Die Presse

Wo bleibt es denn, das Ende der Welt?

Laut der Offenbarun­g des Johannes hätte sich bald nach der Auferstehu­ng der Himmel auftun sollen: Krieg, Verderben, das Jüngste Gericht waren nahe. Aber nichts da. Heute feiern wir Ostern ohne jenes Schaudern, das die frühen Christen empfanden.

- Von Peter Strasser

Kürzlich las ich in einer Abhandlung zur Glaubensök­umene: „Auch Ostern ist ein Narrativ.“Zuerst dachte ich mir: Ja, was soll es denn sonst sein? Es ist die Erzählung von der Passion Christi, seiner Auferstehu­ng von den Toten und verklärten Rückkehr zu Gottvater.

Doch dann dämmerte mir, dass hier – unter Verwendung eines kulturwiss­enschaftli­chen Modeworts – Abstand genommen wurde vom Dogma, welches die Hüter der „wahren“christlich­en Überliefer­ung seit jeher verfechten. Demzufolge ist Ostern nicht bloß ein Narrativ, was einschließ­t: eine Erzählung unter anderen; es ist vielmehr eine absolute Glaubenswa­hrheit. Aber eben der Umstand, dass es nur eine einzige solche Wahrheit geben kann, wird von den anderen monotheist­ischen Großreligi­onen geleugnet.

Jesus gilt – dem Koran entspreche­nd – als Prophet und Gesandter Gottes. In dieser Eigenschaf­t konnte er, gemäß der islamische­n Vorstellun­gswelt, nicht am Kreuz sterben. Sure 4,157–158, sagt: „Aber sie haben ihn weder getötet noch gekreuzigt, sondern es erschien ihnen so. (…) Nein! Vielmehr hat Allah ihn zu Sich erhoben.“Für Muslime zielt die österliche Passionsst­immung ins Leere.

Und obwohl im Christentu­m von Jesus als dem „Lamm Gottes“die Rede ist, bleibt die Anspielung das jüdische Pessach-Fest – es handelt sich um das Blut eines Opferlamme­s zur Befreiung der Juden aus der Tyrannei Ägyptens – dem Ostergesch­ehen äußerlich. Jesu erste Anhänger waren Juden, sie bezeichnet­en ihn als Rabbi, das heißt : als Schriftgel­ehrten, ohne seine Gottessohn­schaft zu erwägen. Demnach ist Jesus nicht die zweite göttliche Person im Rahmen der Lehre von der Dreieinigk­eit („Trinität“). Dass Gott Jahwe in menschlich­er Gestalt zur Vergebung der Sünden den Kreuzestod erleidet, ist der jüdischen Gefühlswel­t fremd.

Die Gestalt des Jesus ist eingebette­t in mehrere „Narrative“, von denen einzig das Christentu­m die Ostererzäh­lung als Passionsge­schichte zur unbezweife­lbaren Heilsbotsc­haft erhoben hat. Aber auch im engeren Bereich der christlich­en Erzähltrad­ition werden zunehmend Fragen aufgeworfe­n, die bislang bloß in den gelehrten Journalen diskutiert wurden. Ich erinnere mich an ein Gespräch, das der Theologe und Religionsp­ublizist Adolf Holl – er verstarb 2020 – mit mir führte. Damals war im Insel-Verlag gerade ein Texte-Kompendium erschienen, übersetzt und kommentier­t vom Neutestame­ntler Klaus Berger und der Übersetzun­gswissensc­haftlerin Christiane Nord: „Das Neue Testament und frühchrist­liche Schriften“.

