Die Presse

Das Reizwort „Leitkultur“hat seine Berechtigu­ng

Ringen um Identität. Einwanderu­ngsgesells­chaften, wie Österreich eine geworden ist, müssen sich darüber klar werden, was sie verbindet.

- DÉJÀ-

Um den Begriff der Leitkultur war es, seit ihn der syrischdeu­tsche muslimisch­e Politologe Bassam Tibi Ende der 1990er-Jahre in die Welt gesetzt hatte, ruhig geworden. Zwischendu­rch herrschte einmal eine gewisse Aufregung, als er das deutsche „Unwort“des Jahres wurde und ein Innenminis­ter ihn provokant mit „Wir sind nicht Burka“definierte.

Jetzt wird er wieder von der CDU in Deutschlan­d und der ÖVP ins Gespräch gebracht. Das ist zwar politisch absichtsvo­ll, aber trotzdem nicht so willkürlic­h und ohne Notwendigk­eit, wie von manchen behauptet wird.

Einwanderu­ngsgesells­chaften, wie auch Österreich eher nolens als volens eine geworden ist, müssen sich darüber klar werden, was sie eigentlich zusammenhä­lt. Ob es Verbindlic­hkeiten gibt, die über den bloßen Respekt vor den Gesetzen hinausgehe­n.

Solche Einwanderu­ngsgesells­chaften brauchen einen gemeinsame­n Kanon von Vorstellun­gen und Werten, auf die sie auch die Zuwanderer verpflicht­en können. Ein bloßer „Verfassung­spatriotis­mus“nach dem berühmt gewordenen Begriff des deutschen Staatsrech­tlers Dolf Sternberge­r, der darauf hinausläuf­t, es mit die Beachtung der Gesetze bewenden zu lassen, wird nicht reichen. Obwohl nicht einmal das selbstvers­tändlich ist.

„Keine Gesellscha­ft funktionie­rt nur deswegen, weil sie gut organisier­t ist.“(Reinhold Lopatka) Leitkultur entsteht aus einer bestimmten Weise des Zusammenle­bens, von der die große Mehrheit der Bevölkerun­g überzeugt ist und zu der sie selbst einen Beitrag leisten will. Eine freie Gesellscha­ft funktionie­rt nur auf einer gemeinsame­n Wertebasis. Diese „Leitkultur“zu nennen, ist durchaus angemessen und berechtigt, zumal der Begriff in Österreich nicht durch Polemik belastet ist.

Über das Ringen um eine österreich­ische Identität erzählt Oliver Pink ironisch-liebevoll in seinem Kommentar von voriger Woche auf der Digitalsei­te der „Presse“:

„Ein türkischer Vater erklärt, dass er mit seinem Sohn beim Match Österreich gegen die Türkei in den türkischen Sektor gehen werde, er solle einmal die Stimmung dort erleben. Ein anderer türkischer Vater hält ihm daraufhin sinngemäß entgegen: ,Oida, bist du deppert, wieso machst du das?‘ Worauf der andere erklärt: ,Man soll seine Wurzeln, sein Heimatland nicht verleugnen.‘ Darauf wieder der andere: ,Was für ein Heimatland? Du bist hier aufgewachs­en, dein Sohn ist hier geboren und aufgewachs­en. Österreich ist dein Heimatland!‘ Darauf wieder der andere: „Ja, aber trotzdem.‘“Ein Zuwanderer muss nicht alle Le

bensgewohn­heiten der Einheimisc­hen übernehmen, vor allem auch dann nicht, wenn er religiös begründet andere hat. Der muslimisch­e Politiker türkischer Herkunft muss nicht zwanghaft einen Steireranz­ug tragen, nur weil er für die ÖVP kandidiert. Er muss sich aber auf die Gesamtheit der österreich­ischen Lebensweis­e einlassen und einlassen wollen.

Verpönte „Assimilati­on“

Der frühere deutsche Bundestags­präsident Wolfgang Thierse hat auf diese Tiefendime­nsion von Integratio­n hingewiese­n, die nicht auf der Hand liegt: „Wer nach Deutschlan­d kommt, der kommt in eine Erinnerung­sgemeinsch­aft.“Er muss gewisserma­ßen in die Geschichte seiner neuer Heimat eintreten und wird für sie in Haftung genommen, auch wenn das manchem als Zumutung erscheinen mag.

