„Die Demokratie erlebt eine Wiedergeburt“
Die kemalistische CHP hat erstmals bei einer Wahl die AKP überholt. Mit dem Istanbuler Bürgermeister Imamoğlu strebt die Opposition das Präsidentenamt an.
Der Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoğlu nimmt nach seinem neuen Wahlsieg am Bosporus das Präsidentenamt ins Visier. „Die Türkei ist auf einem neuen Weg“, sagte er in der Nacht zum Montag. „Die Demokratie in der Türkei erlebt eine Wiedergeburt.“Bei der türkischen Kommunalwahl verteidigte Imamoğlu sein Amt in der größten Stadt des Landes; seine Partei CHP wurde zur landesweit stärksten Kraft und besiegte die AKP von Präsident Recep Tayyip Erdoğan zum ersten Mal seit mehr als 20 Jahren.
Experten werten die Wahl als Wegscheide für die Türkei. Soli Özel von der Istanbuler Kadir-Has-Universität sagte, das Ergebnis sei eine „tektonische Verschiebung, wie man sie sich kaum vorstellen konnte“. Für die AKP und Erdoğan sei der Wahltag eine „vernichtende Niederlage“, sagt Özel.
In Istanbul siegte Imamoğlu laut Zahlen der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu mit 51 Prozent der Stimmen klar gegen den AKP-Bürgermeisterkandidaten Murat Kurum, der auf knapp 40 Prozent kam.
Der 53-jährige Imamoğlu, der wie Erdoğan von der türkischen Schwarzmeerküste stammt, schuf mit seinem erneuten Erfolg am Sonntag die Grundlage, um den 70-jährigen Staatschef bei der nächsten Präsidentenwahl in vier Jahren herauszufordern: Istanbul ist mit Abstand die reichste und bevölkerungsstärkste Stadt der Türkei und stellt elf Millionen der 61 Millionen Wähler des Landes. Die türkische Opposition hatte 21 Jahre lang das Problem, keinen glaubwürdigen Herausforderer gegen Erdoğan gefunden zu haben, sagt Özel. „Jetzt hat sie einen. Imamoğlu ist der Gegenkandidat und vielleicht der nächste Präsident dieses Landes.“
Drohende Gerichtsverfahren
Der umtriebige Politiker gilt als volksnah und kann mit westlich orientierten Intellektuellen genauso angeregt plaudern wie mit islamisch-konservativen Markthändlern oder kurdischen Aktivisten. Der frühere CHP-Chef Kemal Kılıçdaroğlu erkannte das politische Talent und machte Imamoğlu 2019 zum Kandidaten für das Amt des Istanbuler Oberbürgermeisters. Nach seinem Erdrutschsieg stand er auch als künftiger CHP-Präsidentschaftskandidat in den Startlöchern. Er tingelte durch das Land, um sich bei Wählern fernab von Istanbul bekannt zu machen; Erdoğans
Regierung warf ihm vor, vor lauter Ehrgeiz seine Arbeit in Istanbul zu vernachlässigen – und zu oft in Urlaub zu fahren.
Doch zunächst musste Imamoğlu seine Ambitionen zurückstellen. Kılıçdaroğlu griff selbst nach dem Präsidentenamt, verlor aber im Mai vorigen Jahres gegen Erdoğan. Mit seinem neuen Wahlsieg in Istanbul bei der Kommunalwahl am Sonntag hat Imamoğlu nun alle Zweifel für seinen künftigen politischen Weg ausgeräumt. Die regierungstreue türkische Justiz droht Imamoğlu zwar mit Haft und Politikverbot wegen angeblicher Beleidigung. Aber nach der Wahl vom Sonntag ist es wenig wahrscheinlich, dass Erdoğan versuchen wird, seinen Herausforderer mithilfe der Gerichte aufzuhalten, denn damit würde er Imamoğlu noch populärer machen. Das hat Erdoğan selbst erlebt, als er zu Beginn seiner Karriere von seinen Gegnern ins Gefängnis gesteckt worden ist, was ihm noch mehr Rückenwind beschert hat.
Noch deutlicher als in Istanbul fiel indessen der Sieg der CHP in Ankara aus: Dort verteidigte Amtsinhaber Mansur Yavaș sein Amt mit 60 Prozent der Stimmen gegen den AKP-Bewerber, der bei 32 Prozent blieb.
Die CHP löste die AKP zudem in der Industriestadt Bursa als Regierungspartei ab, behauptete sich in ihrer Hochburg Izmir und gewann die Wahlen in weiteren Gegenden Anatoliens, darunter in der konservativen Provinz Sivas. Insgesamt kam die CHP nach Anadolu-Zahlen landesweit auf 37,7 Prozent und lag damit mehr als zwei Prozentpunkte vor der AKP. Im zentralanatolischen Yozgat und im südostanatolischen Șanlıurfa verlor die AKP gegen die islamistische Neue Wohlfahrtspartei (YRP) – auch das war ein Novum. Nie zuvor seit ihrer Gründung ist die AKP bisher von Konkurrenz aus dem islamisch-konservativen Lager geschlagen worden.
Erdoğan spricht von Wendepunkt
Imamoğlu versprach, die starke Polarisierung in der türkischen Gesellschaft überwinden zu wollen. Der Sieg der Opposition sei „eine wichtige Botschaft an die Welt“, die in den vergangenen Jahren den Aufstieg von Autokraten erlebt habe. Nun sei „die Erosion der Demokratie in der Türkei“beendet. CHPChef Özgür Özel sagte, seine Parte werde bei der nächsten Wahl 2028 die Regierung übernehmen. Erdoğan räumte indessen seine
Niederlage ein: „Wir haben die erhofften Ergebnisse nicht erreichen können.“Die Kommunalwahl sei aber kein Ende, sondern ein Wendepunkt, denn die Regierung werde aus ihren Fehlern lernen.
Der Politologe Berk Esen von der Istanbuler Sabancı-Universität führt das Wahlergebnis auf ein Zusammenspiel mehrerer Faktoren zurück: „Die schlechte Wirtschaftslage, unter der die Menschen in den Großstädten besonders zu leiden haben, die Sparpolitik der Regierung, die Weigerung der Regierung, die Renten zu erhöhen.“Offenbar blieben viele AKP-Wähler aus Protest zu Hause. Die Wahlbeteiligung lag bei 78 Prozent und damit sieben Prozentpunkte niedriger als 2019. Die Wahl sei „die schwerste Niederlage in Erdoğans Karriere“, sagt Esen. Die Opposition werde sich weiter konsolidieren. „Für Erdoğan könnte das jetzt tatsächlich der Anfang vom Ende sein.“Auch Politik-Dozent Özel sieht schwere Zeiten auf Erdoğan zukommen. Der Präsident müsse sich nach der Wahlniederlage um die Wirtschaft kümmern, was schmerzhafte Entscheidungen für AKPWähler bedeute. „Erdoğan ist ein Kämpfer – aber er ist ein müder Kämpfer.“