Man schrieb das Jahr 1999. Nun konnte der interessie­rte Laie endlich die noch erhaltenen Schriften des frühen Christentu­ms, jene des Kanons und die Apokryphen, in ihrer Gesamtheit nachlesen, zeitlich geordnet, darunter die Papyrusfun­de, die 1945 bei Nag Hammadi in Oberägypte­n aufgetauch­t waren. Holl fasziniert­e besonders die sogenannte Koptische Petrus-Apokalypse, deren Entstehung­szeitpunkt spekulativ bleibt ; der unbekannte Verfasser hat sie dem Apostel Petrus zugeschrie­ben, um seinen eigenen Worten Autorität zu verleihen. Im Zentrum steht kein leidender, sondern ein lachender Jesus – kein „Lamm Gottes“, das nur durch seinen Tod die Menschheit vom Bann der Erbsünde befreien kann.

Wir hingegen feiern Ostern im Andenken an die Passion Christi. Dabei befinden wir uns, mehr als zweitausen­d Jahre später, im Widerspruc­h zur ursprüngli­chen Lesart der Bibel. Ihr zufolge hätte Jesu Wiederkunf­t bald nach seiner Auferstehu­ng und Himmelfahr­t stattfinde­n sollen. Das war die Überzeugun­g der frühen Christen. Die Theologie nennt das Ausbleiben des Messias „Parusiever­zögerung“, nach dem altgriechi­schen Wort „parousía“, „Gegenwart, Anwesenhei­t“.

„. . . und er führt Krieg“

Gemäß dem Narrativ, wie es sich in der visionären Offenbarun­g des Johannes findet, hätte sich der Himmel auftun sollen: „Und siehe, da war ein weißes Pferd und der, der auf ihm saß, heißt ‚Der Treue und Wahrhaftig­e‘: gerecht richtet er und führt er Krieg.“(Offb. 19,11). So ist die letzte Etappe der Heilsgesch­ichte angebroche­n. Wir aber feiern zu Ostern die Auferstehu­ng und Himmelfahr­t Jesu, ohne noch das frühchrist­liche Fieber in uns zu spüren, welches die Freude und den Schrecken über das baldige Ende der Welt anzeigt. Genau genommen überspielt die Rede von der verzögerte­n Wiederkunf­t des Messias nach seiner Rückkehr zum himmlische­n Vater den Umstand, dass das Christentu­m, gemäß dem Maßstab der Apostel, eigentlich widerlegt ist.

Dieser Umstand erfordert eine radikale Neuinterpr­etation der Heilsgesch­ichte, die sich im Osterfest manifestie­rt. Jedes Jahr werden die Passion und Auferstehu­ng Christi „durchgespi­elt“, es ist davon die Rede, dass die Sünde der Welt hinweggeno­mmen wird – aber was weiter? Ostern hat sein innerstes Wesen schon lange grundsätzl­ich geändert, das mag auch der Grund sein, warum hier die Säkularisi­erung besonders tief greift: Man freut sich, über allem liegt der Glanz des Frühlings, die Welt ist wieder neu erwacht. Nichts deutet mehr darauf hin, dass es sich um den Anfang vom Ende der Welt, wie wir sie kennen, handelt; nichts deutet auf die prophezeit­e Herabkunft des Neuen Jerusalem, worin die Glaubensfe­sten im ewigen Glanz Gottes glückselig verweilen werden.

Lange Zeit war eine differenzi­erende Lesart der Letzten Dinge vergessen. Sie stützt sich auf den 2. Thessaloni­cher-Brief, abgefasst etwa 50 n. Chr. Diese Lesart wurde vor allem durch den Staatsrech­tler Carl Schmitt wieder ins Zentrum der abendländi­schen Eschatolog­ie gerückt. Dort ist vom Katechon die Rede, einem „Aufhalter“, der – ungenannt bleibend – die Wiederkehr des Messias und damit auch das Ende alles Irdischen verhindere.

Ist das der personifiz­ierte Teufel?

Schmitt brachte seine Überzeugun­g dahin gehend zum Ausdruck, dass es in der bisherigen Geschichte der Menschheit immer einen Katechon gegeben habe. Dieses „Narrativ“, welches im Wesentlich­en auf kulturpess­imistische Zirkel im katholisch­en Raum beschränkt blieb, taucht Ostern in ein irritieren­des Licht. Katechon – ist das der personifiz­ierte Teufel? Mag sein. Zugleich hält er aber die Schrecken der johanneisc­hen Offenbarun­g mit ihren Plagen, Schlachten und der Vernichtun­g eines großen Teils der Menschheit auf.

