Barocke Kraft und die schamanische Gewalt der Neuen Musik
Osterfestival Tirol. In Hall und Innsbruck überbrückt man Zeiten und Stile, kombiniert Passionsmusik von Bach mit avantgardistischem Sternenklang und lässt trotz des Mottos „er.schöpfung“keine Müdigkeit aufkommen. Sorgen bereitet den Veranstaltern ledigli
Warten! Was die heiligen Zeiten im christlichen Kalender anlangt, ist das Warten stärker noch mit dem Advent als mit der österlichen Fastenzeit verknüpft: Verkürzen im Dezember nur Nikolaus und Mariä Empfängnis die lange Zeit zwischen all den Adventsonntagen, tut sich vor Ostern schon früher etwas und viel mehr. Was es in der Karwoche an dramatischen Ereignissen zu bedenken und nachzuerleben gibt, zeigt zum Beispiel heute, Karsamstag, Bachs Matthäuspassion unter Philippe Herreweghe, gewiss einem weiteren Höhepunkt beim Osterfestival Tirol.
Wenn das Silberglöckchen läutet
Am Gründonnerstag im Salzlager Hall musste man dennoch an das Silberglöckchen denken, das mancherorts noch vor der Bescherung am Heiligabend geläutet wird: Da schallte nämlich als finaler Ton der Klang eines Beckens durch den Raum, eines Beckens nur so groß wie eine Hand und aufrecht befestigt auf einer Drehvorrichtung. Beherzt angeschlagen, drehte es Pirouetten, sendete ein pulsierendes Klangkontinuum aus, rotierte weiter, wurde langsamer und blieb stehen – und drehte sich plötzlich in die Gegenrichtung, schwang sich in jeder Hinsicht aus. Doch auch nach dem Stehenbleiben war da immer noch dieser lange Nachklang, bis er sich endlich im Nichts verlor. Und nach andächtigem Schweigen jubelte das Publikum dem famosen Schlagzeugkollektiv Tirol für ihre atmosphärisch dichte Aufführung von Gérard Griseys „Le noir de l’étoile“zu.
Was verkürzt das Warten? Eine tickende Uhr? Es war eine Sensation, als 1967 ein Radioteleskop erstmals frappierend regelmäßige Signale aus dem Weltraum auffangen konnte: Nein, keine Außerirdischen, sondern die empirische Bestätigung eines „Pulsars“, eines schnell rotierenden Neutronensterns mit extremer Masse. Der Spektralist Gérard Grisey hat sich davon zu „Le noir de l’étoile“(1991) anregen lassen, bei dem sechs Schlagzeuger das Publikum umringen: Zusammen mit Zuspielung und Elektronik beschwört die Musik die Zeit und gewinnt dabei, wie Grisey selbst gesagt hat, „eine wahrhaft schamanische Gewalt, die uns mit den Kräften verbindet, die uns umgeben“. Eine knapp einstündige musikalische Grenzerfahrung mit Einzelschlägen und ineinander verfließenden Raumklangwolken, archaisch wild und subtil zerstäubt – sowie auch auratischem „Originalklang“: die elektromagnetischen Wellen zweier Pulsare, übersetzt in Schallwellen und von Grisey in seiner Musik verarbeitet.
Mag das Motto des Osterfestivals diesmal auch „er.schöpfung“lauten, schwindende Kräfte sind deshalb gewiss keine zu merken, weder im Programm noch bei den Ausführenden. Schon gar nicht am Mittwoch in der Dogana des Congress Innsbruck, wo der marokkanische Choreograf Taoufiq Izeddiou sein Tanztheaterstück „Hmadcha“erstmals in Österreich präsentiert hat. Der Titel nennt eine Sufi-Bruderschaft, deren Trance-Rituale die zentrale Inspiration bilden. Meeresrauschen, stärker, bunter werdende Beats, später auch Klaviermusik von Michael Nyman sowie eine leuchtende Seitenwand der Bühne bilden die Grundkonstellation, die zuerst einen und dann schrittweise immer mehr Männer auf den Plan ruft. Ungemein energetisch vollführen sie Wellenbewegungen, lassen Anziehungskräfte spüren, verfallen in die typischen Derwischtänze – bis mit dem Auftreten von Izeddiou selbst dieser kurze, intensive Abend in ein ausgelassenes Fest mit Tanz, Gesang und Trommeln mündet.
Rätselhafte Hör- und Politspiele
Rätselhafter fiel das Live-Hörspiel „Im Bett des Imaginariums“aus, bei dem das Publikum via Kopfhörer das scheinbar nahe vernahm, was Texterin und Darstellerin Gina Mattiello auf der Bühne rund um ein Kunstkopfmikrofon rezitierte und was ein Streichtrio darbot: Dessen moderne Kammermusik war der Trumpf des Abends, besonders schön Franck Bedrossians „The Spider as an Artist“, Christoph Herndlers kleiner Zyklus „Abschreiben“oder das stimmungsvolle „Rulfo / ecos II“von Germán Toro Pérez. Noch rätselhafter allerdings die recht willkürlich anmutende Halbierung des Kulturbudgets in der Stadtgemeinde Hall, die auch das Osterfestival hart trifft.
Ob da bloßes Warten auf ein Einlenken ausreicht?