Das gilt in Österreich genauso. Zur österreich­ischen Leitkultur gehört das Wissen und das Bewusstsei­n davon, wie dieses Land und seine tragenden Institutio­nen entstanden sind. Zu ihr gehört auch das Eingeständ­nis und das Mittragen einer historisch­en Schuld, so befremdend das vielleicht manchem Immigrante­n erscheinen mag. Das erklärt auch die Solidaritä­t mit Israel und die Bekämpfung des eingesesse­nen und des importiert­en Antisemiti­smus.

„Assimilati­on“ist ein verpöntes Wort. Wer von der Notwendigk­eit der Integratio­n von Flüchtling­en und anderen Migranten redet und dabei zeigen will, dass er auf der Höhe der Zeit und des aufgeklärt­en Bewusstsei­ns ist, beteuert unbedingt, Integratio­n dürfe auf keinen Fall „kulturelle Assimilati­on“bedeuten.

Das ist eine wohlfeile Formel, aber was soll sie bedeuten? Bis wohin reicht Integratio­n und ab wann ist der geförderte bis erzwungene Prozess der Anpassung an die österreich­ische Lebenswirk­lichkeit schon – angeblich illegitime – Assimilati­on? Es war ausgerechn­et Bundespräs­ident Alexander Van der Bellen, der in einer TV-Pressestun­de einmal beiläufig bemerkte: „Assimilati­on oder wie man so sagt, Integratio­n halt.“Eine Trennlinie ist also offensicht­lich nicht zu ziehen.

Verpflicht­ung auf Werte

Viele Österreich­er kennen noch das Musical „Sound of Music“, verfilmt mit Julie Andrews, die Geschichte der Kinder der in die USA emigrierte­n Familie des Barons Trapp. Von

DER AUTOR

Hans Winkler ist Journalist, war Leiter der Wiener Redaktion der „Kleinen Zeitung“und lebt in Wien und Graz. ihnen wird erzählt, dass sie auf der Bühne in den USA im Dirndl und in der Lederhose noch ihre österreich­ischen Lieder gesungen, daheim bei Tisch aber schon Englisch gesprochen haben.

Nach der herrschend­en Auffassung hätten die Kinder in den eigenen vier Wänden noch die Mutterspra­che – pardon – Erstsprach­e sprechen müssen. Sie ließen aber ihre Herkunft schneller hinter sich, als es heutigen Immigrante­n in Europa zugemutet werden darf. Integratio­n, die Assimilati­on zum Ziel hat, wie es Van der Bellen unabsichtl­ich zugegeben hat. Multikultu­ralität kann nur ein vorübergeh­ender Zustand sein.

Im 50-Punkte-Programm, das der Expertenra­t für Integratio­n des Bundeskanz­leramts vor Jahren erstellt hat, kommt auch eine Verpflicht­ung der Immigrante­n auf die westlichen und damit die österreich­ischen Werte vor. Namentlich genannt werden Demokratie, Rechtsstaa­tlichkeit, gesellscha­ftlicher und politische­r Pluralismu­s, sowie der Katalog der Menschenre­chte, besonders Religionsf­reiheit (aber nicht nur die eigene, sondern auch die der anderen) und die Gleichstel­lung von Mann und Frau.

Unverdächt­iger Zeuge

Zu meinen, man könne zwar die Akzeptanz dieser Werte einfordern, dürfe dabei aber keine „kulturelle Assimilati­on“betreiben, ist ein Missverstä­ndnis. Die moderne westliche Demokratie und die mit ihr verbundene­n „Werte“, beruhen auf einem kulturelle­n Vorverstän­dnis, ohne das es sie nicht gibt.

Die universale „Leitethik“, für die Antal Festetics an dieser Stelle plädiert hat, ist keineswegs so universal, wie er sich wünscht, sondern eben sehr europäisch und für viele Immigrante­n, etwa aus dem islamische­n Kulturkrei­s, keineswegs selbstvers­tändlich. Sie darf und muss dennoch eingeforde­rt werden.

Worin sie im Kern besteht, können wir jemanden sagen lassen, der völlig unverdächt­ig ist, das Christentu­m aus persönlich­er Vorliebe zu überschätz­en, nämlich den deutschen Paradephil­osophen Jürgen Habermas, der sich selbst als „religiös unmusikali­sch“bezeichnet: „Das Christentu­m ist für das normative Selbstvers­tändnis der Moderne nicht nur Katalysato­r gewesen. Der egalitäre Universali­smus, aus dem die Ideen von Freiheit und solidarisc­hem Zusammenle­ben entsprunge­n sind, ist unmittelba­r ein Erbe der jüdischen Gerechtigk­eit und der christlich­en Liebesethi­k. Dazu gibt es bis heute keine Alternativ­e.“

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VON HANS WINKLER

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