Der Erzähler ging mir auf die Nerven
Das erste Problem war der Schluss. Er machte mir schon vor Beginn des Schreibens Sorge. Eintauchen in eine andere Zeit, ein anderes Denken, eine andere Mode, das sollte funktionieren. Wie konnten diese Fäden zu einem Ende zusammengewirkt werden?
Das Rohmanuskript ist fertig. Ich warte. Thomas, ein guter Freund und erfahrener Schriftsteller, war bereit, es zu lesen. Was für ein Urteil wird er fällen?
Die Unsicherheit ist wieder stärker geworden. Was, wenn Thomas alles infrage stellt, mir erklärt, warum das Manuskript nicht funktioniert? Ich kann nicht mehr zurück. Viele Monate liegen hinter mir – die Konzeption, die Recherchereise, die ersten Zeilen und Hunderte Stunden vor dem Computer. Ich will das alles nicht missen: die Erfahrungen und die Erkenntnisse, die immer wiederkehrenden und letztlich überwundenen Krisen.
Das erste Problem – so seltsam das klingen mag – war der Schluss. Er machte mir schon vor Beginn des Schreibens Sorge. Loslegen, das sollte ja gehen. Eintauchen in eine andere Zeit, ein anderes Denken, eine andere Mode, das sollte funktionieren. Aber dann, wie konnten all diese Fäden zu einem Ende zusammengewirkt werden?
Professionell eine Geschichte zu erzählen und zu Ende zu führen haben wir im Journalismus gelernt. Das ist reines Handwerk. Ein gutes Handwerk, das hilft. Aber einen Artikel zu schreiben funktioniert anders, als einen Roman zu verfassen. Und die Länge ist dabei das geringste Problem. Allein der Wechsel von Fakten zur Fiktion ist ein riesiger Schritt.
Zuerst zu den Schauplätzen, dachte ich mir. Ich besuchte das Haus in Ottakring, wo einst die Lusterwerkstatt war. Ich besuchte das Café Prückel, die Universität für angewandte Kunst, reiste zum alten Wohnhaus nach Aussig, weiter nach Berlin, zum Bauhaus nach Weimar und Dessau. Dann kamen neue Schauplätze hinzu: die Heubergsiedlung in Wien-Dornbach, der damalige Sommerfrischeort Piesting in Niederösterreich und ein Ort, den es in seiner ursprünglichen Form nicht mehr gibt : das Café Schweden am Wiener Schwedenplatz. Das Lokal wurde zu Ende des Zweiten Weltkriegs in Schutt und Asche gebombt. Aber es gibt historische Aufnahmen davon, Zeitungsberichte. In meinen Gedanken stehe ich statt vor dem Eingang in die U-Bahnstation vor dem Eingang ins Café.
Weil mir die Fiktion noch als unsicheres Terrain erschien, verkroch ich mich lange – vielleicht allzu lange – zwischen Fakten. Die schönsten und ruhigsten Orte dieser Recherchearbeit waren die Archive. Sie boten noch und noch Informationen, die es wert erschienen, berücksichtigt zu werden. Sie eigneten sich als wunderbare Kulisse. Doch bald wurde mir klar: Sie ersetzen nicht die Erzählung mit ihren Strängen, die Protagonisten mit ihren Charakteren. Ich musste es schaffen, diese beruflich erlernten Haltegriffe endlich loszulassen.
Der Duft von Lavendel
Ich wollte es sanft angehen. Ein alter Schreibtisch im Haus auf dem Land mit Blick auf die Ausläufer der Alpen, drinnen klassische Musik, der Duft von Lavendel und ein Mac-Book. Dann schien alles wunderbar – der Blick, der Duft, die Technik. Aber nichts passierte. Nichts. Kein kreativer Gedanke entstand, nichts floss. Alles stockte.
Mein Respekt vor der Arbeit von SchriftstellerInnen ist gestiegen. Ich bewundere sie, die ihre kreativen Gedanken so steuern können, dass letztlich alles einen Sinn ergibt. Ich bewundere sie für ihre Ausdauer, für die Genauigkeit und Leichtigkeit ihrer Sprache. Wörter aneinanderreihen ist keine Herausforderung, ihnen eine Melodie zu verleihen schon. Das Bewusstsein, dass jeder Ton stimmen muss, löste bei mir von Mal zu Mal nur Stille aus.
