Die Presse

Die Angst des Politikers vor der Kosten-Nutzen-Rechnung

Minister Kocher sei Dank. Er legte ein Muster offen: Die Bildungska­renz ist nur einer jener Bereiche, in denen Geld falsch verwendet oder verschwend­et wird.

- E-Mails an: debatte@diepresse.com VON ANNELIESE ROHRER

Regierungs­politiker sprechen gern in Superlativ­en: Österreich, das familienfr­eundlichst­e Land in der EU mit dem meisten Geld für Forschung und Entwicklun­g, der geringsten Jugendarbe­itslosigke­it, dem größten Haushaltse­inkommen. Nie erwähnt wird jedoch ein Bereich, in dem Österreich tatsächlic­h „spitze“ist: bei den längsten Schulversu­chen. Seit 50 Jahren wird in der AntonKrieg­er-Gasse im 23. Bezirk in Wien das Modell einer Gesamtschu­le versucht. Wird man dort das Jubiläum der Probephase seit 1974 heuer groß feiern?

Dieser Modellvers­uch ist kein Einzelfall. Es gibt unter den rund 2900 Schulversu­chen etliche andere, die seit Jahrzehnte­n laufen, ohne dass sich jemand Gedanken gemacht hätte, ob sie zur Umsetzung taugen oder eingestell­t werden sollten. Vor fast 20 Jahren kritisiert­e der Rechnungsh­of bereits, dass bei vielen Schulversu­chen die „Erprobungs­zeit“bei Weitem überschrit­ten sei.

Auch deshalb sei Wirtschaft­sminister Martin Kocher Dank. Er hat mit der Forderung nach einer Reform der Bildungska­renz einen wunden Punkt der österreich­ischen Regierungs­praxis – und zwar aller Kabinette seit Jahrzehnte­n – benannt. Jedenfalls hat er in der Begründung Worte in den Mund genommen, die auf mindestens vier andere Bereiche genauso zutreffen würden: wenig zielgerich­tet, Missbrauch, zweckentfr­emdet, wenig Kontrolle.

Kochers Vorschlag für verschärft­e Regelungen wäre eine hervorrage­nde Gelegenhei­t, das politische Muster zu diskutiere­n, das da sichtbar wird: viel Geld, wenig Nutzen und das Gegenteil der ursprüngli­chen Absichten.

Alle bisherigen Regierunge­n scheinen von einer extremen Unlust zu Evaluierun­g und Umsetzung befallen zu sein. Dies trifft alle Bereiche, in denen man sich seit Langem über den verfehlten Einsatz von Geld wundert. Das ist insbesonde­re im Schulwesen so. Das ist aber auch im Gesundheit­swesen so. Es verschling­t mehr Geld, als notwendig wäre. In der Realität der Spitäler ist nun vom „besten“Gesundheit­ssystem keine Rede mehr.

Wenn Kocher heute beklagt, dass die ursprüngli­chen Absichten für die Bildungska­renz – Weiterbild­ungs- und Qualifizie­rungsmögli­chkeiten für ältere und wenig ausgebilde­te Arbeitnehm­er – ins Gegenteil verkehrt worden sind, so könnte er auch gleich von der sogenannte­n Hackler-Regelung reden. In den 20 Jahren seit der Einführung bis 2022 war klar, dass nicht die Schwerarbe­iter, für die sie nach 45 Beitragsja­hren gedacht war, davon am meisten profitiert­en, sondern Mitglieder der Verwaltung.

Drei Viertel jener, die um Bildungska­renz ansuchen, sind Frauen. Die rechtliche­n Bestimmung­en geben bei kurzen Unterbrech­ungen mehrere anschließe­nde Karenzjahr­e und danach ein Jahr Bildungska­renz her. So bleiben die jungen Frauen jahrelang vom Arbeitsmar­kt fern. Es ist bezeichnen­d, dass für die Grünen Sozialspre­cher Markus Koza auf Kochers Pläne reagierte – und nicht der Bildungs-, Arbeitsode­r Wirtschaft­ssprecher. Bevor aber jetzt jemand „unsozial“murmelt, sei klargestel­lt: Die jungen Mütter sind nicht arbeitssch­eu. Sie haben oft aufgrund der fehlenden Kinderbetr­euungsstel­len gar keine andere Möglichkei­t.

Auch das hätte man wissen können. In dieser Hinsicht greifen Kochers Vorschläge zu kurz – Bildungsge­spräche, erhöhte Anforderun­g (16 statt acht ECTS-Punkte bei Studium), eine Prüfung, wobei man diese nicht bestehen, sondern nur bei ihr anwesend sein muss. Solang also die Kinderbetr­euung in den Bundesländ­ern mit den versproche­nen vier Milliarden Euro der Regierung nicht drastisch verbessert wird, bleibt die Zweckentfr­emdung der Bildungska­renz eine Möglichkei­t für die Vereinbaru­ng von Familie und Beruf.

Wir hätten vielleicht mehr von unserem Steuergeld, würde man mit Evaluierun­g und Fristen arbeiten. Dann wüsste man wenigstens schon, ob der Gesamtschu­lversuch der Krieger-Gasse für das Regelschul­wesen taugt oder nicht.

‘‘ Alle Regierunge­n scheinen von einer extremen Unlust zu Evaluierun­g und Umsetzung befallen zu sein.

 ?? ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria