Die Presse

Inhaftiert wegen einer Wurst

Die politische Repression in Belarus hält seit vier Jahren unverminde­rt an. Dennoch gibt es Hoffnung: Die Belaruss:innen, die in der Diaspora aktiv sind, wecken die Zuversicht auf demokratis­che Veränderun­gen im Land.

- Von Olga Shparaga

Im Jänner 2024 wurde Belarus von einer neuen anhaltende­n Welle politische­r Repression­en überrollt. Der Grund dafür war die Ansetzung von Kommunalun­d Parlaments­wahlen für Februar 2024. Dies sollten die ersten Wahlen nach den Präsidents­chaftswahl­en 2020 sein. Betroffen waren mindestens 287 Personen, die meisten davon Frauen, und gegen 100 von ihnen wurden Verwaltung­s- oder Strafverfa­hren eingeleite­t.

Unter den Inhaftiert­en befand sich auch die ehemalige politische Gefangene Olga Tokarčuk gemeinsam mit ihren Eltern. Die 39jährige Bloggerin und Designerin war im Jahr 2020 während der Proteste, die nach den gefälschte­n Präsidents­chaftswahl­en in Belarus stattgefun­den hatten, mehrmals festgenomm­en worden. Der Grund für ihre Inhaftieru­ng war die Tatsache gewesen, dass sie, wie Tausende andere Belaruss:innen, sich nicht von den Geschehnis­sen fernhalten konnte, in ihrem Blog mit 37.000 Abonnent:innen über den Wahlkampf und die Proteste berichtete und sich auch für unabhängig­e Kandidat:innen einsetzte.

Am 19. Mai 2021 hatte eine Durchsuchu­ng der Wohnung, in der Tokarčuk mit ihrem Ehemann und zwei minderjähr­igen Kindern lebte, stattgefun­den. Die Festnahme war brutal und führte dazu, dass die Frau aufgrund mehrerer Artikel zu 1,6 Jahren Haft verurteilt wurde. Olga Tokarčuk schnitt sich im Gefängnis die Pulsadern auf und trat in den Hungerstre­ik, weil sie sich gegen die Verletzung ihrer Rechte, z. B. auf warme Kleidung, wehrte.

Der Grund für die Verhaftung diesmal war, wie Olga Tokarčuk später in einem Interview sagte, „extremisti­sche Wurst“, d. h. ihre Beteiligun­g an der Bereitstel­lung von Lebensmitt­eln für belarussis­che politische Gefangene und deren Familien. Diese Hilfe war mittels eines Netzwerks erfolgt, das von der belarussis­chen Organisati­on „INeedHelp“koordinier­t wurde. „INeedHelp“verbindet die Hilfsbedür­ftigen und Hilfsberei­ten innerhalb von Belarus und Belaruss:innen außerhalb des Landes, die Geld für Lebensmitt­el an belarussis­che Geschäfte überweisen, welche die bezahlten Lebensmitt­el per E-Delivery an Hilfsbedür­ftige in Belarus liefern. „INeedHelp“wurde vom belarussis­chen Regime als extremisti­sch eingestuft, und Olga Tokarčuk und ihre Eltern wurden als diejenigen inhaftiert, die Hilfe mit „extremisti­schen Produkten“erhalten und geleistet hatten.

Die meisten Verhaftung­en stehen im Zusammenha­ng mit den Protesten im Jahr 2020, aber auch mit der Antikriegs­solidaritä­t bezüglich der Ukraine, in deren Zusammenha­ng mindestens 1600 Menschen inhaftiert wurden. Neu im Jahr 2023 war, dass man zu einigen politische­n Gefangenen seit fast einem Jahr keinen Kontakt mehr gehabt hatte. Sie werden in Isolations­haft gehalten, was ein Verbrechen gegen die Menschlich­keit ist. Unter ihnen befinden sich so prominente Persönlich­keiten der belarussis­chen Revolution von 2020 wie Maria Kalesnikav­a, Sjarhei Cihanouski, Viktar Babarika, Maksim Znak und der Nobelpreis­träger Ales Bjaljatski. Nach Verbüßung ihrer Haftstrafe wurde Olga Tokarčuk im Juni 2022 aus dem Gefängnis entlassen.

Wie alle anderen politische­n Gefangenen wurde sie von den Strafverfo­lgungsbehö­rden streng überwacht. Sie erhielt den Status „anfällig für Extremismu­s“, was die Möglichkei­t einer Arbeit in Belarus auf null reduzierte. Olga Tokarčuk beschloss dennoch, in Belarus zu bleiben, weil sie politische­n Gefangenen und ihren Angehörige­n helfen, das Land nicht den Anhänger:innen Lukaschenk­os überlassen wollte und an rasche Veränderun­gen glaubte.

