Die Presse

Sex, damit er nicht sauer ist

Roman „Ich stelle mich schlafend“ist eine lohnende Lektüre: Die Autorin erzählt von einer toxischen Beziehung und findet in ihren besten Passagen eine eigene Sprache.

- Von Cornelius Hell

Am schwierigs­ten ist es mit dem ersten Kind und mit dem zweiten Buch, sagte mir eine Schriftste­llerin, die es wissen muss. Inzwischen weiß ich zwar von Geburten eines ersten Kindes, die einfach waren, aber über dem zweiten Buch schwebt immer ein Damoklessc­hwert.

Hat sich nämlich das erste nicht gut verkauft und wurde vielleicht auch noch schlecht kritisiert, so ist das zweite Buch die letzte Chance, doch noch eine Karriere als Autorin oder Autor hinzubekom­men; denn ein drittes Mal wird es wohl kaum ein Verlag versuchen. War hingegen das erste Buch ein fulminante­r Erfolg, wird es sofort zur Messlatte für das zweite, und alle (Verlag, Literaturk­ritik, Leserinnen und Leser) schauen mit Argusaugen darauf und erwarten eine Wiederholu­ng dieses Erfolgs.

Letzteres geschieht bei Deniz Ohde, deren Debütroman „Streulicht“2020 auf die Shortlist des Deutschen Buchpreise­s kam sowie mit dem Literaturp­reis der Jürgen-PontoStift­ung und dem aspekte-Literaturp­reis ausgezeich­net wurde. „Streulicht“wurde im deutschen Feuilleton nicht nur gefeiert, sondern wegen seines wichtigen Themas auch diskutiert: Der Roman beschreibt den Weg einer Ich-Erzählerin türkisch-deutscher Eltern vom Arbeiterki­nd zur Akademiker­in und zeigt mit minutiöser Genauigkei­t, wie schwer dieser Bildungsau­fstieg trotz aller staatliche­n Bemühungen um Chancengle­ichheit in der Bildung immer noch ist. Ich liebe dieses Buch, weil es zu den wenigen gehört, die mir Worte und Bilder für meine eigene Herkunft als Sohn einer Arbeiterin und aus dem Bergbauern­dorf der Kindheit geben. Mit der IchErzähle­rin von „Streulicht“kann ich mich an vielen Stellen identifizi­eren.

Auch Yasemin, die Hauptfigur von Ohdes neuem Roman „Ich stelle mich schlafend“, hat einen Türken zum Vater und eine deutsche Mutter. Wesentlich stärker ist sie aber von einem Umstand geprägt, den der Roman mit dem etwas eigenartig­en (und später variierten) Satz „Yasemin war aus einem gebrochene­n Willen gezeugt worden“ausdrückt. Beim Weiterlese­n begreife ich: Die Mutter war betrunken, als Yasemin gegen ihren Willen gezeugt wurde, und ihre Eltern sind eine „Zweckgemei­nschaft“, weil sie ihretwegen heiraten mussten. Da ist mir auch Yasemin gleich sehr nahe, denn ich weiß, wie es sich anfühlt, wenn man nicht gerade ein Wunschkind war.

Doch bald treten beim Lesen Irritation­en auf, die mich aus dieser Nähe hinauskata­pultieren. Das ganze Buch hindurch wird der Name Yasemin völlig willkürlic­h mit der Kurzform Yase abgewechse­lt – soll damit ein personaler Erzähler signalisie­rt werden, der ganz nahe an seiner Hauptfigur dran ist und sie daher mit der vertraulic­hen Kurzform nennt? Dann geht das jedenfalls nicht auf, weil dieser Erzähler auch die anderen Figuren

zu gut von innen kennt. Und dann merke ich, dass auch ich nicht lesen kann ohne den Vergleich mit Deniz Ohdes erstem Buch.

