Opfer der woken Hetzjagd
Abel Quentins spannender und kluger Roman „Der Seher von Étampes“handelt von einem Parade-Intellektuellen, dem kulturelle Aneignung vorgeworfen wird.
Es passt, dass der Autor des Romans „Der Seher von Étampes“, auf Französisch bereits 2021 erschienen, Abel Quentin, Jahrgang 1985, als Strafverteidiger in Paris gearbeitet hat. Man merkt diesem Buch an, dass da jemand schreibt, der elegant zu argumentieren weiß, dies mit Leidenschaft tut und sattelfest ist in jener Rechtsmaterie, um die es in dem rund 350 Seiten starken Roman unter anderem geht. Heißen könnte „Der Seher von Étampes“, aber auch „Die Affäre Roskoff“– in Anlehnung an die Affäre Rosenberg, auf die im Roman prominent angespielt wird. Denn anhand der Figur Jean Roskoff, des Ich-Erzählers des Romans, exerziert Quentin vor, welches Schicksal einen Autor im heutigen Frankreich im schlimmsten Fall ereilen kann, selbst wenn er nur einen Band über einen wenig bekannten Lyriker publiziert. Wobei vorweggenommen werden soll: Auf dem elektrischen Stuhl wie die Rosenbergs landet Quentins Held nicht, sein Leben wird „nur“nachhaltig beschädigt und seine gesellschaftliche Existenz vollends zerstört.
Roskoff, pensionierter Maître de conférences einer Pariser Universität und damit laut Eigendefinition „Loser“und „Intellektueller der dritten Reihe“, nimmt, um einerseits dem frischen Pensionsschock und andererseits dem schon weniger frischen Kummer über die Scheidung von Agnès zu entgehen, sein Jugendprojekt wieder auf: Endlich schreibt er den Band über Robert Willow, den US-amerikanischen Jazzmusiker und Lyriker, der Amerika in den 1950er-Jahren, während der McCarthy-Ära, als Kommunist verlässt, um sich in Paris den Existenzialisten um Sartre anzuschließen, ehe er aufs Land zieht, dort plötzlich Lyrik schreibt, die an mittelalterliche Minne erinnert, völlig unpolitisch und transzendental, und schließlich bei einem Autounfall ums Leben kommt.
Als Historiker, Experte für den Kalten Krieg, und früher selbst ein durch und durch politischer Mensch, Mitglied von SOS Racisme und als Parade-Linksintellektueller auf jeder Demo der 1980er-Jahre anzutreffen, fasziniert Roskoff Willows Biografie – vor allem dessen Wandel vom engagierten Kommunisten zum apolitischen Poeten, den er heute, Mitte 60, so gut nachfühlen kann. Auch hofft er, mit diesem Buch sein Selbstwertgefühl aufzubessern, um das es nicht besonders gut bestellt ist, wie man als Leser schnell am galligen Humor bemerkt, mit dem er nicht nur seine Zeitgenossen, sondern stets auch sich selbst beschreibt.
Ist er ein „privilegierter Unterdrücker“?
Tatsächlich erhält er außergewöhnlich viel Aufmerksamkeit für sein Buch, das wie Quentins Roman nach einem Gedicht des – fiktiven – Poeten Willow „Der Seher von Étampes“heißt. Auslöser dafür ist ein Blogbeitrag, der Roskoff der „kulturellen Aneignung“bezichtigt. Denn was er nur en passant in seinem Buch erwähnt, ist die Tatsache, dass Willow, der Kommunist, der Lyriker, auch eine Person of Color war und damit „rassifiziert“, wie das im Vokabular des woken Bloggers heißt. Roskoff als alter, weißer Mann, als Angehöriger der „privilegierten Unterdrücker“, hätte überhaupt nicht über einen „afrodezenten“Autor schreiben dürfen, so der Vorwurf. Roskoff, der einst selbst gegen Rassismus demonstrierte, ist durch sein Buch also plötzlich zum Rassisten geworden.