„Reisen hilft“, empfahl ein Kollege. In Berlin, in einer kleinen Wohnung mit grandiosem Supermarkt ums Eck, hat das Mac-Book tatsächlich ein erstes erwähnenswertes Stück Text in sich aufgenommen. Dreimal gespeichert, damit es ja nicht verloren geht. Im Hauptspeicher, in der Cloud und auf dem USB-Stick. Es gibt zumindest Momente, so die erste positive Erkenntnis, da funktioniert der Fluss zwischen Kopf und Tastatur.
Doch dann kam der Corona-Lockdown. Das Leben und die Reisen erstarrten. Es war nichts daraus zu schöpfen. Ich recherchierte online und wartete. Die Muse versteckte sich zwischen all den maskierten Menschen.
Erst irgendwann, viel später, an einem einsamen Tag im Haus auf dem Land bei schlechtem Wetter und schlechter Sicht auf die Ausläufe der Alpen, kam die nächste positive Erkenntnis: Es kann gelingen, dass Ideen im Kopf ein Eigenleben entwickeln. Erstmals schrieb ich bis tief in die Nacht. Es erfasste mich eine Euphorie, die bis zum nächsten Morgen anhielt. Dann folgte die Ernüchterung. Am neuen Tag war der Kopf leer. Und es stellte sich heraus, dass der euphorisch geschriebene Text der vergangenen Nacht voll von Rechtschreibfehlern war und – noch schlimmer – voll von Banalitäten. Die nächste Nacht verbrachte ich damit, ihn radikal zu überarbeiten.
Der sanfte Zugang brachte nichts. Schreiben ist kein linearer Vorgang, so gut es auch vorbereitet wird. Vielleicht sollte es das auch gar nicht sein, sonst droht Langeweile, Langatmigkeit. Die nächste Erkenntnis: Im Kampf mit sich selbst ist die Kreativität ehrlicher als in der Euphorie.
Der Teufel im Hirn
Die Euphorie ist der Teufel im Hirn, der alles verspricht, ohne es zu halten, Gefühle freigibt, die unbrauchbar sind. Wie in einem Drogenrausch erscheint mit einem Mal alles machbar, bis alles entgleitet. Dann sind Kapitel auf dem Mac-Book, in der Cloud und auf dem USB-Stick gespeichert, die nicht mehr passen, die den Zusammenhang, den Plot verloren haben. Da hilft nur noch Streichen, Kürzen und sich selbst vergeben. Die nächste Erkenntnis: Ohne Großzügigkeit gegenüber sich selbst ist kein Roman zu schreiben.
Erst in einer langen Phase intensiver Arbeit wurde das Schreiben stabiler. Der Kopf formte nun im richtigen Tempo Bilder, fügte sie zusammen. Ich zeichnete sie, die Protagonisten. Sie nahmen Formen an, sie bekamen Gesichter, Kleidung. Sie begannen sich zu bewegen wie Schauspielerinnen in einem Film, traten auf, verschwanden, stritten untereinander, lachten. Sie zeigten sich von ihren besten und schlechtesten Seiten.
Übrigens: Er hat noch immer nicht angerufen. Ich vertreibe mir die Zeit mit Lavendelblüten abrubbeln und Gartenarbeit. Was dauert so lange? Sein Urteil, dass das alles zu vergessen ist? Seine konstruktive, detailreiche Kritik? Gut, ich darf mich nicht verrückt machen. Der Roman ist mein Kopfkind geworden, er wurde Teil von mir, gespeist durch Familiengeschichten, Interessen und Sehnsüchten. Wer schreibt, gibt viel von sich her. Die Seele muss sich weit öffnen, bis Sinne, Gefühle und Leidenschaften ihren Weg aus dem Verborgenen an die Oberfläche finden. Ich kann all das Freigelassene nicht mehr zurückholen. Will es auch nicht.
Die Aufnahmen wurden schlechter
Beim Lavendelblüten-Abrubbeln erinnere mich, wie alles begann: Es war vor vielen Jahren, als sie mich um meinen alten Kassettenrekorder bat. Sie wollte darauf ihre Lebensgeschichte erzählen. Und ich sei der Richtige, sie einmal zu erhalten, sagte sie. Meine Mutter war damals bereits schwer krank. Ihre Stimme versagte immer öfter. Von Woche zu Woche wurden die Aufnahmen schlechter, ihre Worte unverständlicher. Dann nur noch Stöhnen, Atmen. Sie hatte ihre Krankheit aufgenommen. Die Tonbandkassetten dokumentierten ihren gesundheitlichen Verfall. Die Geschichte, ihre Lebensgeschichte, löste sich langsam darin auf.
Noch zu Beginn, als ihre Stimme zeitweise funktioniert hatte, beschrieb sie ihren Vater, den sie im Alter von sieben Jahren verloren hatte. Er war über Nacht gegangen, von der Großmutter aus der Wohnung geworfen. Aus ihrer Schilderung wurde deutlich, dass sie ihm verzeihen wollte – seine Fehler, sein Verschwinden. Sie liebte ihn, liebte seine Großherzigkeit, seine Kreativität und Aufmerksamkeit. Damals wurde mir klar, warum sie ihr ganzes Leben lang von Verlustängsten geplagt war. Jeden Menschen, den sie liebte, fürchtete sie zu verlieren. Im Alter wurde das noch schlimmer.
Nachdem sie gestorben war, schaffte ich es lange nicht, die Tonbandkassetten anzuhören. Erst einige Jahre später transkribierte ich sie. Sie boten ein Stückwerk aus Lebensabschnitten, weder chronologisch, noch sonst irgendwie geordnet. Immer öfter wiederholte sie sich. Dennoch war es ein Dokument ihres Lebens mit Details, die ich nicht kannte, die mich neugierig machten. Insbesondere jene zu meinem verschwundenen Großvater.
Seine Geschichte war nicht vollständig. Es waren nur Fragmente. Aber ich konnte nicht mehr von ihr lassen. Sie wollte fertig erzählt werden. Dieser Drang in mir wurde stärker und stärker.
In Stockholm ins Café
Ich recherchierte, fand seine zweite Tochter, die Halbschwester meiner Mutter. Eine herzliche Schwedin mit wachen Augen, die auf ihr Äußeres großen Wert legte. Sie erzählte mir von ihrem Vater – wie er gewesen war. Sie sei mit ihm manchmal in Stockholm in ein Café gegangen. Er liebte Kaffeehäuser – hatte einige selbst als Innenarchitekt gestaltet. Das war mir damals neu. Ich wusste, dass er in der Zwischenkriegszeit Lampen produziert hatte, schöne, moderne Lampen, aber wofür, wusste ich nicht. Nun erfuhr ich ein wenig mehr über seine Arbeit, seine Begeisterung für das Design von Geschirr, Lampen und Möbeln, die ihn letztlich nach Schweden gelockt hatte. Immer tiefer drang ich in seine Geschichte. Ich fand Lebensstationen, fand Artikel in Zeitungen über seine Erfolge bei der Gestaltung von Kaffeehäusern, Hotels und Gasthöfen. Ich fand sein Haus in Aussig, das er nach seinem Umzug aus Wien bewohnt hatte. Es waren viele Details, aber mein Großvater hatte keine Sprache. Er sah mich schweigend von den wenigen SchwarzWeiß-Fotos an, die ich nun von ihm besaß.
Das Einfügen von Leerräumen
Zuerst plante ich, seinen Lebensweg zu dokumentieren. Ich war in Schweden, suchte in Archiven in Wien. Ich recherchierte und fand einiges über ihn. Aber mir wurde klar: Nur wenn es mir gelänge, die Räume zwischen all den Fakten auszufüllen, könnte sein besonders Leben erzählt werden. Ein Leben voll von Aufbrüchen, Katastrophen und Neuanfängen. All das eingebettet in eine der spannendsten Perioden der Zeitgeschichte – die 1920er- und 1930er-Jahre.
