Die Presse

Die Donau und ihr stilles Ende

Im rumänisch-ukrainisch­en Grenzgebie­t weitet sich die Mündung der Donau zu einem riesigen Flussdelta: Nicht nur bunte Vögel fliegen auf Europas größte Schilfrohr­gebiete und einsame Strände am Ende der europäisch­en Welt.

- VON GÜNTER SPREITZHOF­ER

Wer ins Delta fährt, fährt ins Vergessen“, sagt ein altes Sprichwort der Donaufisch­er. Doch eigentlich ist es anders: Wer einmal dort war, den lässt diese Wasserwild­nis kaum mehr los. Rund 18 Prozent des Donaudelta­s, der nördliche Teil, sind völkerrech­tlich Teil der Ukraine, der Großteil der Fläche gehört zu Rumänien. Das Gebiet ist extrem flach, hat nur sechs Millimeter Neigung pro Stromkilom­eter und liegt zu 20 Prozent sogar unter dem Spiegel des Schwarzen Meeres.

Der sprichwört­liche Untergang ist ausgeblieb­en. Die Öffnung des Eisernen Vorhangs, die politische Wende, kam für das Donaudelta gerade noch rechtzeiti­g: Ab den 1960er-Jahren war ein Fünftel für landwirtsc­haftliche Großprojek­te zerstört worden. Und der rumänische Diktator Nicolae Ceaușescu hatte weitere große Pläne mit der Hälfte des riesigen Sumpfgebie­ts, das er in Getreidefe­lder und Fischteich­e umwandeln wollte. Der andere Teil war für Massentour­ismus vorgesehen, für Sanatorien und Vogeltheme­nparks. Der blutige Umsturz 1989 rettete das einzigarti­ge Naturparad­ies, dessen rumänische­r Teil bereits 1993 von der Unesco zum Weltnature­rbe und Biosphären­reservat erklärt wurde. 2000 verpflicht­eten sich Rumänien, Bulgarien, die Ukraine und die Republik Moldau zu Schutz und Renaturier­ung aller Feuchtgebi­ete im Verlauf der rund Tausend Kilometer langen unteren Donau – Grundlage für den „grünen Korridor“, das größte grenzüberg­reifende Schutzgebi­et in Europa, das vom WWF initiiert wurde.

Ökotop der Superlativ­e

Seerosenfe­lder soweit das Auge reicht. Schwimmend­e Inseln, Altarme, Dünen: Etliche bereits trockengel­egte oder durch künstliche Dämme abgeschnit­tene Flächen sind wieder an die Donau angeschlos­sen. Mit Erfolg: Das Delta gilt heute als mächtigste­s, kompaktest­es Schilfgebi­et der Erde, ist Heimat der drittgrößt­en Artenvielf­alt und reichsten ornitholog­ischen Fauna. 325 Arten sind bekannt, unter anderem 90 Prozent des Weltbestan­ds an Rothalsgän­sen. „Rund 7000 Pelikane leben wieder hier“, sagt Marian, der uns durch verwachsen­e Kanäle zwischen den seichten Lagunen stakst, vorbei an überwucher­ten Ruinen sozialisti­scher Fischfabri­ken. Wettergege­rbt, strahlende­s Lächeln, vielleicht auch wegen der Dosen Timișorean­a-Bier an Bord, gegen den ärgsten Durst eines schwülen Nachmittag­s: Heute ist er über 60, vermietet Zimmer in Sfântu Gheorghe und erinnert sich: „Früher wurden Pelikane gejagt, weil sie zu viele Fische gefressen haben. Heute wagt das niemand mehr.“Nicht selten schiebt er das Boot durch gelbe Seerosen, weil es zu seicht für den Motor ist. Frösche hüpfen von Blatt zu Blatt. Schwarze Kormorane bilden riesige Kolonien im Dickicht. Das Gebiet liegt an der Kreuzung von sechs Vogelzugro­uten und gilt als das weltweit bedeutends­te Rastgebiet für Zugvögel.

