Walliser Steilwand für Frühlingsskifahrer
Wie tief können tiefe Buckel auf einer extrasteilen Piste sein? Sie ist selbst für Cracks eine Mutprobe: die „Schweizer Mauer“im schweizerisch-französischen Megaskigebiet Les Portes du Soleil.
Wenn man nicht zu den absoluten Ski-Supercracks zählt, dann gehört eine gewisse Neigung zur Selbstzerstörung schon dazu. Das Beste ist, man nähert sich der Schweizer Mauer aus der Ferne, zoomt sich aus den sanften Hügeln des gigantisch großen schweizerisch-französischen Skigebiets Les Portes du Soleil immer weiter heran, macht sich vertraut mit der Buckelpiste, die im weltweiten Ranking der halsbrecherischsten Abfahrten einmal auf Platz vier, einmal auf Platz fünf rangiert. Die Streif in Kitzbühel zählt dazu, Corbet’s Couloir in Jackson Hole, die Kandahar-Abfahrt in Garmisch-Partenkirchen, der Lange Zug in Lech und noch ein paar.
Wie tief die Buckel sind, ahnt man also nur, wenn man morgens in die Gondel gestiegen ist, und beim Ausstieg an der Bergstation Croix de Culet (2146 m) den Blick schweifen lässt. Im Rücken weiß man die zackige Felsformation Dents du Midi, die wie eine Krone über dem charmanten, ursprünglichen Walliser Bergdorf Champéry sitzt. Man steht mitten in der weichgezeichneten Pistenlandschaft, wo nur noch kleine Alpen und ein paar Nadelbäume das endlose Weiß durchbrechen. Tiefstschwarze Abfahrt
Aber dann, genau gegenüber, entdeckt man am Horizont die berüchtigte Wellenformation, nach der einen im Dorf, ob im Schwimmbad oder abends beim Raclette-Essen, jeder fragt : „Bist Du die Mauer schon gefahren“? Die Mauer, die Wand, Le mur suisse, Chavanette –, die Hölle hat hier viele Namen im größten grenzüberschreitenden Skigebiet Europas mit rund 650 Pistenkilometern. Und aus der Ferne erkennt man: Mit normaler schwarzer Abfahrt hat das nichts zu tun.
Nach wenigen Lifttraversen ist man da, wer auf ein paar steile Abfahrten zum Aufwärmen der Muskulatur hofft, muss sich mit blauen begnügen. Der letzte Lift legt dann das ganze Desaster unter einem frei: Man schwebt wie in Zeitlupe hinauf zum Grand Pas de Chavanette, sieht die Skifahrer erst taumeln, dann stürzen, unweigerlich kommen Fragen wie: „Was mache ich hier eigentlich?“oder „Wie tief können tiefe Buckel sein“? Die richtige Linie suchen
Oben angekommen, neben der kleinen Hütte mit ein paar Liegestühlen, gibt es dann nur noch zwei Möglichkeiten – mit dem Sessellift retour oder nach bewährtem Prinzip handeln: Augen zu und durch. Ein paar Umkehrer gibt es immer, aber wenn man einmal an der Kante steht, die Warnung auf dem Schild „only for good skiers, 90 Prozent Gefälle“, verdaut hat, die Skispitzen waagrecht ins Leere ragen, geht’s los. Für schwache Nerven ist es garantiert nichts. Gute Skibeherrschung und eine Portion Mut sollten vorhanden sein, herkömmliche Buckelpistentechnik hilft hier ohnehin nicht weiter. Für viele, die sich überschätzt haben, ist es das Grauen, für ein paar wenige guttrainierte Wagemutige der Himmel auf Erden. Und die übrigen Skifahrer, die sich irgendwo zwischen haltlosem Sturz in der Wand und fröhlichem Schwung bewegen, bleibt nur eine Empfehlung: die richtige Linie zu suchen.
Senkrecht hinunter ist keine gute Idee, links außen, wo die Buckel etwas moderater sind, tut man sich minimal leichter. Rund ein Kilometer ist die Schweizer Mauer lang, knapp 400 Höhenmeter gilt es zu bewältigen, bei Neuschnee können die Buckel zwei Meter tief sein, ein Gefälle bis zu 50 Grad. „Das ist so steil, dass sich der Schnee kaum hält und genau solche Buckel sich aufschieben können“, erklärt unser Guide Gabriel Premand. Kein Pistengerät kommt hier mehr hinauf oder hinunter, auch nicht an Seilen, wie etwa der Einstieg in die St. Moritzer Herrenabfahrt „Der freie Fall“präpariert wird.
Links und rechts stürzen die Ersten, für viele gibt es ein Halten nur 100 Meter weiter unten, andere sind froh, wenn liegen gebliebene Ski eingesammelt werden und sich helfende Hände entgegenstrecken. Von fluffigem Fahren, Hüpfen, kann nicht die Rede sein, und dennoch ist es trotz der maximalen Herausforderung ein großes Vergnügen – Adrenalin, Angstschweiß, Endorphine inklusive, wenn man den Ritt ohne Fall und Verletzung geschafft hat. Glühende Oberschenkel und butterweiche Knien erinnern noch lang an das große Erlebnis Schweizer Mauer. Besser früher als später
Wenn man sich die steile Wand am Vormittag vornimmt, hat das in vielerlei Hinsicht Vorteile: Später liegt sie komplett im Schatten, außerdem lässt sich das riesige Gebiet von hier aus strategisch gut durchpflügen. Nur so viel: Niemals schafft man es an einem Tag, es bietet enorme und abwechslungsreiche Möglichkeiten. Acht savoyische Gemeinden und vier Walliser Gemeinden, die auf einer Seehöhe von 1020 bis 2460 Metern liegen und sich in den 1970er-Jahren zum Zweiländer-Bündnis einten. 280 Pisten sind es insgesamt Gebiet, die vier Schweizer Dörfer schafft man gut in einer Tagesrunde.
Wenn man die Mauer auslässt, hat man ein feines Familienskigebiet, eher leicht, mit ein paar wenigen Ausreißern, etwa die vom Pointe de l’Au startende und nach dem lokalen Skichampion Didier Défago benannte Piste. Sie beginnt sportlich und endet gemächlich im Dorf Morgins. Unterwegs dahin fährt man durch schier endlos scheinende Kilometer Wald – und ist am Ende völlig verzaubert. Von hier aus geht es wieder rauf, eine Pause in der Gîte Alpage La Chaux bietet sich an, sie liegt auf dem Weg. Mit urigem Charme und offener Küche lockt sie hinein, aber der Blick von der Sonnenterrasse auf die Dents du Midi ist einmalig. Die hausgemachten Suppen sind für drinnen und draußen sehr zu empfehlen. Am späten Nachmittag lockt dann noch ein letztes Highlight, die zwölf Kilometer lange Talabfahrt – und am nächsten Tag Frankreich! Aber bis dahin müssen brennende Oberschenkel dringend geschont werden.