Es formte sich im Kopf langsam eine Idee für einen Roman, aber noch gab es viele Lücken, Brüche, Ungereimtheiten. Ich wollte sie auflösen, bis mir ein erfahrener Feuilletonist erklärte, dass Brüche für einen Roman notwendig seien – auch Auslassungen. Das war genau das Gegenteil dessen, was ich im Journalismus gelernt hatte. Das Einfügen von Leerräumen, in denen der Leser seine eigenen Schlüsse ziehen kann. Erst spät begriff ich: Meine Leser mussten von mir befreit werden.
Das war letztlich die größte Erkenntnis: Ein Roman muss sein Eigenleben produzieren. Es reicht nicht, eine Lebensgeschichte nachzuerzählen, zu moderieren. Die Protagonisten müssen sich von ihren historischen Vorbildern befreien. Sie müssen ihre eigenen Gedanken, ihre besondere Sprache entwickeln – einzigartig und nicht bloß Kopie der Wirklichkeit sein. Sie müssen mehr hergeben als normale Menschen, dürfen widersprüchlicher, liebevoller und sogar widerlicher sein. Sie brauchen einen ausgeprägten Charakter, um literarisch zu funktionieren.
Selbst all diese Erkenntnisse sind keine Garantie für einen guten Roman. Irgendwo zwischen dem Kopf, in dem sich langsam die Struktur formt, sich eine Fantasie entwickelt, und den Fingern, die eine solche Geschichte in den Computer tippen, sind Filter eingebaut. Sie verstopfen leicht und lassen keinen Durchfluss mehr zu. Eine dieser Verstopfungen traf meinen Erzähler. Er ist nicht nur ein objektiver Erzähler, sondern ein Protagonist der Geschichte. Was ich einst als guten Einfall empfand, stellte sich bald als große Hürde heraus.
Die Bewertung ist eine Katastrophe
Mitten in der Nacht kommt die Mail mit der ersten Bewertung von Thomas: Sie ist eine Katastrophe. Der Erzähler war ihm schon zu Beginn des Manuskripts auf die Nerven gegangen. „Der ist viel zu sehr wie Du.“Seine Beurteilung fällt ehrlich und schmerzhaft aus. Aber vielleicht seien es auch nur ein paar kleine Änderungen, damit alles funktioniere, schrieb er zum Schluss. Der Plot sei gut, letztlich werde es ein toller Roman, da sei er sicher. Diese letzten beiden Sätze, mit denen er mich wieder aufrichten wollte: Sie kamen nicht mehr bei mir an.
Ein Schock, dann das Adrenalin. Noch in derselben Nacht schreibe ich die ersten Kapitel um, dort, wo der Erzähler zum Erzähler wird, dort, wo er seinen Charakter erhält. „Ich kämpfe mit der Erzählerperspektive, der Art, wie die Figur über sich und andere denkt und redet, und wie umgekehrt die anderen über ihn denken und reden. Eine neutrale Perspektive von außen ist ganz unmöglich.“Dieser Dialog zwischen Verleger und Autor in Pascal Merciers Buch „Das Gewicht der Worte“half mir, meinen Fehler zu verstehen. Wer ist er? Warum erzählt er so, wie er erzählt? Es wurde mehrdimensional.
Am nächsten Morgen sende ich eine Mail mit der neuen Version an Thomas. Er braucht diesmal nicht lange für seine Antwort. „Wie hast Du das geschafft? Es funktioniert. Halleluja!“, schreibt er zurück, und ich falle vor Erschöpfung und Müdigkeit ins Bett. In dieser Nacht hat sich als Letzter auch der Erzähler von mir befreit.
Wolfgang Böhm, 1963 in Wien geboren, ist Journalist der Tageszeitung „Die Presse“. Neben seiner Redakteurstätigkeit verfasst er Sachbücher, Schulbücher sowie Essays und Prosastücke. 2022 veröffentlichte er seinen Debütroman „Zwischen Brüdern“bei Picus.