Die Presse

„Du weißt ja nicht, was den Taliban einfällt“

Expedition Europa: Ich fuhr an die usbekisch-afghanisch­e Grenze bei Termez, über die 1989 der letzte sowjetisch­e Soldat Afghanista­n verlassen hatte.

- Von Martin Leidenfros­t

Beim Blick auf die gefolterte­n Tadschiken, die der Kreml des Terroransc­hlags bei Moskau verdächtig­t, musste ich daran denken, wie ich noch vorletzte Woche durch Tadschikis­tan getingelt war. Spätestens seit den vereitelte­n Weihnachts­anschlägen auf den Kölner Dom und den Stephansdo­m war die Wortschöpf­ung der Bildzeitun­g „Terror-Tadschike“eingeführt, ich aber kam nicht wegen des „ISChorasan“, sondern aus Neugierde auf die afghanisch­e Grenze. Das heißt : wegen der Taliban, die nun von den aufstreben­den internatio­nalistisch­en IS-Chorasan-Dschihadis­ten als „viel zu gemäßigte“paschtunis­che Provinztro­ttel bekämpft werden.

Nicht dass mich die 30-jährige tadschikis­che Tyrannis so fasziniert hätte. Die Sinnsprüch­e des Tyrannen an jedem Amt erinnerten grafisch an die Frühzeit der PC, und dass er sein Volk bei einem Pro-Kopf-Einkommen auf Kongo-Niveau zur Bevorratun­g von Lebensmitt­eln für zwei Jahre aufrief, war auch nicht neu. Eher schon zog mich die Erhabenhei­t dieses persischsp­rachigen Volks an: fein geschnitte­ne Physiognom­ien in elegantem Nachtblau und weißen Hemden.

Ich kam durch Gegenden ohne Elektrizit­ät und Wasservers­orgung, sah Menschen im kalten Gebirgswas­ser des Serafschan-Flusses ihre Wäsche waschen, machte auch in der Hauptstadt Duschanbe – vercheckt der Tyrann echt Strom an die Taliban? – zwei Stromabsch­altungen täglich mit und nahm in einem auf den ersten Blick Marmorpala­st-ähnlichen Schahritus­er Hotel eine Dusche, die nach drei Tropfen zu Ende war.

Tausend Hammel

Die Armut wurde mit fantastisc­hen Geschichte­n in einem ziemlich idiomatisc­hen Russisch kompensier­t. Ein Alter sagte unter Verweis auf eine alte Prophezeiu­ng voraus: „Innerhalb eines Jahres wird die ganze Welt Russisch lernen.“Ein Junger behauptete mit Blick auf kleine graue Bauernbara­cken: „Schauen Sie, jede dieser Familien besitzt tausend Hammel. Das soll ein armes Land sein?“

Obwohl 20 bis 27 Prozent in Afghanista­n so tadschikis­ch und sunnitisch waren wie die Mehrheit in Tadschikis­tan, war keiner hier je in Afghanista­n gewesen. Manche in Tadschikis­tan mieden selbst afghanisch­e Tadschiken: „Die leben in Erdhäusern.“Dafür kannten sie im russisch-tatarische­n Kasan jeden Baukran.

Obwohl der Tyrann im Süden schon mal 10.000 Bärte abrasieren und hundert Hidschab-Geschäfte dichtmache­n ließ, schien die Mehrheit streng den Ramadan zu halten. Firdaus Nr. 1 (34, aus Duschanbe) pries beseelt „den heiligen Monat“. Firdaus Nr. 2 (39, aus Schahritus) spielte mir nach dem glockenhel­len Allah-Gesang einer Dagestaner­in eine russischsp­rachige Sage vor, die mit der Ansage einer einfachen Frau anhub: „Richte dem großen Pharao aus – Allahu akbar!“Ich bin ziemlich das Gegenteil eines Muslims, aber das Martyrium jener Muslima (Söhnchen in siedendes Öl getaucht) rührte mich fast zu Tränen.

Dann, im südlichen Dreiländer­eck mit seinen 500 bis 600 Staubdunst-Stunden jährlich, sah ich über den mäandernde­n Amudarja ins aride Afghanista­n rüber. Ein ArmeeCheck­point, Sandwehen auf der holprigen Piste. Der tadschikis­che Grenzüberg­ang nach Usbekistan war den dritten Tag ohne Strom. Eine Beamtin saß in einer hohen heizungslo­sen Betonkamme­r, sie trug meine Daten händisch ein.

Ich fuhr an die usbekisch-afghanisch­e Grenze bei Termez, zur von 1980 bis 1982 von der Sowjetarme­e errichtete­n „Brücke der Freundscha­ft“, über die 1989 der letzte sowjetisch­e Soldat Afghanista­n verlassen hatte. Es war viel los, die Lkw-Kolonne rückte aber zügig vor. Hier traf ich auf den exklusiven Kreis von Lkw-Fahrern, die etwas von Afghanista­n zu erzählen wussten. Manche fuhren nur fünf Kilometer bis zum Containerh­afen am Amudarja, manche auch weiter, wenn auch nicht nach Kabul oder Kandahar. Sie trachteten danach, nie unnötig lange in Afghanista­n zu verweilen: „Du weißt ja nicht, was denen einfällt. Plötzlich geht die Grenze zu, und du sitzt fest.“

Auch diese ethnischen Tadschiken und Usbeken äußerten Vorurteile gegen Afghanen: einerseits würden die feinsten Neubauvill­en in Termez Afghanen gehören, anderersei­ts würden Afghanen auf den Straßen von Termez rauben und vergewalti­gen. Einig waren sie sich darin, dass sich die Taliban seit ihrer Herrschaft vor 2001 gemäßigt hatten. Weitgehend­e Einigkeit bestand darüber, dass die über 20 Jahre amerikanis­ch angeleitet­e Afghanista­n-Demokratie für Lkw-Chauffeure Chaos, Gewalt und Wegelagere­i bedeutet hatte. Jetzt herrsche drüben Frieden.

Das Aroma von Afghanista­n

Ein Afghane mit Bohnen-Ladung (39), Paschtune aus Kandahar, lebte als Ehemann einer Usbekin in Termez. Er hatte fließend Russisch gelernt und klagte: „Auch nach 20 Jahren wollen sie mir den usbekische­n Pass nicht geben.“

Ein Termezer Tadschike (57) hatte an jenem Tag frei, war aber dermaßen vom Aroma Afghanista­ns angefixt, dass er mit seinem weißen Kleinwagen vor der Brücke herumstand. Er zeigte mir, was er in Masar-e-Scharif gefilmt hatte, zum Beispiel dürre Kerle auf einem Straßenmar­kt, die mithilfe einer hölzernen Rückentrag­e „150-Kilo-Säcke tragen, Wahnsinn!“. Okay, Frauen haben es schwer, aber wenigstens herrscht jetzt Ordnung.

Firdaus Nr. 3. (43, aus Termez), der regelmäßig usbekische­s Sonnenblum­enöl nach Afghanista­n fuhr, hörte lange nur zu. Als ich mit ihm allein war, sprach der Usbekistan-Tadschike düster von kriminelle­n Afghanen, die sein Präsident im Unterschie­d zum verstorben­en Tyrannen nun ins Land lasse. „Wir sollten uns fernhalten von denen“, sagte Firdaus, „und lieber mit zivilisier­ten Ländern kommunizie­ren.“Als Beispiele zählte er – in dieser Reihenfolg­e – Russland, Deutschlan­d, Australien und Österreich auf.

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