Sein kleiner Independentverlag und Freund Marc, ein Rechtsanwalt, raten, dazu zu schweigen, doch der mediale Shitstorm, der einsetzt, zieht immer noch gravierendere Folgen nach sich, und am Ende wird ausgerechnet Roskoffs Tochter Léonie, jener Mensch, der ihm am allerwichtigsten ist, Opfer der öffentlichen medialen Hetzjagd … Wie Quentin diese Hetze rund um Roskoff Schritt für Schritt entfaltet, ist beeindruckend. Dass er dabei viele zeithistorische Details über den Kalten Krieg und vor allem über die jüngere politische Geschichte Frankreichs einwebt, mag es für Nichtfranzosen zuweilen vielleicht ein wenig schwierig machen, alle Details, alle Namen richtig einzuordnen. Aber es nimmt insgesamt nicht die Spannung, mit der man Roskoffs Schicksal verfolgt. Außerdem muss Quentin mit derartiger Genauigkeit vorgehen, denn sein Held ist ein über 60-jähriger Wissenschaftler, ein Denker, und damit Anhänger des logischen Arguments, der als Historiker ganz automatisch Parallelen zur Geschichte zieht. Insofern ist Quentins Anlage clever.
Zu viel Gefluche, zu viel Sex
Quentin lässt die Gedanken seines Helden einfach immer wieder schweifen, lässt ihn aus seinem Wissensschatz erzählen, und schon wird deutlich, was Wissenschaftlichkeit im Allgemeinen kann – und im Speziellen, dass Cancel Culture keineswegs eine neue Erfindung ist, sondern schon zu Zeiten Sartres gelebt wurde und die heutige „Diskussionskultur“erschreckende Ähnlichkeiten aufweist mit jener des Kalten Krieges, in der es nur zwei Seiten gab und nur ein Entweder-oder, es vor Spionen wimmelte und man ständig auf der Hut sein musste, nicht als Denunziant zu gelten. Das ist der gedankliche Horizont, den „Der Seher von Étampes“aufmacht. Auch wenn es kein schmeichelhafter Befund sein mag für die heutigen „freien Westmächte“, sich im öffentlichen Gespräch längst in Richtung eines neuen affektgesteuerten McCarthyismus bewegt zu haben, Quentins Argumentation ist sauber und überzeugend – und gerade vor dem Hintergrund der jüngsten Kriege, die begonnen haben, nachdem der Roman bereits publiziert war, und der damit einhergehenden sich radikalisierenden Cancel Culture auch brandaktuell.
Wo Quentin steht, ist durch die Erzählperspektive zu verorten: Er gibt dem alten, weißen Mann das Wort. Viele werden ihn nicht mögen wollen. Einigen wird er in guter alter Linksmanier zu viel fluchen, den anderen zu viel an Sex denken. Er ist unstrategisch ehrlich, und das ist ihm egal. Und das macht ihn doch irgendwie sympathisch, bei all seinen offensichtlichen Fehlern. Er ist ein Skeptiker und Zweifler und als solcher Kämpfer einer alten Welt, die es schon nicht mehr gibt. Er nimmt sein Schicksal nicht kampflos an, aber kultiviert auch keine Opferpose. Er hält sich an seinem Verstand fest, der ihn davor bewahrt, irr zu werden an dem, was ihm passiert, sich ganz zu verlieren in Emotion. Nur wo der Platz sein könnte für so einen wie ihn in der neuen woken Welt, in die er so unsanft gestoßen wurde, das weiß er nicht, das lässt das Ende offen. Ist „Der Seher von Étampes“ein poetisches Buch? Wohl eher nicht. Es setzt mehr auf gedankliche Kraft und beeindruckt mit Klugheit und gekonnter Konstruktion. Hat es den renommierten Prix de Flore zu Recht gewonnen? Auf jeden Fall.