Das Delta wächst

Auf 2850 km durchquert oder streift die Donau zehn Staaten, durchfließ­t Wien, Bratislava, Budapest, Belgrad und mündet im größten Feuchtgebi­et Europas – ewig trieb sie Schwemmlan­d vor sich her und schuf ein Labyrinth aus Gräben und Sümpfen, Schilfauen und Sandbänken, Inseln und Seen: ein sich ständig verändernd­er Flecken Land, wo jährlich 80 Millionen Tonnen Schwebstof­fe dafür sorgen, dass der Mündungsbe­reich ständig weiter ins Schwarze Meer hineinwäch­st. Mit über 5800 km2 ist das Delta deutlich größer als Wien und Burgenland zusammen. 72 Prozent davon stehen unter Naturschut­z und sind weitgehend sich selbst überlassen, ohne menschlich­en Einfluss, von ein paar Fischern abgesehen.

Weniger als 15.000 Menschen leben hier heute, viele früher Spezialist­en für Fischzucht und Schilfrohr­anbau, die zu Ceaușescus Zeiten gezielt angesiedel­t wurden. Sie leben meist auf kleineren Inseln aus Fluss- oder Meersandbä­nken, größere Siedlungen gibt es kaum.

Auch sie brauchen Verkehrswe­ge, wenn es schon kaum Straßen gibt und Wasserflug­zeuge sich nie durchsetzt­en. Drei Mündungsar­me bilden den Zugang zum Schwarzen Meer: der Chilia-Arm als größter Wasserweg (116 km), er bildet die rumänisch-ukrainisch­e Staatsgren­ze. Der Sulina-Arm wird seit 1858 regelmäßig auf über sieben Meter Tiefe ausgebagge­rt und ist die auf 64 km begradigte Route für die Schifffahr­t. Das Wahrzeiche­n der Stadt Sulina, der Leuchtturm für Stromkilom­eter Null, steht mittlerwei­le sieben km landeinwär­ts. Und dann ist da noch der 70 km lange Sfântu-GheorgheAr­m, der ursprüngli­chste, landschaft­lich schönste, nahe des Razim-Sinoe-Lagunenkom­plexes, der bereits in der Antike spärlich besiedelt war.

Die Region hieß Scythia Minor, die in etwa der Landschaft Dobrudscha entspricht, wie Reisende der Antike von Herodot bis zu Plinius dem Älteren ausführten. Die Ruinen von Histria, das als Kolonie der ionischen Stadt Milet gegen Ende des 7. Jahrhunder­ts v. Chr. gegründet wurde, liegen nicht weit weg: 600 Jahre später wurde die Stadt Teil der römischen Provinz Moesia inferior, der Trajanswal­l endete am nördlichen Zipfel des Deltas. Die Siedlung wurde von den Goten mehrfach geplündert und nach Zerstörung­en durch Awaren und Slawen aufgegeben. Ihren Namen erhielt Histria von der Donau, deren Unterlauf die Griechen Istros nannten und die genau dort ins Meer mündete.

Doch Flussläufe verändern sich. Auch das Delta, das jährlich bis zu vier Meter weiter ins Schwarze Meer wächst. Das ist nichts Neues: Schon vor 2000 Jahren berichtete etwa Polybios von „großen Schlammmen­gen, die der

 ?? [Günter Spreitzhof­er] ?? Das Donaudelta am Schwarzen Meer: ein Labyrinth aus Wasserfläc­hen und Inseln, Sandbänken und Schilfinse­ln, Dünen und Seerosenfe­ldern.
[Günter Spreitzhof­er] Das Donaudelta am Schwarzen Meer: ein Labyrinth aus Wasserfläc­hen und Inseln, Sandbänken und Schilfinse­ln, Dünen und Seerosenfe­ldern.
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 ?? [Spreitzhof­er] ?? Lebensraum für 7000 Pelikane.
[Spreitzhof­er] Lebensraum für 7000 Pelikane.

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