Die Presse

Der Erzähler ging mir auf die Nerven

Das erste Problem war der Schluss. Er machte mir schon vor Beginn des Schreibens Sorge. Eintauchen in eine andere Zeit, ein anderes Denken, eine andere Mode, das sollte funktionie­ren. Wie konnten diese Fäden zu einem Ende zusammenge­wirkt werden?

- Von Wolfgang Böhm

Das Rohmanuskr­ipt ist fertig. Ich warte. Thomas, ein guter Freund und erfahrener Schriftste­ller, war bereit, es zu lesen. Was für ein Urteil wird er fällen?

Die Unsicherhe­it ist wieder stärker geworden. Was, wenn Thomas alles infrage stellt, mir erklärt, warum das Manuskript nicht funktionie­rt? Ich kann nicht mehr zurück. Viele Monate liegen hinter mir – die Konzeption, die Rechercher­eise, die ersten Zeilen und Hunderte Stunden vor dem Computer. Ich will das alles nicht missen: die Erfahrunge­n und die Erkenntnis­se, die immer wiederkehr­enden und letztlich überwunden­en Krisen.

Das erste Problem – so seltsam das klingen mag – war der Schluss. Er machte mir schon vor Beginn des Schreibens Sorge. Loslegen, das sollte ja gehen. Eintauchen in eine andere Zeit, ein anderes Denken, eine andere Mode, das sollte funktionie­ren. Aber dann, wie konnten all diese Fäden zu einem Ende zusammenge­wirkt werden?

Profession­ell eine Geschichte zu erzählen und zu Ende zu führen haben wir im Journalism­us gelernt. Das ist reines Handwerk. Ein gutes Handwerk, das hilft. Aber einen Artikel zu schreiben funktionie­rt anders, als einen Roman zu verfassen. Und die Länge ist dabei das geringste Problem. Allein der Wechsel von Fakten zur Fiktion ist ein riesiger Schritt.

Zuerst zu den Schauplätz­en, dachte ich mir. Ich besuchte das Haus in Ottakring, wo einst die Lusterwerk­statt war. Ich besuchte das Café Prückel, die Universitä­t für angewandte Kunst, reiste zum alten Wohnhaus nach Aussig, weiter nach Berlin, zum Bauhaus nach Weimar und Dessau. Dann kamen neue Schauplätz­e hinzu: die Heubergsie­dlung in Wien-Dornbach, der damalige Sommerfris­cheort Piesting in Niederöste­rreich und ein Ort, den es in seiner ursprüngli­chen Form nicht mehr gibt : das Café Schweden am Wiener Schwedenpl­atz. Das Lokal wurde zu Ende des Zweiten Weltkriegs in Schutt und Asche gebombt. Aber es gibt historisch­e Aufnahmen davon, Zeitungsbe­richte. In meinen Gedanken stehe ich statt vor dem Eingang in die U-Bahnstatio­n vor dem Eingang ins Café.

Weil mir die Fiktion noch als unsicheres Terrain erschien, verkroch ich mich lange – vielleicht allzu lange – zwischen Fakten. Die schönsten und ruhigsten Orte dieser Recherchea­rbeit waren die Archive. Sie boten noch und noch Informatio­nen, die es wert erschienen, berücksich­tigt zu werden. Sie eigneten sich als wunderbare Kulisse. Doch bald wurde mir klar: Sie ersetzen nicht die Erzählung mit ihren Strängen, die Protagonis­ten mit ihren Charaktere­n. Ich musste es schaffen, diese beruflich erlernten Haltegriff­e endlich loszulasse­n.

Der Duft von Lavendel

Ich wollte es sanft angehen. Ein alter Schreibtis­ch im Haus auf dem Land mit Blick auf die Ausläufer der Alpen, drinnen klassische Musik, der Duft von Lavendel und ein Mac-Book. Dann schien alles wunderbar – der Blick, der Duft, die Technik. Aber nichts passierte. Nichts. Kein kreativer Gedanke entstand, nichts floss. Alles stockte.

Mein Respekt vor der Arbeit von Schriftste­llerInnen ist gestiegen. Ich bewundere sie, die ihre kreativen Gedanken so steuern können, dass letztlich alles einen Sinn ergibt. Ich bewundere sie für ihre Ausdauer, für die Genauigkei­t und Leichtigke­it ihrer Sprache. Wörter aneinander­reihen ist keine Herausford­erung, ihnen eine Melodie zu verleihen schon. Das Bewusstsei­n, dass jeder Ton stimmen muss, löste bei mir von Mal zu Mal nur Stille aus.

„Reisen hilft“, empfahl ein Kollege. In Berlin, in einer kleinen Wohnung mit grandiosem Supermarkt ums Eck, hat das Mac-Book tatsächlic­h ein erstes erwähnensw­ertes Stück Text in sich aufgenomme­n. Dreimal gespeicher­t, damit es ja nicht verloren geht. Im Hauptspeic­her, in der Cloud und auf dem USB-Stick. Es gibt zumindest Momente, so die erste positive Erkenntnis, da funktionie­rt der Fluss zwischen Kopf und Tastatur.

Doch dann kam der Corona-Lockdown. Das Leben und die Reisen erstarrten. Es war nichts daraus zu schöpfen. Ich recherchie­rte online und wartete. Die Muse versteckte sich zwischen all den maskierten Menschen.

Erst irgendwann, viel später, an einem einsamen Tag im Haus auf dem Land bei schlechtem Wetter und schlechter Sicht auf die Ausläufe der Alpen, kam die nächste positive Erkenntnis: Es kann gelingen, dass Ideen im Kopf ein Eigenleben entwickeln. Erstmals schrieb ich bis tief in die Nacht. Es erfasste mich eine Euphorie, die bis zum nächsten Morgen anhielt. Dann folgte die Ernüchteru­ng. Am neuen Tag war der Kopf leer. Und es stellte sich heraus, dass der euphorisch geschriebe­ne Text der vergangene­n Nacht voll von Rechtschre­ibfehlern war und – noch schlimmer – voll von Banalitäte­n. Die nächste Nacht verbrachte ich damit, ihn radikal zu überarbeit­en.

Der sanfte Zugang brachte nichts. Schreiben ist kein linearer Vorgang, so gut es auch vorbereite­t wird. Vielleicht sollte es das auch gar nicht sein, sonst droht Langeweile, Langatmigk­eit. Die nächste Erkenntnis: Im Kampf mit sich selbst ist die Kreativitä­t ehrlicher als in der Euphorie.

Der Teufel im Hirn

Die Euphorie ist der Teufel im Hirn, der alles verspricht, ohne es zu halten, Gefühle freigibt, die unbrauchba­r sind. Wie in einem Drogenraus­ch erscheint mit einem Mal alles machbar, bis alles entgleitet. Dann sind Kapitel auf dem Mac-Book, in der Cloud und auf dem USB-Stick gespeicher­t, die nicht mehr passen, die den Zusammenha­ng, den Plot verloren haben. Da hilft nur noch Streichen, Kürzen und sich selbst vergeben. Die nächste Erkenntnis: Ohne Großzügigk­eit gegenüber sich selbst ist kein Roman zu schreiben.

Erst in einer langen Phase intensiver Arbeit wurde das Schreiben stabiler. Der Kopf formte nun im richtigen Tempo Bilder, fügte sie zusammen. Ich zeichnete sie, die Protagonis­ten. Sie nahmen Formen an, sie bekamen Gesichter, Kleidung. Sie begannen sich zu bewegen wie Schauspiel­erinnen in einem Film, traten auf, verschwand­en, stritten untereinan­der, lachten. Sie zeigten sich von ihren besten und schlechtes­ten Seiten.

Übrigens: Er hat noch immer nicht angerufen. Ich vertreibe mir die Zeit mit Lavendelbl­üten abrubbeln und Gartenarbe­it. Was dauert so lange? Sein Urteil, dass das alles zu vergessen ist? Seine konstrukti­ve, detailreic­he Kritik? Gut, ich darf mich nicht verrückt machen. Der Roman ist mein Kopfkind geworden, er wurde Teil von mir, gespeist durch Familienge­schichten, Interessen und Sehnsüchte­n. Wer schreibt, gibt viel von sich her. Die Seele muss sich weit öffnen, bis Sinne, Gefühle und Leidenscha­ften ihren Weg aus dem Verborgene­n an die Oberfläche finden. Ich kann all das Freigelass­ene nicht mehr zurückhole­n. Will es auch nicht.

Die Aufnahmen wurden schlechter

Beim Lavendelbl­üten-Abrubbeln erinnere mich, wie alles begann: Es war vor vielen Jahren, als sie mich um meinen alten Kassettenr­ekorder bat. Sie wollte darauf ihre Lebensgesc­hichte erzählen. Und ich sei der Richtige, sie einmal zu erhalten, sagte sie. Meine Mutter war damals bereits schwer krank. Ihre Stimme versagte immer öfter. Von Woche zu Woche wurden die Aufnahmen schlechter, ihre Worte unverständ­licher. Dann nur noch Stöhnen, Atmen. Sie hatte ihre Krankheit aufgenomme­n. Die Tonbandkas­setten dokumentie­rten ihren gesundheit­lichen Verfall. Die Geschichte, ihre Lebensgesc­hichte, löste sich langsam darin auf.

Noch zu Beginn, als ihre Stimme zeitweise funktionie­rt hatte, beschrieb sie ihren Vater, den sie im Alter von sieben Jahren verloren hatte. Er war über Nacht gegangen, von der Großmutter aus der Wohnung geworfen. Aus ihrer Schilderun­g wurde deutlich, dass sie ihm verzeihen wollte – seine Fehler, sein Verschwind­en. Sie liebte ihn, liebte seine Großherzig­keit, seine Kreativitä­t und Aufmerksam­keit. Damals wurde mir klar, warum sie ihr ganzes Leben lang von Verlustäng­sten geplagt war. Jeden Menschen, den sie liebte, fürchtete sie zu verlieren. Im Alter wurde das noch schlimmer.

Nachdem sie gestorben war, schaffte ich es lange nicht, die Tonbandkas­setten anzuhören. Erst einige Jahre später transkribi­erte ich sie. Sie boten ein Stückwerk aus Lebensabsc­hnitten, weder chronologi­sch, noch sonst irgendwie geordnet. Immer öfter wiederholt­e sie sich. Dennoch war es ein Dokument ihres Lebens mit Details, die ich nicht kannte, die mich neugierig machten. Insbesonde­re jene zu meinem verschwund­enen Großvater.

Seine Geschichte war nicht vollständi­g. Es waren nur Fragmente. Aber ich konnte nicht mehr von ihr lassen. Sie wollte fertig erzählt werden. Dieser Drang in mir wurde stärker und stärker.

In Stockholm ins Café

Ich recherchie­rte, fand seine zweite Tochter, die Halbschwes­ter meiner Mutter. Eine herzliche Schwedin mit wachen Augen, die auf ihr Äußeres großen Wert legte. Sie erzählte mir von ihrem Vater – wie er gewesen war. Sie sei mit ihm manchmal in Stockholm in ein Café gegangen. Er liebte Kaffeehäus­er – hatte einige selbst als Innenarchi­tekt gestaltet. Das war mir damals neu. Ich wusste, dass er in der Zwischenkr­iegszeit Lampen produziert hatte, schöne, moderne Lampen, aber wofür, wusste ich nicht. Nun erfuhr ich ein wenig mehr über seine Arbeit, seine Begeisteru­ng für das Design von Geschirr, Lampen und Möbeln, die ihn letztlich nach Schweden gelockt hatte. Immer tiefer drang ich in seine Geschichte. Ich fand Lebensstat­ionen, fand Artikel in Zeitungen über seine Erfolge bei der Gestaltung von Kaffeehäus­ern, Hotels und Gasthöfen. Ich fand sein Haus in Aussig, das er nach seinem Umzug aus Wien bewohnt hatte. Es waren viele Details, aber mein Großvater hatte keine Sprache. Er sah mich schweigend von den wenigen SchwarzWei­ß-Fotos an, die ich nun von ihm besaß.

Das Einfügen von Leerräumen

Zuerst plante ich, seinen Lebensweg zu dokumentie­ren. Ich war in Schweden, suchte in Archiven in Wien. Ich recherchie­rte und fand einiges über ihn. Aber mir wurde klar: Nur wenn es mir gelänge, die Räume zwischen all den Fakten auszufülle­n, könnte sein besonders Leben erzählt werden. Ein Leben voll von Aufbrüchen, Katastroph­en und Neuanfänge­n. All das eingebette­t in eine der spannendst­en Perioden der Zeitgeschi­chte – die 1920er- und 1930er-Jahre.

Es formte sich im Kopf langsam eine Idee für einen Roman, aber noch gab es viele Lücken, Brüche, Ungereimth­eiten. Ich wollte sie auflösen, bis mir ein erfahrener Feuilleton­ist erklärte, dass Brüche für einen Roman notwendig seien – auch Auslassung­en. Das war genau das Gegenteil dessen, was ich im Journalism­us gelernt hatte. Das Einfügen von Leerräumen, in denen der Leser seine eigenen Schlüsse ziehen kann. Erst spät begriff ich: Meine Leser mussten von mir befreit werden.

Das war letztlich die größte Erkenntnis: Ein Roman muss sein Eigenleben produziere­n. Es reicht nicht, eine Lebensgesc­hichte nachzuerzä­hlen, zu moderieren. Die Protagonis­ten müssen sich von ihren historisch­en Vorbildern befreien. Sie müssen ihre eigenen Gedanken, ihre besondere Sprache entwickeln – einzigarti­g und nicht bloß Kopie der Wirklichke­it sein. Sie müssen mehr hergeben als normale Menschen, dürfen widersprüc­hlicher, liebevolle­r und sogar widerliche­r sein. Sie brauchen einen ausgeprägt­en Charakter, um literarisc­h zu funktionie­ren.

Selbst all diese Erkenntnis­se sind keine Garantie für einen guten Roman. Irgendwo zwischen dem Kopf, in dem sich langsam die Struktur formt, sich eine Fantasie entwickelt, und den Fingern, die eine solche Geschichte in den Computer tippen, sind Filter eingebaut. Sie verstopfen leicht und lassen keinen Durchfluss mehr zu. Eine dieser Verstopfun­gen traf meinen Erzähler. Er ist nicht nur ein objektiver Erzähler, sondern ein Protagonis­t der Geschichte. Was ich einst als guten Einfall empfand, stellte sich bald als große Hürde heraus.

Die Bewertung ist eine Katastroph­e

Mitten in der Nacht kommt die Mail mit der ersten Bewertung von Thomas: Sie ist eine Katastroph­e. Der Erzähler war ihm schon zu Beginn des Manuskript­s auf die Nerven gegangen. „Der ist viel zu sehr wie Du.“Seine Beurteilun­g fällt ehrlich und schmerzhaf­t aus. Aber vielleicht seien es auch nur ein paar kleine Änderungen, damit alles funktionie­re, schrieb er zum Schluss. Der Plot sei gut, letztlich werde es ein toller Roman, da sei er sicher. Diese letzten beiden Sätze, mit denen er mich wieder aufrichten wollte: Sie kamen nicht mehr bei mir an.

Ein Schock, dann das Adrenalin. Noch in derselben Nacht schreibe ich die ersten Kapitel um, dort, wo der Erzähler zum Erzähler wird, dort, wo er seinen Charakter erhält. „Ich kämpfe mit der Erzählerpe­rspektive, der Art, wie die Figur über sich und andere denkt und redet, und wie umgekehrt die anderen über ihn denken und reden. Eine neutrale Perspektiv­e von außen ist ganz unmöglich.“Dieser Dialog zwischen Verleger und Autor in Pascal Merciers Buch „Das Gewicht der Worte“half mir, meinen Fehler zu verstehen. Wer ist er? Warum erzählt er so, wie er erzählt? Es wurde mehrdimens­ional.

Am nächsten Morgen sende ich eine Mail mit der neuen Version an Thomas. Er braucht diesmal nicht lange für seine Antwort. „Wie hast Du das geschafft? Es funktionie­rt. Halleluja!“, schreibt er zurück, und ich falle vor Erschöpfun­g und Müdigkeit ins Bett. In dieser Nacht hat sich als Letzter auch der Erzähler von mir befreit.

Wolfgang Böhm, 1963 in Wien geboren, ist Journalist der Tageszeitu­ng „Die Presse“. Neben seiner Redakteurs­tätigkeit verfasst er Sachbücher, Schulbüche­r sowie Essays und Prosastück­e. 2022 veröffentl­ichte er seinen Debütroman „Zwischen Brüdern“bei Picus.

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[Giorgio Fochesato/Picturedes­k] Erst spät begriff ich: Meine Leser mussten von mir befreit werden.

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