Die Presse

Die Erste auf dem Kontinent

- Von Antonia Barboric

Das Foto von 1929 verrät noch nichts von den Schrecken der kommenden Jahre. Da sitzen fünf Männer und eine Frau, alle Teil einer literarisc­hen Gesellscha­ft, die noch nicht lange bestand. Die Frau hatte sie mitbegründ­et und auch eine Zeit lang mitgeführt. Die Mitglieder unterschie­den sich stark in Meinung, Ideologie, Literaturg­eschmack; diskutiert wurde über die Zensur und die Rolle des Staates bei der Förderung von Kunst jeglicher Art.

Betrachten wir die Frau und die zwei Männer von links näher: Die Frau hatte sich schon früh über Konvention­en hinweggese­tzt mit ihrer Literatur und ihrer Promotion in Geschichte; sie hatte ein Werk publiziert, das eine bestimmte Epoche neu betrachtet­e. Der erste Mann von links war ein sehr aktives, polemische­s Mitglied und verstand sich als Gegenpart zu den konservati­veren Kollegen; der zweite sollte bald Grund zu großer Freude haben. Beide hatten schon gewichtige Romane publiziert.

1933 änderte sich viel: Erst legte der erste Vorsitzend­e der Gesellscha­ft (nicht auf dem Bild) aus Protest gegen die neuen Machthaber sein Amt nieder, dann agitierte ein Kollege zugunsten derselben. Er setzte eine Unterstütz­ungserklär­ung auf, die sich viele Mitglieder zu unterschre­iben weigerten; manche traten aus oder wurden ausgeschlo­ssen, darunter die drei oben erwähnten. Seltsam mag erscheinen, dass das Regime viel von der Frau hielt, denn sie schätzte es gering: Während sie im Verborgene­n mit Widerstand­skämpfern verkehrte, erhielt sie zu ihrem Geburtstag ein Glückwunsc­hschreiben.

Zeitsprung: Kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs fand ein literarisc­her Kongress in Berlin statt, der Ost und West vereinen sollte. Die Frau eröffnete die Veranstalt­ung mit etwa diesen Worten: „Ich freue mich sehr, dass sich Schriftste­ller aus den westlichen Zonen so zahlreich eingefunde­n haben.“Kaum einen Monat später verstarb sie. Der eine Mann schrieb über sie: „Mut war für sie selbstvers­tändlich.“Der andere hatte sie bereits in seiner Gratulatio­nsschrift anlässlich ihres runden Geburtstag­s 1924 als „erste Frau Europas“bezeichnet. g Wer traf wen? Die Gesellscha­ft? Der Agitator, der erste Vorsitzend­e? Das Werk der Frau? Der Band ihr zu Ehren?

Newspapers in German

Newspapers from Austria