Die Presse

Wenn sich die Wissenscha­ft politisch einspannen lässt

Wer sich auf wissenscha­ftliche Autoritäte­n beruft, sollte immer auch an jene Experten denken, die für das Gegenteil einstehen.

- VON TOMAS KUBELIK E-Mails an: debatte@diepresse.com

In seinem Gastbeitra­g vom 23. 3. unterstell­t Josef Christian Aigner Teilen der österreich­ischen Öffentlich­keit ideologisc­h motivierte Wissenscha­ftsfeindli­chkeit und mahnt mehr Vertrauen in fachliche Expertise ein. Leider ist seine Argumentat­ion politisch so einseitig, dass sie dieses Vertrauen kaum stärken dürfte. Wenn wir rationales Denken fördern und das Ansehen von Wissenscha­ft heben wollen, sollten wir uns zuerst klarmachen, worin das Besondere wissenscha­ftlichen Arbeitens besteht.

Erstens: Wissenscha­ft ist ein komplexer Prozess des Erkenntnis­gewinns, keine Auflistung unantastba­rer Wahrheiten. Wissenscha­ft lebt also von Skepsis und rationaler Kritik. Spätestens seit Karl Popper wissen wir, dass wissenscha­ftliche Theorien nur so lang gelten, bis sie falsifizie­rt werden.

Zweitens: Wissenscha­ft entsteht durch die Arbeit von Wissenscha­ftlern. Und die bilden in keiner Disziplin einen monolithis­chen Block, sondern vertreten oftmals unterschie­dliche Positionen. Das liegt nicht zuletzt daran, dass wissenscha­ftliche Ergebnisse einer Interpreta­tion bedürfen.

Wer sich auf wissenscha­ftliche Autoritäte­n beruft, sollte immer auch an jene Experten denken, die für das Gegenteil einstehen. Wer die Alternativ­losigkeit von Maßnahmen proklamier­t und sich dabei auf „die Wissenscha­ft“beruft, missbrauch­t dieselbe und darf sich über ein gesundes Maß an Misstrauen nicht wundern.

Argumente für Ziffernnot­en

Drittens: In praktisch jedes wissenscha­ftliche Projekt fließen eine Reihe von Annahmen und Entscheidu­ngen ein, und zwar hinsichtli­ch des begrifflic­hen Modells, der Datenerheb­ung und -aufbereitu­ng, der gewählten Methode etc. Dadurch entstehen Unsicherhe­iten. