Es ist ein Fiasko für Erdoğan, doch Abgesänge sind verfrüht
Zum ersten Mal seit seinem Amtsantritt liegt die Partei des türkischen Präsidenten nicht an erster Stelle. Der Nimbus der Unbesiegbarkeit ist verloren.
Der Blick nach Rize an der östlichen Schwarzmeerküste muss Recep Tayyip Erdoğan einen Stich versetzt haben. Zwar selbst in Istanbul geboren und aufgewachsen, stammt Erdoğans Familie aus dieser Stadt, seine Wurzeln am Fuß des Pontischen Gebirges hebt der Präsident stets symbolisch hervor. Die Wählerschaft in Rize hat ihren berühmtesten Sohn verlässlich mit hohen Stimmenanteilen belohnt. Auch nach der Kommunalwahl am Sonntag führt der Kandidat der regierenden AKP mit knapp 56 Prozent. Aber: 2019 waren es 73 Prozent.
Es ist ein Sturzflug, der noch nicht mit einem Aufprall geendet hat. Der Kandidat der islamistischen Neuen Wohlfahrtspartei (YRP) hat von der AKP zahlreiche Stimmen einfangen können, in Rize und auch anderswo. Die sozialdemokratisch-kemalistische CHP konnte ihre Hochburgen nicht nur behaupten, sondern hat ganze Provinzen und Stadtteile umgefärbt. Der Osten bleibt in der Hand der prokurdischen DEM. Landesweit wurde die CHP zur führenden Partei, das gab es noch nie in den vergangenen zwei Jahrzehnten der Erdoğan-Ära. Es ist ein Fiasko für den erfolgsverwöhnten Präsidenten, zumal er sich offenbar nicht mehr blind auf seine Basis in Anatolien verlassen kann.
In der Wahlnacht, als die ersten Ergebnisse bekannt wurden, wandte sich Erdoğan demonstrativ von der Innenpolitik ab, ließ über die Medien ausrichten, dass er mit den iranischen und usbekischen Präsidenten telefoniere. Etwas später wollte vor der AKP-Zentrale in Ankara keine Feststimmung aufkommen. Erdoğan räumte ein, dass das Ergebnis unter den Erwartungen lag, und kündigte, überraschend genug, eine selbstkritische Analyse innerhalb seiner Partei an. „Der 31. Mai ist für uns kein Ende, sondern ein Wendepunkt“, sagte der Präsident, was manche gleich als Drohung werteten. Mit Blick auf die Parlaments- und Präsidentenwahl 2028 zeigte sich Erdoğan zuversichtlich, an alte Erfolge anknüpfen zu können.
Nun sind Kommunalwahlen bekanntlich anders gelagert als Parlaments- und Präsidentschaftswahlen, doch gilt dieser Rückschluss trotzdem: In wichtigen und kritischen Städten ließ Erdoğan lediglich Schattenkandidaten aufstellen, es war klar, dass er selbst zur Wahl stand. Diese Niederlage ist der erste Dämpfer für ihn. Zweitens haben er und die AKP nun den Nimbus der Unbesiegbarkeit verloren, die Auswirkungen davon werden sich in den nächsten Jahren herauskristallisieren.
Und drittens muss sich Erdoğan ernsthaft vor den nächsten Wahlen fürchten, dabei gehören Wahlsiege zu seiner Strategie des Regierens. Wie ist das gemeint? Erdoğan hat es selbst während seiner Balkonrede am Sonntag gesagt: In den vergangenen 22 Jahren war das Volk 18 Mal zur Wahl aufgerufen. Dieser permanente Zustand des Wahlkampfs lenkt ab, lässt das Volk nicht zur Ruhe kommen, lässt der Opposition nicht genug Vorbereitungszeit, sorgt für eine latent angespannte, bedrohliche Atmosphäre. Während die anderen straucheln, kann sich die AKP auf ihre straffen Institutionen stützen und auf ihre Basis zählen.
Und so war mehr als ein Mal in den vergangenen Wochen von einer Wahlmüdigkeit die Rede. Doch die gute Nachricht ist, dass die Wahlbeteiligung wieder hoch und der Glaube an einen demokratischen Wandel erneut unerschütterlich war. Freilich, man braucht sich keine Illusionen zu machen: Erdoğans AKP kontrolliert die Medien und das staatliche Geflecht. Es wird wohl wieder Verhaftungswellen geben und Schuldzuweisungen. Im Osten des Landes werden wahrscheinlich gewählte Vertreter der prokurdischen DEM wieder abgesetzt und durch Regierungsloyale ersetzt werden.
Doch die AKP kann das Volk nicht gleichschalten, das hat diese Wahl einmal mehr gezeigt. Trotz unfairer Vorbedingungen hat das Stimmvolk die Regierungspartei in die Schranken gewiesen. Ein Großteil der Bevölkerung kann sich das Leben schlichtweg nicht mehr leisten, und wenn der AKP hier keine Verbesserungen gelingen, dann kann es tatsächlich der Anfang vom Ende sein. Doch sind Abgesänge auf Erdoğan verfrüht. Er ist ein wandelbarer Taktiker, er ist bereit, Grenzen zu überschreiten, um sich an der Macht zu halten. Die Instrumente dafür hält er noch in der Hand.