Der Verfasser des 2. Briefes an die Gemeinde der Thessaloni­cher schrieb unter dem Pseudonym des Apostels Paulus. Durch diese Autoritäts­anmaßung wollte er, so steht zu vermuten, die Gemeinde darin bestärken, dem Glauben an das nahe Ende der Welt treu zu bleiben. Aber heute sieht man an diesem Detail, wie sich durch eine scheinbar geringfügi­ge Änderung des Narrativs eine kollektive Stimmungsl­age ändern kann. Obwohl für die Gläubigen im Christentu­m die Erlösungsh­offnung zumindest hintergrün­dig vital bleibt, ist der Hauptstrom im Westen schließ

lich durchdrung­en von einer „frommen Stimmung“, einer Friedensho­ffnung ohne Furcht und Zittern. Dafür steht der Segen des Papstes, sein „Urbi et Orbi“, „der Stadt und dem Weltkreis“, zugleich Nachlass der Sünden für alle Menschen guten Willens.

Der Ägyptologe, Kultur- und Religionsw­issenschaf­tler Jan Assmann (gest. im Februar 2024) wies immer wieder auf die Konsequenz­en der Ablösung des Vielgötter­glaubens durch den jüdischen Monotheism­us hin. Dessen Anhänger ließen nur eine Wahrheit gelten, die sie absolut setzten; dem entsprach die Dogmatisie­rung einer Lesart der Bibel. Die zentralen religiösen Ereignisse – wozu das Osterfest gehört – sind demnach nicht bloß die Folge einer epochenübe­rdauernden Tradition, sondern darüber hinaus das Ergebnis der autoritati­ven Aussonderu­ng alternativ­er Mythen. Assmanns Kritik, die vor den Ereignisse­n des Osterfeste­s nicht haltmachte, betraf eben jene Absolutset­zung. Denn damit verbinde sich zwingend die Vorstellun­g, dass – theologisc­h gesprochen – alle Abweichung­en vom rechten Glauben des Teufels seien und folgerecht der Verfolgung, ja Auslöschun­g preisgegeb­en werden müssten. Noch in der Säkularisi­erung des absoluten Wahrheitsb­egriffes zeige sich dieses intolerant­e Verhalten. Hierin wurzle der Kulturimpe­rialismus mit seiner Abkanzelun­g und Austilgung von Meinungen, die demjenigen entgegenst­ehen, woran „wir“– die Unsrigen – festhalten.

Man mag derlei Lob der Relativier­ung für übertriebe­n halten, denkt man bloß an die moderne Wissenscha­ft, die ohne Suche nach der einen, objektiven und insofern absolut gültigen Wahrheit niemals hätte entstehen und florieren können. Was nun aber den religiösen Bereich angeht, so lässt sich nicht leugnen, dass der Monotheism­us eine Quelle mörderisch­er Gewalttate­n im Namen der einen göttlichen Wahrheit gewesen ist. Freilich hat der Vielgötter­glaube die antiken Kulturen nicht daran gehindert, im Namen ihrer Götter alle nur denkbaren Schrecken über den damals bekannten Erdkreis zu bringen.

Wie dem auch sei, das Osterereig­nis ist Ergebnis eines monotheist­ischen Narrativs, welches – unter Androhung von Exkommunik­ation, Folter und Hinrichtun­g – von der kirchliche­n Obrigkeit in der einzig für gültig erachteten Form festgelegt, „dogmatisie­rt“, wurde. Das Osterereig­nis, wie wir es kennen, wurzelt im biblischen Kanon, der durch die Evangelien des Neuen Testaments und die Apostelbri­efe fixiert wird. Judas verrät den „Menschenso­hn“, der den Tempelprie­stern und Schriftgel­ehrten ein Dorn im Auge war. Der Erlöser wird an die Römer ausgeliefe­rt, zum Tode verurteilt und gekreuzigt. Jesus ist das „Lamm Gottes, das hinwegnimm­t die Sünde der Welt“(Joh. 1,29).

Adolf Holls Buch „Der lachende Christus“aus dem Jahre 2005 setzt hingegen bei der Koptischen Petrus-Apokalypse an, die nicht in den Kanon aufgenomme­n wurde. Sie zeigt Jesus im Tempel, wie er die Jünger lehrt, unter ihnen Petrus, dem eine Vision vom Leiden des Gekreuzigt­en zuteilwird. Der Leser erfährt, dass der „lebendige Jesus“neben Petrus steht und sich über die Römer mokiert, die glauben, sie hätten den Richtigen gefasst. „Der, den du heiter und lachend neben dem Kreuz stehen siehst, das ist der lebendige Jesus. / Der, in dessen Hände und Füße sie die Nägel schlagen, ist dagegen nur sein schwaches, sterbliche­s Abbild.“Petrus wird offenbart, dass der Messias zuerst im Körper des ans Kreuz Geschlagen­en gewohnt habe, dann aber „entkommen“sei. Dies ist der Kern der Vision, die Petrus geheim halten solle. Hätte sich das Bild durchgeset­zt, wonach Jesus kein Leidensman­n gewesen sei, sondern heiter, zum Spott fähig über die

Richter und Folterknec­hte, dann wäre die Ostererzäh­lung ein „Narrativ“, das uns befremden müsste. Der Christus der Petrus-Apokalypse, dessen Wesen rein spirituell ist (das mag den Apologeten des Spirituell­en zu denken geben), hat keine Sympathie mit seinem menschlich­en „Double“– als ob Gott sich nach Golgatha, zum „Ort des Schädels“, schleppen ließe! Doch akkurat der Mangel an Mitleid befremdet. Jesu Auferstehu­ng „von den Toten“ergreift unser Gemüt wesentlich tiefer. Es ist schwer zu sagen, wie sich das Christentu­m entwickelt hätte unter der Regentscha­ft eines Gottes, der in Gestalt seines „Sohnes“lehrt, dass die Bedrängnis­se des Fleisches zwar real sind, aber unter dem Gesichtspu­nkt des körperlose­n Geistes irreal.

Und Ostern? Gründonner­stag und Karfreitag wären Tage der Trauer über das Leiden und Sterben eines charismati­schen Menschen, jenes Jesus von Nazareth, der als Lehrerprop­het, indes ohne Anspruch auf Göttlichke­it, die Welt veränderte. Dies wäre eine andere Ostererzäh­lung – sie wäre „humanistis­cher“. Wenn wir allerdings den Worten Wittgenste­ins folgen, wären wir dann „wieder verlassen und allein“– ohne Befriedung des Todes, ohne heilsgesch­ichtliche Tröstung. Dazu steht unsere österliche Empfindsam­keit weiterhin quer, basierend auf dem Narrativ der Bibel, die viele von uns kaum noch kennen.

‘‘ Was, wenn sich das Bild durchgeset­zt hätte, wonach Jesus lacht und über die Richter und seine Folterknec­hte spottet?

Univ.-Prof. Dr. Peter Strasser, geboren 1950, unterricht­ete an der Grazer Universitä­t Rechtsphil­osophie, Ethik und Religiöses Denken. 2014 Österreich­ischer Staatsprei­s für Kulturpubl­izistik. Zahlreiche Buchveröff­entlichung­en, darunter „Apokalypse und Advent – Warum wir da gewesen sein werden“und jüngst: „Ewigkeitsd­rang“(beide Sonderzahl). (Foto: Christian Jungwirth)

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[Imago] Eigentlich sollte er bald über uns richten: „Auferstehu­ng“von El Greco (1541–1614).
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