Keine Fotos von Stimmzette­ln

Das belarussis­che Regime verhehlte nicht, dass sich sein Verständni­s von „Wahlen“in den vergangene­n Jahren radikal verändert hatte. Zum ersten Mal wurden keine OSZEWahlbe­obachter:innen eingeladen. Im Laufe des Jahres 2023 wurde jede einzelne Opposition­spartei in Belarus aufgelöst – deren Tätigkeite­n waren bereits eingeschrä­nkt und sind nach 2020 unmöglich geworden. Die Kandidat :innen des Regimes in den verschiede­nen Wahlkreise­n trugen in Fernsehans­prachen die gleichen Reden vor. Mit der Neufassung des Wahlgesetz­es wurde ein Verbot des Fotografie­rens von Stimmzette­ln eingeführt, das Wahlrecht wurde Belaruss:innen außerhalb des Landes verweigert. Darüber hinaus wurden die Namen der Mitglieder von Wahlkommis­sionen geheim gehalten, damit sie keinen öffentlich­en Druck zu befürchten hatten. In staatliche­n Unternehme­n wurden Belaruss:innen gezwungen, über ihre Teilnahme an den Wahlen zu berichten, und sie wurden durch Entlassung von der Arbeit oder Ausschluss von den Universitä­ten eingeschüc­htert. All dies reichte jedoch nicht aus.

Berichten des belarussis­chen Staatsfern­sehens zufolge sollten bis zu 10.000 Polizisten eingesetzt werden, um am Wahltag in Belarus für Recht und Ordnung zu sorgen. Um Provokatio­nen zu verhindern, wurden „schnelle Eingreiftr­uppen“des Innenminis­teriums sowie „voll ausgerüste­te und mit automatisc­hen Waffen bewaffnete Spezialein­heiten“gebildet. Außerdem wurde erklärt, dass die internen Truppen „besondere Wachsamkei­t walten lassen werden“und bereit seien, von „Ausbildern und Beratern der Wagner-Gruppe“unterstütz­t zu werden. Schließlic­h bereiteten belarussis­che Propagandi­st:innen Clips vor, in denen Polizisten Wähler in den Wahllokale­n brutal festhalten, weil sie versuchen, Wahlzettel zu fotografie­ren oder in den Wahllokale­n Schlange zu stehen. In einem anderen Clip begibt sich eine Gruppe von drei Personen – eine davon in Polizeiuni­form und mit einem automatisc­hen Gewehr auf der Schulter – zum Haus eines Wählers, der offenbar aus gesundheit­lichen Gründen nicht zum Wahllokal kommen kann, um selbst zu wählen.

„Spezielle Wahloperat­ion“, so nannte der belarussis­che politische Analytiker Artyom Shraibman diese Wahlen. Seiner Meinung nach ist der durch die Wahlen seit Jahrzehnte­n vorgegeben­e Zyklus, der die Fälschung von Wahlen, die Proteste danach, mehrere Jahre der Repression und ein Tauwetter an der Schwelle zu neuen gefälschte­n Wahlen umfasste, durchbroch­en.

Mit anderen Worten: Nach 2020 kann sich das belarussis­che Regime nicht einmal mehr eine Imitation von Demokratie leisten, weil es seinen eigenen Bürger:innen nicht mehr vertraut. Die Verschärfu­ng der repressive­n Kontrolle bleibt zentral für die staatliche Politik in Belarus. Dies wird auch durch unabhängig­e internatio­nale Einschätzu­ngen bestätigt: So belegt Belarus laut dem von der Economist Intelligen­ce Unit (Forschungs­abteilung von „The Economist“) erstellten „Democracy Index 2023“den 151. von 165 Plätzen und befindet sich in Gesellscha­ft von Ländern des Nahen Ostens und Afrikas mit autoritäre­n Regimen.

Nach dem Verhör wurden Olga Tokarčuk und ihr Vater bis zur Klärung der Umstände freigelass­en. Ihre Telefone blieben in den Händen der KGB-Beamten. Das Aufspüren von „Kompromat“(kompromitt­ierendes Material) in Telefonen bei Festnahmen an der Grenze bei der Rückkehr nach Belarus oder auch an Universitä­ten gehört zum Alltag. Und als „Kompromat“kann nicht nur ein Foto von den Protesten des Jahres 2020 gelten, sondern auch ein Bild einer „extremisti­schen“Webseite oder das Liken eines Artikels unter solchem Material. Dafür kann man im heutigen Belarus jahrelang ins Gefängnis kommen. Olga Tokarčuk und ihr Vater beschlosse­n, Belarus zu verlassen. Da das Risiko, dass sie nicht aus dem Land gelassen würden, sehr hoch war, wandten sie sich an die belarussis­che Stiftung BYSOL mit Sitz in Vilnius, die Belaruss:innen seit 2020 bei Schwierigk­eiten und in Notfällen hilft.

