Netanjahus rechts-religiöse Koalition steht auf der Kippe
Für die Ultraorthodoxen läuft die Ausnahmeregelung für den Militärdienst aus. Die Regierung mit zwei religiösen Parteien wackelt.
Wien/Jerusalem. Zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit hat der Oberste Gerichtshof in Jerusalem Benjamin Netanjahu einen Strich durch die Rechnung gemacht. Am 1. Jänner hatte das Höchstgericht, dessen Macht die rechts-religiöse Regierung beschneiden wollte, einen zentralen Teil der Justizreform für null und nichtig erklärt. Am Donnerstagabend lehnte es einen Eilantrag des Premiers ab, die Frist für eine Lösung für den Militärdienst für Ultraorthodoxe um 30 Tage zu verlängern. Die Ausnahmeregelung läuft am Sonntag aus. Netanjahus Koalition, der zwei ultraorthodoxe Parteien angehören, steht auf der Kippe.
Israels Oberster Gerichtshof hatte die Befreiung, die Staatsgründer David Ben-Gurion 1948 nur rund 400 Jeshiva-Studenten gewährt hatte, 2018 aufgehoben. Inzwischen ist die Zahl der Thoraund Talmud-Schüler auf mehr als 60.000 angestiegen. In Kriegszeiten wächst der Druck der Gesellschaft, auch die Ultraorthodoxen – inzwischen 13 Prozent der Bevölkerung – zum Militärdienst einzuziehen. Ausgenommen von der Wehrpflicht sind im Übrigen auch arabische Israeli, Christen und Beduinen. Nur die Drusen kommen der Wehrpflicht zumeist nach – zwei Jahre für Frauen, zweieinhalb Jahre für Männer.
Ex-Generäle für Militärdienst
Ex-Verteidigungsminister Benny Gantz, Führer des Oppositionsbündnisses Blau-Weiß und Mitglied im Kriegskabinett, begrüßte die Entscheidung der Höchstrichter. Auch Joav Gallant, Verteidigungsminister und wie Gantz ehemaliger Generalstabschef, fordert seit Langem einen Militärdienst für alle. Gantz drohte auch schon mit Austritt aus der längst von Rissen geprägten Regierung, sollte die Koalition das Urteil nicht umsetzen. Seit Beginn des jüngsten und mit fast einem halben Jahr auch längsten Gaza-Kriegs haben sich Hunderte Ultraorthodoxe freiwillig zum Armeedienst gemeldet.
Mit Ende der Ausnahmeregelung am 31. März wird es indessen ernst. Nach einer Übergangsphase könnte der Militärdienst für Jeshiva-Schüler Anfang August in Kraft treten. Die beiden Regierungsparteien, Shas und Vereinigtes ThoraJudentum, die beinahe ein Sechstel der Abgeordneten in der Knesset stellen, haben die Entscheidung der Höchstrichter kritisiert. Benjamin Netanjahu wird bei der Kabinettssitzung am Sonntag seine oft gerühmte Magie hervorzaubern müssen, um das Bündnis aus seiner Likud-Partei, den Ultraorthodoxen und den Rechtsextremisten zusammenzuhalten und einen Ausweg aus der Krise zu finden.
Oppositionsführer Jair Lapid plädiert längst schon für eine Neuwahl, die Netanjahu indes unter allen Umständen zu verhindern sucht. Der Ex-Premier, Chef der liEinschätzung beralen Jesh-Atid-Partei – der Zukunftspartei –, ist ein Verfechter des Militärdiensts für alle. Lapid hat gerade nur mit hauchdünner Mehrheit die parteiinternen Vorwahlen gegen Ram Ben-Barak, den früheren Vize-Mossad-Chef, gewonnen.
Geiselverhandlungen
Während sich der Blick in Israel am Wochenende nach innen richtet und sich auf eine mögliche Koalitionskrise konzentriert, versuchen die Angehörigen der Geiseln mit Demonstrationen den Druck für eine Freilassung aufrechtzuerhalten. Netanjahu, der den Geiselfamilien zuletzt wieder einmal Trost zugesprochen und ihre Hoffnung am Leben gehalten hat, betraute die Chefs der israelischen Geheimdienste mit der Fortsetzung der Verhandlungen. Parallel sollen die Gespräche über einen Geiseldeal in den kommenden Tagen in Kairo und Doha wieder anlaufen.
Die Hamas hat zuletzt Kompromisse abgelehnt. Nach israelischer setzt sie auf eine Strategie der Eskalation zum Ende des Ramadan und bereitet sich auf eine Schlacht in Rafah vor. Währenddessen geht die israelische Armee verstärkt gegen Hamas-Kämpfer in Gaza-City vor. In der nächsten Woche stehen in Washington Gespräche mit einer israelischen Delegation über die Militärstrategie und die geplante Großoffensive in Rafah an. Aus Protest gegen das US-Votum im UN-Sicherheitsrat hat Netanjahu sie am Montag zurückgepfiffen. US-Generalstabschef Charles Brown erklärte, Israel werde nicht alle Waffen auf ihrer Wunschliste erhalten.
Zugleich nimmt Israel proiranische Milizen ins Visier. In Aleppo in Syrien kamen bei Angriffen auf eine Rüstungsfabrik und ein Raketendepot der Hisbollah mehr als 40 Menschen ums Leben. Jüngst intensivierte Israel auch Attacken im Libanon, wobei der Vize-Kommandant der Raketeneinheit der Hisbollah umgekommen ist.