In Venedig gibt man Kontrolle ab
Starke Kontraste: Julie Mehretu setzt sich im Palazzo Grassi exakt geplant in Szene, Pierre Huyghe lässt in der Punta della Dogana die KI das Kommando übernehmen.
Schon früh morgens stehen die Menschen Schlange vor dem Markusdom in Venedig. Vor der Seufzerbrücke drängeln sich die Selfie-Freunde. Dabei ist zum Zeitpunkt des Besuchs, kurz vor der Karwoche, noch Nebensaison. Auch die Biennale beginnt erst am 20. April. Aber im Palazzo Grassi und im dreieckigen ehemaligen Zollgebäude Punta della Dogana neben Santa Maria della Salute hat die Kunstsaison schon begonnen – mit zwei Ausstellungen, die gegensätzlicher kaum sein könnten.
Beide Häuser gehören dem französischen Multimilliardär François Pinault. Er hatte sich 2005 enttäuscht über die französische Bürokratie von Paris abgewandt und seine Kunststiftung nach Venedig verlegt. Für 29 Millionen Euro kaufte er der Fiat-Familie Agnelli den Palazzo Grassi ab. 2007 sicherte er sich die Punta della Dogana für eine 30-jährige Nutzung. Beide Bauten ließ er vom japanischen Architekten Tadao Ando umbauen. Seither sind sie mit je 5000 Quadratmetern Ausstellungsfläche zu Tempeln für zeitgenössische Kunst geworden.
Dynamische Abstraktionen
Was immer hier gezeigt wird, hat direkt mit seiner Kunstsammlung zu tun. Rund 10.000 Werke von 350 Künstlern soll er besitzen. Von Julie Mehretu kaufte Pinault die ersten Bilder schon vor zwanzig Jahren, erzählt Bruno Racine. Er ist Direktor der beiden Häuser in Venedig. Mittlerweile gehört Mehretu zu den großen Kunstmarktstars. Bekannt ist die 1970 in Äthiopien geborene, in
New York lebende Malerin für ihre dynamischen Abstraktionen, die in vielen, übereinander gelegten Schichten entstehen. Ausgangspunkt sind oft Fotos, früher von Architekturen, später von Demonstrationen oder Umweltkatastrophen. Hoch aufgelöst, greift sie einzelne Farben heraus, verfremdet das Bildmotiv bis zur Unkenntlichkeit, ohne dabei die Grundstimmung aufzugeben. Zuletzt legt sie ein intuitiv entstandenes Liniengeflecht darüber. Skizzen mache sie nie, betont sie im Gespräch in Venedig.
Ein Ensemble mit einem Star
Jetzt steht ihr der gesamte Palazzo Grassi zur Verfügung – fast. Denn sie lud eine kleine Schar von Freunden und vor allem Freundinnen ein, ihre Personale zu bereichern. „Ensemble“nennt sie ihre Schau, als handele es sich um eine eingespielte Gruppe, die ein gemeinsames Stück aufführt. Tatsächlich sind ihre oft farbintensiven, riesigen Gemälde der Star, der alle anderen überstrahlt.
Das gilt auch für die Gemeinschaftsproduktion mit der iranisch-armenischen Künstlerin Nairy Baghramian. Von Mehretu stammen die brandneuen, fast transparenten, im Raum freistehenden Bilder. Baghramian entwickelte dafür die massiven skulpturalen Rahmen. Sie wollte ein „Spannungsverhältnis“schaffen, wie sie erklärt, und „Julie wollte unbedingt die Brutalität der Rahmen“. Ihr Name allerdings ist auf dem Wandlabel in die Materialliste abgerutscht.
Ganz auf sich gestellt entführt uns dann Pierre Huyghe in Experimente mit künstlichen Intelligenzen, bei seiner Personale „Liminal“in der Punta della Dogana. Die Hallen sind gerade so weit ausgeleuchtet, dass man nicht stolpert. Zwischen den wenigen, oft älteren Videoprojektionen und den mit Tieren gefüllten Aquarien schleichen schwarz gekleidete Gestalten durch die Räume. Immer paarweise. Ihr Gesicht ist verhüllt mit futuristisch aussehenden Formen, goldgelb, manchmal oben am Kopf leuchtend, semitransparent und mit Sensoren ausgestattet. Diese gesichtslosen Masken sammeln Worte, erklärt der 1962 in Paris geborene Künstler. Denn diese Masken sollen eine eigene Sprache entwickeln – aber warum?
Er suche eine „radikale Andersheit“, erklärt er bei einer Fragestunde, „eine Erfahrung in jenem, was man nicht erfahren kann“. Darauf bezieht sich wohl auch der Titel, denn Liminalität benennt einen fluktuierenden Schwellenzustand, einen Raum des ständigen Wandels. Huyghe spricht von „anderen Realitäten“, in denen ein Gefühl der Fremdheit entsteht – was ihm besonders in seinem neuesten Video gelungen ist. Drei von einer KI gesteuerte Kameras filmen in der chilenischen Wüste Atacama ein auf dem Boden liegendes Skelett, im Licht reflektierende Kugeln, und wechselnd auch sich gegenseitig. Die Übergänge sind irritierend abrupt, der Wechsel zwischen extremen Nah- und Fernaufnahmen merkwürdig unmotiviert – die KI agiert zufällig.
Auch hier gilt, was Huyghe zu „Liminal“sagt: „Ich wollte die Kontrolle abgeben“– das ist wohl der größte Kontrast zwischen diesen beiden Ausstellungen.