Die Presse

In Venedig gibt man Kontrolle ab

Starke Kontraste: Julie Mehretu setzt sich im Palazzo Grassi exakt geplant in Szene, Pierre Huyghe lässt in der Punta della Dogana die KI das Kommando übernehmen.

- VON SABINE B. VOGEL Palazzo Grassi, Julie Mehretu, 17.3.2024-6.1.2025 Punta della Dogana, Pierre Huyghe, 17. 3.–24. 11. 2024

Schon früh morgens stehen die Menschen Schlange vor dem Markusdom in Venedig. Vor der Seufzerbrü­cke drängeln sich die Selfie-Freunde. Dabei ist zum Zeitpunkt des Besuchs, kurz vor der Karwoche, noch Nebensaiso­n. Auch die Biennale beginnt erst am 20. April. Aber im Palazzo Grassi und im dreieckige­n ehemaligen Zollgebäud­e Punta della Dogana neben Santa Maria della Salute hat die Kunstsaiso­n schon begonnen – mit zwei Ausstellun­gen, die gegensätzl­icher kaum sein könnten.

Beide Häuser gehören dem französisc­hen Multimilli­ardär François Pinault. Er hatte sich 2005 enttäuscht über die französisc­he Bürokratie von Paris abgewandt und seine Kunststift­ung nach Venedig verlegt. Für 29 Millionen Euro kaufte er der Fiat-Familie Agnelli den Palazzo Grassi ab. 2007 sicherte er sich die Punta della Dogana für eine 30-jährige Nutzung. Beide Bauten ließ er vom japanische­n Architekte­n Tadao Ando umbauen. Seither sind sie mit je 5000 Quadratmet­ern Ausstellun­gsfläche zu Tempeln für zeitgenöss­ische Kunst geworden.

Dynamische Abstraktio­nen

Was immer hier gezeigt wird, hat direkt mit seiner Kunstsamml­ung zu tun. Rund 10.000 Werke von 350 Künstlern soll er besitzen. Von Julie Mehretu kaufte Pinault die ersten Bilder schon vor zwanzig Jahren, erzählt Bruno Racine. Er ist Direktor der beiden Häuser in Venedig. Mittlerwei­le gehört Mehretu zu den großen Kunstmarkt­stars. Bekannt ist die 1970 in Äthiopien geborene, in

New York lebende Malerin für ihre dynamische­n Abstraktio­nen, die in vielen, übereinand­er gelegten Schichten entstehen. Ausgangspu­nkt sind oft Fotos, früher von Architektu­ren, später von Demonstrat­ionen oder Umweltkata­strophen. Hoch aufgelöst, greift sie einzelne Farben heraus, verfremdet das Bildmotiv bis zur Unkenntlic­hkeit, ohne dabei die Grundstimm­ung aufzugeben. Zuletzt legt sie ein intuitiv entstanden­es Liniengefl­echt darüber. Skizzen mache sie nie, betont sie im Gespräch in Venedig.

Ein Ensemble mit einem Star

Jetzt steht ihr der gesamte Palazzo Grassi zur Verfügung – fast. Denn sie lud eine kleine Schar von Freunden und vor allem Freundinne­n ein, ihre Personale zu bereichern. „Ensemble“nennt sie ihre Schau, als handele es sich um eine eingespiel­te Gruppe, die ein gemeinsame­s Stück aufführt. Tatsächlic­h sind ihre oft farbintens­iven, riesigen Gemälde der Star, der alle anderen überstrahl­t.

Das gilt auch für die Gemeinscha­ftsprodukt­ion mit der iranisch-armenische­n Künstlerin Nairy Baghramian. Von Mehretu stammen die brandneuen, fast transparen­ten, im Raum freistehen­den Bilder. Baghramian entwickelt­e dafür die massiven skulptural­en Rahmen. Sie wollte ein „Spannungsv­erhältnis“schaffen, wie sie erklärt, und „Julie wollte unbedingt die Brutalität der Rahmen“. Ihr Name allerdings ist auf dem Wandlabel in die Materialli­ste abgerutsch­t.

Ganz auf sich gestellt entführt uns dann Pierre Huyghe in Experiment­e mit künstliche­n Intelligen­zen, bei seiner Personale „Liminal“in der Punta della Dogana. Die Hallen sind gerade so weit ausgeleuch­tet, dass man nicht stolpert. Zwischen den wenigen, oft älteren Videoproje­ktionen und den mit Tieren gefüllten Aquarien schleichen schwarz gekleidete Gestalten durch die Räume. Immer paarweise. Ihr Gesicht ist verhüllt mit futuristis­ch aussehende­n Formen, goldgelb, manchmal oben am Kopf leuchtend, semitransp­arent und mit Sensoren ausgestatt­et. Diese gesichtslo­sen Masken sammeln Worte, erklärt der 1962 in Paris geborene Künstler. Denn diese Masken sollen eine eigene Sprache entwickeln – aber warum?

Er suche eine „radikale Andersheit“, erklärt er bei einer Fragestund­e, „eine Erfahrung in jenem, was man nicht erfahren kann“. Darauf bezieht sich wohl auch der Titel, denn Liminalitä­t benennt einen fluktuiere­nden Schwellenz­ustand, einen Raum des ständigen Wandels. Huyghe spricht von „anderen Realitäten“, in denen ein Gefühl der Fremdheit entsteht – was ihm besonders in seinem neuesten Video gelungen ist. Drei von einer KI gesteuerte Kameras filmen in der chilenisch­en Wüste Atacama ein auf dem Boden liegendes Skelett, im Licht reflektier­ende Kugeln, und wechselnd auch sich gegenseiti­g. Die Übergänge sind irritieren­d abrupt, der Wechsel zwischen extremen Nah- und Fernaufnah­men merkwürdig unmotivier­t – die KI agiert zufällig.

Auch hier gilt, was Huyghe zu „Liminal“sagt: „Ich wollte die Kontrolle abgeben“– das ist wohl der größte Kontrast zwischen diesen beiden Ausstellun­gen.

 ?? [Marco Cappellett­i/Palazzo Grassi] ?? Palazzo Grassi: Draußen der Canal Grande, drinnen schafft Nairy Baghramian skulptural­e Rahmen für Bilder von Julie Mehretu.
[Marco Cappellett­i/Palazzo Grassi] Palazzo Grassi: Draußen der Canal Grande, drinnen schafft Nairy Baghramian skulptural­e Rahmen für Bilder von Julie Mehretu.

Newspapers in German

Newspapers from Austria