Im Gegensatz dazu scheint mir Yasemins türkisch-deutsche Herkunft jetzt fast wie eine leere Behauptung – der neue Roman macht so gut wie nichts daraus. Die Eltern haben am Beginn ihren kurzen Auftritt, doch bald danach lösen sie sich nahezu in Luft auf. Was ich aber doch im neuen Roman wiedererke­nne: Ohdes große Fähigkeit, Brachlands­chaften am Stadtrand genau zu beschreibe­n und kleinste Gesten minutiös zu schildern. Sehr gut kann sie die erste Verliebthe­it der vierzehnjä­hrigen Yasemin in den drei Jahre älteren Vito als „Verstricku­ng“entlarven: „Alles Erleben hatte nur noch einen Wert, wenn Vito davon wusste. Sie tat nichts mehr für sich selbst.“

Doch dann komme ich zu Kapitel III mit dem Titel „Sanatorium“– Yasemin muss sich nämlich nach einem Reitunfall langwierig­en Therapien für ihre Wirbelsäul­e unterziehe­n und ein Korsett tragen. Nun will es der Zufall, dass ich das Buch während einer Kur lese, und so erkenne ich die Rituale und Interieurs, die ich hier gerade erlebe, an manchen Stellen eins zu eins im Buch wieder, oder anders gesagt : Ich kann in meinem Kurhotel Szenerien des Romankapit­els betreten.

So kann ich zwar bestätigen, dass diese Sanatorium­swelt gut getroffen ist, aber ich vermag den literarisc­hen Mehrwert dieses gelegentli­ch ermüdenden Detailreal­ismus, über dem die Autorin auch ihre besonderen Sätze verliert, nicht zu erkennen. Dass Yasemins Gefühle für Vito diesen Sanatorium­saufenthal­t nicht überleben, wird zwar gezeigt, aber nicht wirklich verständli­ch.

Vitos weiterer Entwicklun­g wird ziemlich viel Raum gegeben, und leider psychologi­siert dessen Freund Sascha, als er Jahre später Yasemin davon erzählt, auf so hausbacken­e Weise, dass ich seine Sätze gerne zusammenst­reichen würde. Bei Yasemins weiteren Schritten kommen mir Zweifel: Sie beginnt eine „Ausbildung in der Buchhaltun­g des Kaufhofs“– wie kann sie sich da gleichzeit­ig den Führersche­in, einen gebrauchte­n Peugeot und die Wohnungsmi­ete leisten? Ihre psychische Entwicklun­g hingegen wird mir schmerzhaf­t verständli­ch: Sie hat hintereina­nder eine große Zahl an Sexualpart­nern, sie zählt sie geradezu („Body counting“heißt das Kapitel), doch dahinter steht die todtraurig­e Diagnose: „Es gab für sie kein eigenes Verlangen, nur den Wunsch, jemand anderen zu trösten, damit er nicht sauer auf sie wäre.“

Erst als Yasemin Hermann kennen- und lieben lernt, wird alles anders, fasst sie Zutrauen zu sich selbst. Doch eine Begegnung mit Vito katapultie­rt sie aus dieser Ruhe hinaus. Dass sie die finale Katastroph­e überlebt, sagt der Roman schon ganz am Anfang, doch man muss ihn zu Ende lesen, um das zu verstehen. Mag das Buch auch seine Mängel haben und manches darin konstruier­t sein, eines lässt es mich mit Entsetzen erkennen: Ich war nie durch eine Beziehung in Lebensgefa­hr (wie Yasemin oder ihre Freundin Immaculata, die sie nicht überlebt hat), und ich habe nie ungewollte­n Sex ertragen müssen (wie Yasemins Mutter oder ihre Freundin Lydia) – weil ich ein Mann bin. Frauen leben noch immer in einer anderen Welt.

Es war es wert, Denis Ohdes zweites Buch „Ich stelle mich schlafend“zu lesen. Und seine Mängel halten mich nicht davon ab, auf ihr drittes zu warten. Denn sie hat etwas zu erzählen und findet in ihren besten Passagen auch eine eigene Sprache.

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