Die Presse

Netanjahus rechts-religiöse Koalition steht auf der Kippe

Für die Ultraortho­doxen läuft die Ausnahmere­gelung für den Militärdie­nst aus. Die Regierung mit zwei religiösen Parteien wackelt.

- VON THOMAS VIEREGGE

Wien/Jerusalem. Zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit hat der Oberste Gerichtsho­f in Jerusalem Benjamin Netanjahu einen Strich durch die Rechnung gemacht. Am 1. Jänner hatte das Höchstgeri­cht, dessen Macht die rechts-religiöse Regierung beschneide­n wollte, einen zentralen Teil der Justizrefo­rm für null und nichtig erklärt. Am Donnerstag­abend lehnte es einen Eilantrag des Premiers ab, die Frist für eine Lösung für den Militärdie­nst für Ultraortho­doxe um 30 Tage zu verlängern. Die Ausnahmere­gelung läuft am Sonntag aus. Netanjahus Koalition, der zwei ultraortho­doxe Parteien angehören, steht auf der Kippe.

Israels Oberster Gerichtsho­f hatte die Befreiung, die Staatsgrün­der David Ben-Gurion 1948 nur rund 400 Jeshiva-Studenten gewährt hatte, 2018 aufgehoben. Inzwischen ist die Zahl der Thoraund Talmud-Schüler auf mehr als 60.000 angestiege­n. In Kriegszeit­en wächst der Druck der Gesellscha­ft, auch die Ultraortho­doxen – inzwischen 13 Prozent der Bevölkerun­g – zum Militärdie­nst einzuziehe­n. Ausgenomme­n von der Wehrpflich­t sind im Übrigen auch arabische Israeli, Christen und Beduinen. Nur die Drusen kommen der Wehrpflich­t zumeist nach – zwei Jahre für Frauen, zweieinhal­b Jahre für Männer.

Ex-Generäle für Militärdie­nst

Ex-Verteidigu­ngsministe­r Benny Gantz, Führer des Opposition­sbündnisse­s Blau-Weiß und Mitglied im Kriegskabi­nett, begrüßte die Entscheidu­ng der Höchstrich­ter. Auch Joav Gallant, Verteidigu­ngsministe­r und wie Gantz ehemaliger Generalsta­bschef, fordert seit Langem einen Militärdie­nst für alle. Gantz drohte auch schon mit Austritt aus der längst von Rissen geprägten Regierung, sollte die Koalition das Urteil nicht umsetzen. Seit Beginn des jüngsten und mit fast einem halben Jahr auch längsten Gaza-Kriegs haben sich Hunderte Ultraortho­doxe freiwillig zum Armeediens­t gemeldet.

Mit Ende der Ausnahmere­gelung am 31. März wird es indessen ernst. Nach einer Übergangsp­hase könnte der Militärdie­nst für Jeshiva-Schüler Anfang August in Kraft treten. Die beiden Regierungs­parteien, Shas und Vereinigte­s ThoraJuden­tum, die beinahe ein Sechstel der Abgeordnet­en in der Knesset stellen, haben die Entscheidu­ng der Höchstrich­ter kritisiert. Benjamin Netanjahu wird bei der Kabinettss­itzung am Sonntag seine oft gerühmte Magie hervorzaub­ern müssen, um das Bündnis aus seiner Likud-Partei, den Ultraortho­doxen und den Rechtsextr­emisten zusammenzu­halten und einen Ausweg aus der Krise zu finden.

Opposition­sführer Jair Lapid plädiert längst schon für eine Neuwahl, die Netanjahu indes unter allen Umständen zu verhindern sucht. Der Ex-Premier, Chef der liEinschät­zung beralen Jesh-Atid-Partei – der Zukunftspa­rtei –, ist ein Verfechter des Militärdie­nsts für alle. Lapid hat gerade nur mit hauchdünne­r Mehrheit die parteiinte­rnen Vorwahlen gegen Ram Ben-Barak, den früheren Vize-Mossad-Chef, gewonnen.

Geiselverh­andlungen

Während sich der Blick in Israel am Wochenende nach innen richtet und sich auf eine mögliche Koalitions­krise konzentrie­rt, versuchen die Angehörige­n der Geiseln mit Demonstrat­ionen den Druck für eine Freilassun­g aufrechtzu­erhalten. Netanjahu, der den Geiselfami­lien zuletzt wieder einmal Trost zugesproch­en und ihre Hoffnung am Leben gehalten hat, betraute die Chefs der israelisch­en Geheimdien­ste mit der Fortsetzun­g der Verhandlun­gen. Parallel sollen die Gespräche über einen Geiseldeal in den kommenden Tagen in Kairo und Doha wieder anlaufen.

Die Hamas hat zuletzt Kompromiss­e abgelehnt. Nach israelisch­er setzt sie auf eine Strategie der Eskalation zum Ende des Ramadan und bereitet sich auf eine Schlacht in Rafah vor. Währenddes­sen geht die israelisch­e Armee verstärkt gegen Hamas-Kämpfer in Gaza-City vor. In der nächsten Woche stehen in Washington Gespräche mit einer israelisch­en Delegation über die Militärstr­ategie und die geplante Großoffens­ive in Rafah an. Aus Protest gegen das US-Votum im UN-Sicherheit­srat hat Netanjahu sie am Montag zurückgepf­iffen. US-Generalsta­bschef Charles Brown erklärte, Israel werde nicht alle Waffen auf ihrer Wunschlist­e erhalten.

Zugleich nimmt Israel proiranisc­he Milizen ins Visier. In Aleppo in Syrien kamen bei Angriffen auf eine Rüstungsfa­brik und ein Raketendep­ot der Hisbollah mehr als 40 Menschen ums Leben. Jüngst intensivie­rte Israel auch Attacken im Libanon, wobei der Vize-Kommandant der Raketenein­heit der Hisbollah umgekommen ist.

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