerken der heimischen Literatur zählen.
Den Krieg hatte er als Soldat noch erlebt, die Wendehälse seiner und der Elterngeneration beäugte er kritisch, Schriftstellerkollegen half er als Verlagsmitarbeiter und Rezensent. Sein Erstlingsroman, „Moos auf den Steinen“, galt als Nachhall österreichischer Erinnerungsliteratur, deren „Vergänglichkeitsmelancholie“(Otto Breicha) an Joseph Roth gemahnte. Die Zwischentöne, in denen Verwundungen der jüngsten Vergangenheit zu spüren waren, überlas man geflissentlich. Gerhard Fritschs raffinierte erzählerische Überblendungsstruktur machte das möglich.
Doch Fritsch wollte es sich nicht in jener Schublade bequem machen. Immerhin durfte er noch erleben, dass sein Buch Filmregisseur Georg Lhotsky zu einer Initialzündung für eine Art österreichischer Nouvelle Vague inspirierte (mit Kinodebütantin Erika Pluhar). Wendelin Schmidt-Dengler, der profunde Kenner der österreichischen Literatur der Nachkriegszeit, konstatierte, die Schriftstellerei hätte sich damals aufgelehnt gegen die „Gestaltung von Wirklichkeit durch eine ungebrochene, für sich bestehende, erzählerische Ordnung“.
Jedenfalls mussten Geschichten nicht unbedingt an einem bestimmten Punkt anfangen und an einem ebenso bestimmten Punkt wieder aufhören. Fritschs „Katzenmusik“blieb unvollendet – und fängt dafür gleich mehrmals an. Sobald der Leser das entdeckt, ist es zu spät. Da ist er schon mitverantwortlich wie der Autor selbst, der nicht nur überlegt, wie etwas gesagt werden kann, sondern auch was, und angesichts wechselnder Perspektiven auch: in welcher Reihenfolge.
Neue Literatur, schwerhörige Kritik
Rückwirkend betrachtet, war Fritschs Erzählstrang bereits 1956 in „Moos auf den Steinen“mehrdimensional. In seinem Roman „Fasching“redet der Autor dann wirklich von allen Seiten her auf den Leser ein. Wer dem kontrapunktische Qualität abgewinnt, erfasst vielleicht den Fluss der Erzählung, eine „Melodie“im Sinne jener Gedichtzeile aus „Katzenmusik“, in der es heißt: „Wer die Musik nicht hört, hält die Tanzenden für wahnsinnig.“In diesem Sinn hat sich die Kritik einst an „Fasching“, Gerhard Fritschs zweitem Roman, als schwerhörig erwiesen. Man suchte darin nach eindeutigen Botschaften – und fand sie, etwa so: An einem Deserteur, der in Frauenkleidern überlebt hat, rächen sich die „gewendeten“ehemaligen Nationalsozialisten, indem sie ihn zur Faschingsprinzessin wählen. Vor dem aufgeputschten Mob, der drauf und dran ist, ihn zu lynchen, flüchtet sich das Opfer erneut in jenes dunkle Loch, in dem er schon anno 1945 versteckt war. Die Sprache zerbricht zuletzt vielleicht auch deshalb, weil der Mangel an Atemluft nur noch Gestammel, abgehackte Wortkonglomerate zulässt.
Aber diese Deutung greift zu kurz wie jede einseitige Zuschreibung. Fritsch wechselt oft innerhalb des Absatzes, ja innerhalb eines Satzes die Perspektive. Der Leser gewinnt erst nach und nach die Übersicht. Während sich Sprache und Erzählmethode zersetzen, muss er dem Form geben, was scheinbar disparat nebeneinander steht.
Immer neue Form, dem jeweiligen Leser gemäß. Und seiner Zeit. Wer sind die Wendehälse, die Deserteure, und in welchem Kampf, wenn Klimaschützer dazu aufrufen, die Wälder zuzubetonieren, um sogenannte Windparks zu errichten? Oder, brisanter, wenn ehemals Friedensbewegte plötzlich überzeugt zu den Waffen rufen?
Fritschs Fasching der Wahrheiten kennt keinen Aschermittwoch. An die Reinigung durch eine Fastenzeit, an die Möglichkeit des Osterwunders wollte der Dichter wohl nicht glauben. Er ist vielleicht auch daran zerbrochen. Kurz vor seinem 45. Geburtstag nahm er sich das Leben.