Die Presse

Ein mutiger Literat, den wir verdrängt haben

Am Karfreitag wäre Gerhard Fritsch 100 Jahre alt geworden. Erinnerung­en an einen Wiener Avantgarde­dichter, dessen zweieinhal­b Romane zu den Schlüsselw­erken der heimischen Literatur zählen.

- VON WILHELM SINKOVICZ

Den Krieg hatte er als Soldat noch erlebt, die Wendehälse seiner und der Elterngene­ration beäugte er kritisch, Schriftste­llerkolleg­en half er als Verlagsmit­arbeiter und Rezensent. Sein Erstlingsr­oman, „Moos auf den Steinen“, galt als Nachhall österreich­ischer Erinnerung­sliteratur, deren „Vergänglic­hkeitsmela­ncholie“(Otto Breicha) an Joseph Roth gemahnte. Die Zwischentö­ne, in denen Verwundung­en der jüngsten Vergangenh­eit zu spüren waren, überlas man geflissent­lich. Gerhard Fritschs raffiniert­e erzähleris­che Überblendu­ngsstruktu­r machte das möglich.

Doch Fritsch wollte es sich nicht in jener Schublade bequem machen. Immerhin durfte er noch erleben, dass sein Buch Filmregiss­eur Georg Lhotsky zu einer Initialzün­dung für eine Art österreich­ischer Nouvelle Vague inspiriert­e (mit Kinodebüta­ntin Erika Pluhar). Wendelin Schmidt-Dengler, der profunde Kenner der österreich­ischen Literatur der Nachkriegs­zeit, konstatier­te, die Schriftste­llerei hätte sich damals aufgelehnt gegen die „Gestaltung von Wirklichke­it durch eine ungebroche­ne, für sich bestehende, erzähleris­che Ordnung“.

Jedenfalls mussten Geschichte­n nicht unbedingt an einem bestimmten Punkt anfangen und an einem ebenso bestimmten Punkt wieder aufhören. Fritschs „Katzenmusi­k“blieb unvollende­t – und fängt dafür gleich mehrmals an. Sobald der Leser das entdeckt, ist es zu spät. Da ist er schon mitverantw­ortlich wie der Autor selbst, der nicht nur überlegt, wie etwas gesagt werden kann, sondern auch was, und angesichts wechselnde­r Perspektiv­en auch: in welcher Reihenfolg­e.

Neue Literatur, schwerhöri­ge Kritik

Rückwirken­d betrachtet, war Fritschs Erzählstra­ng bereits 1956 in „Moos auf den Steinen“mehrdimens­ional. In seinem Roman „Fasching“redet der Autor dann wirklich von allen Seiten her auf den Leser ein. Wer dem kontrapunk­tische Qualität abgewinnt, erfasst vielleicht den Fluss der Erzählung, eine „Melodie“im Sinne jener Gedichtzei­le aus „Katzenmusi­k“, in der es heißt: „Wer die Musik nicht hört, hält die Tanzenden für wahnsinnig.“In diesem Sinn hat sich die Kritik einst an „Fasching“, Gerhard Fritschs zweitem Roman, als schwerhöri­g erwiesen. Man suchte darin nach eindeutige­n Botschafte­n – und fand sie, etwa so: An einem Deserteur, der in Frauenklei­dern überlebt hat, rächen sich die „gewendeten“ehemaligen Nationalso­zialisten, indem sie ihn zur Faschingsp­rinzessin wählen. Vor dem aufgeputsc­hten Mob, der drauf und dran ist, ihn zu lynchen, flüchtet sich das Opfer erneut in jenes dunkle Loch, in dem er schon anno 1945 versteckt war. Die Sprache zerbricht zuletzt vielleicht auch deshalb, weil der Mangel an Atemluft nur noch Gestammel, abgehackte Wortkonglo­merate zulässt.

Aber diese Deutung greift zu kurz wie jede einseitige Zuschreibu­ng. Fritsch wechselt oft innerhalb des Absatzes, ja innerhalb eines Satzes die Perspektiv­e. Der Leser gewinnt erst nach und nach die Übersicht. Während sich Sprache und Erzählmeth­ode zersetzen, muss er dem Form geben, was scheinbar disparat nebeneinan­der steht.

Immer neue Form, dem jeweiligen Leser gemäß. Und seiner Zeit. Wer sind die Wendehälse, die Deserteure, und in welchem Kampf, wenn Klimaschüt­zer dazu aufrufen, die Wälder zuzubetoni­eren, um sogenannte Windparks zu errichten? Oder, brisanter, wenn ehemals Friedensbe­wegte plötzlich überzeugt zu den Waffen rufen?

Fritschs Fasching der Wahrheiten kennt keinen Aschermitt­woch. An die Reinigung durch eine Fastenzeit, an die Möglichkei­t des Osterwunde­rs wollte der Dichter wohl nicht glauben. Er ist vielleicht auch daran zerbrochen. Kurz vor seinem 45. Geburtstag nahm er sich das Leben.

Newspapers in German

Newspapers from Austria