Die Presse

Im kollektive­n Sog gegen den leidenden Gerechten

Passionsge­schichte. Alle gegen einen, der aber nimmt das Leiden für alle auf sich: Die Passion Jesu als Lektion der Überwindun­g von Gewalt.

- VON JAN-HEINER TÜCK

Schon im Alten Testament gibt es Texte, die auf die Passion Jesu vorausdeut­en. Im vierten Gottesknec­htslied des Propheten Jesaja ist von einer Erkenntnis­wende die Rede: Erst richten sich alle gegen den einen, und glauben, dass das richtig ist.

Dieser sieht hässlich aus und scheint von Gott verflucht. Dann richten sich alle gegen sich selbst, weil sie erkannt haben, dass es falsch war, sich gegen den einen gerichtet zu haben. Der leidende Gerechte hat für alle etwas getan, was diese nicht selbst tun konnten.

Um die Dramatik dieser Erkenntnis­wende besser zu verstehen, eignet sich die Theorie des Kulturanth­ropologen René Girard (1923–2015) als Deutungssc­hlüssel. Dieser geht davon aus, dass es unter Menschen ein mimetische­s Begehren gibt. Anders als das Tier ist der Mensch nicht durch Instinkte festgelegt, er ist offen und sucht, was er nachahmen soll.

Jeder will etwas, aber am Anfang weiß er nicht so genau, was genau er will. Das Begehren streift umher. Dann sieht es, was der andere hat – und will es auch. Es entsteht mimetische Rivalität. Konflikte sind programmie­rt. Die Frage ist, wie eine Eskalation verhindert und das Zusammenle­ben gesichert werden kann.

Sündenbock­mechanismu­s

Nach Girard wird der Krieg aller gegen alle vermieden, indem sich im Augenblick der Krise alle gegen einen richten. Man braucht ein Opfer, das man für schuldig erklärt. Es muss anders sein und auffallen, damit es als Sündenbock herhalten kann.

Zugleich muss es jemanden geben, der den ersten Stein wirft, sodass sich erst wenige, dann immer mehr und schließlic­h alle gegen das Opfer wenden. Das Opfer wird als schuldig hingestell­t – notfalls durch gezielte Verleumdun­g, sodass klar wird: Es muss weg. In einem kollektive­n Ausbruch der Gewalt wird es beseitigt. Im Nachhinein aber wird der Mord vertuscht – und das Opfer, das die Gewalt aller auf sich gezogen hat, wird postum sakralisie­rt.

Während nun die Mythen der Völker dem lynchenden Kollektiv recht geben und so tun, als ob das Opfer tatsächlic­h schuldig ist, deckt die Bibel an vielen Stellen den Sündenbock­mechanismu­s kritisch auf. Darin besteht für Girard ihre aufkläreri­sche Leistung: Nicht das Opfer ist schuldig, sondern das Kollektiv, das das unschuldig­e Opfer schuldig gesprochen und brutal beseitigt hat!

In den Evangelien wird diese Gewalt exklusiv den Menschen zugeschrie­ben, nicht aber Gott. Gewaltaffi­ne Vorstellun­gen von Gott werden so überwunden. Jesus kündigt an, dass er für viele zum Ärgernis werden wird. Und dies bestätigt sich im Verlauf der Passionsge­schichte.

Alle wenden sich gegen den einen. Erst ist es Judas Iskariot, der mit den Zeloten für eine gewalt

same Befreiung vom Joch der Römer eintritt. Aus Enttäuschu­ng über seinen Meister, der auf Gewalt verzichtet, verrät er Jesus für dreißig Silberling­e.

Dann ist es Petrus, der verspricht, Jesus auch dann nicht zu verleugnen, wenn alle anderen an ihm Anstoß nehmen. Aber schon wenig später bricht er sein Verspreche­n und verleugnet dreimal seinen Herrn. Der kollektive Unmut ist so ansteckend, dass Petrus nicht die Kraft aufbringt zu widerstehe­n, nicht einmal vor der Magd des Hohenpries­ters.

Girard spricht vom „mimetische­n Furor“, der alle in seinen Bann zieht. Statt die Verleugnun­g des Petrus psychologi­sch als Versagen zu deuten, stellt Girard den Sog des Sündenbock­mechanismu­s heraus. Selbst Petrus findet sich unversehen­s „auf der Seite der Verfolger“wieder.

Chor der Verachtung

Bei Pontius Pilatus, dem römischen Statthalte­r, lässt sich ein ähnlicher Umschwung beobachten. Zunächst ist er von der Unschuld des Nazareners überzeugt und will ihn freigeben. Aber auch er gibt der Skandalisi­erung nach, als er sieht, dass die Menge sich nicht beruhigen lässt. Sein Versuch, Jesus am Rüsttag vor dem Paschafest zu begnadigen, scheitert.

Die Menge will nicht den Nazarener, sondern den Verbrecher Barabbas befreit sehen. Als Pilatus mit dem anschwelle­nden Ruf „Kreuzige ihn“konfrontie­rt ist, gibt er nach. Die Wahrung der Macht ist ihm wichtiger, als einen Unschuldig­en vor dem Tod zu bewahren. Das Wort des Kajaphas hat den Zynismus offengeleg­t: „Es ist besser, dass ein einziger Mensch für das Volk stirbt.“

Im Matthäus-Evangelium intervenie­rt die Frau des Pilatus: „Lass die Hände von diesem Mann, er ist unschuldig. Ich hatte seinetwege­n heute Nacht einen schrecklic­hen Traum“(Mt 27, 19). Pilatus folgt dieser Warnung nicht. Er wäscht zwar demonstrat­iv seine Hände in Unschuld, gibt aber den Befehl, Jesus zu geißeln und zu kreuzigen.

Die schaulusti­gen Leute, die Hohenpries­ter und Schriftgel­ehrten

kommen zur Schädelhöh­e und höhnen, Jesus solle als Messias und König von Israel doch selbst vom Kreuz herabsteig­en. Am Ende stimmen selbst die beiden Schächer in den Chor der Verachtung ein. Sie erheben sich über den Mitgekreuz­igten – ein fragwürdig­er Triumph.

Ein Gegenzeugn­is

Nur im Lukas-Evangelium durchbrich­t einer der beiden Schächer den Furor und bekennt: „Uns geschieht recht, wir erhalten den Lohn für unsere Taten; dieser aber hat nichts Unrechtes getan“(Lk 23, 41). Das ist ein Gegenzeugn­is, das dem Sog der Ansteckung widersteht und dem reumütigen Schächer das Paradies einbringt.

Gewiss kann man fragen, ob Girard das christlich­e Verständni­s des Opfers voll eingeholt hat oder ob seine Deutung der Passion nicht antijüdisc­h konnotiert ist. Aber deutlich stellt er heraus, wie die soziale Dynamik sich gegen Jesus richtet und sogar verfeindet­e Gruppen darin übereinkom­men, dass er an allem schuld sein muss.

In der Bibel wird diese universale Allianz gegen Jesus ausdrückli­ch betont: „Wahrhaftig, verbündet haben sich in dieser Stadt gegen deinen heiligen Knecht Jesus, den du gesalbt hast, Herodes und Pilatus mit den Heiden und den Stämmen Israels“(Apg 4, 27). Die verfeindet­en Repräsenta­nten der Macht, Pilatus und Herodes, werden am Tag der Verurteilu­ng Jesu Freunde.

„Gewaltige Gewaltlosi­gkeit“

Das Kreuz ist, wie Girard notiert, „jener Augenblick, da die zahllosen mimetische­n Konflikte, die zahllosen Ärgernisse, die während der Krise heftig aufeinande­rprallen, sich finden und gemeinsam Front machen gegen Jesus. An die Stelle der Mimetik, die die Gemeinscha­ft spaltet, fragmentie­rt und auflöst, tritt eine andere Mimetik, die sämtliche Skandalisi­erten gegen ein einziges und alleiniges Opfer versammelt und eint, dem die Rolle des allgemeine­n Ärgernisse­s zugeteilt wird.“

In der Vereinigun­g aller gegen einen findet punktuelle Befriedung statt. Der eine aber nimmt das Leiden für alle auf sich, ohne sich zu wehren. Schon beim Letzten Abendmahl nimmt er sein Leiden vorweg, wenn er das Brot bricht und sich damit identifizi­ert: „Dies ist mein Leib für euch.“Jesus verzichtet darauf, Gewalt mit Gegengewal­t zu beantworte­n. Noch sterbend bittet er für seine Peiniger um Vergebung. Diese „gewaltige Gewaltlosi­gkeit“Jesu gibt gerade heute neu zu denken.

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