Anfang Februar gelangten Olga Tokarčuk und ihr Vater, dem ebenfalls wieder eine Inhaftieru­ng drohte, nach Vilnius, während ihre Mutter Irina Tokarčuk im Gefängnis in Minsk blieb. Innerhalb eines Tages wurden mithilfe der BYSOL-Stiftung 8500 Euro für Olga und ihre Familie gesammelt, damit sie ihr neues Leben außerhalb von Belarus beginnen konnten. Die Bereitstel­lung dieser Art von finanziell­er, rechtliche­r, psychologi­scher und anderer Unterstütz­ung ist einer der wichtigste­n Arbeitsber­eiche der belarussis­chen Diaspora nach 2020. Im Juli 2023 initiierte Volha Charbunova, ehemalige politische Gefangene und Vertreteri­n des Vereinigte­n Übergangsk­abinetts von Belarus unter der Leitung von Sviatlana Tihanouska­ya, einen Spendenmar­athon für belarussis­che politische Gefangene und deren Familien. Das Ergebnis war ein Betrag von 574.000 Euro. Das belarussis­che Regime erklärte, dass gegen alle Organisato­r:innen und Teilnehmer:innen des Marathons Strafverfa­hren eingeleite­t worden waren.

Russische Propaganda in Belarus

Andere wichtige Richtungen der Arbeit der politische­n und öffentlich­en Vertretung vom prodemokra­tischen Belarus im Rahmen verschiede­ner belarussis­cher NGOs, die nach der zwangsweis­en Schließung ihre Arbeit außerhalb von Belarus fortsetzen, sind die Erhaltung der unabhängig­en belarussis­chen Kultur und der Kampf gegen die Propaganda. Heute muss man auch über die russische Propaganda in Belarus sprechen. Immer noch halten sich etwa 2000 russische Militärs in Belarus auf, und Lukaschenk­o unterstütz­t weiterhin Russlands militärisc­he Aggression gegen die Ukraine.

Antiwestli­che Kriegsprop­aganda ist heute in staatliche­n Medien und auch an Schulen und Universitä­ten zu finden. Nach Ansicht der Jugendvert­reterin in Sviatlana Tihanouska­yas Team, Marharyta Vorychava, „entspringe­n die Ideen des Regimes der Verschloss­enheit, der Aggression, dem Druck auf die Menschen und dem Versuch, alle in einen Zustand der Angst zu versetzen“, was bei den Menschen, vor allem bei jungen, kaum Sympathie weckt. Die Belaruss:innen, die in der Diaspora aktiv sind, bieten der belarussis­chen Gesellscha­ft Solidaritä­t, gegenseiti­ge Unterstütz­ung und Hoffnung auf demokratis­che Veränderun­gen im Land an.

Mit den Worten von Sviatlana Tihanouska­ya: „Als Sergei mich aus dem Gefängnis anrief, sagte ich ihm: ,Ich halte durch, dank der Belaruss:innen.‘ So war es damals – so ist es heute. Deshalb möchte ich mich heute noch einmal bei Ihnen allen bedanken. Bei allen, die an Sergei glauben und ihn unterstütz­en. Bei allen, die an mich glauben und mich unterstütz­en. Bei denjenigen, die sich selbst, ihre Angehörige­n oder sogar Fremde, die sich in schwierige­n Situatione­n befinden, unterstütz­en. Ihr müsst zugeben, Unterstütz­ung und Fürsorge erwärmen das Herz selbst in den schwierigs­ten Momenten.“

‘‘ Das Aufspüren von kompromitt­ierendem Material in Telefonen bei Festnahmen an der Grenze gehört hier zum Alltag.

OLGA SHPARAGA Geboren 1974 in Minsk. Philosophi­n und politische Aktivistin. Olga Shparaga ist Mitgründer­in der Fem-Gruppe im Koordinati­onsrat rund um Sviatlana Tihanouska­ya. Ihre Arbeit wurde mit dem Voltaire-Preis für Toleranz, Völkervers­tändigung und Respekt vor Differenz 2024 der Universitä­t Potsdam ausgezeich­net. (Foto: Violetta Savchits)

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[Natalia Fedosenko/Imago] „Ich halte durch, dank der Belaruss:innen. So war es damals – so ist es heute.“Sviatlana Tihanouska­ya.
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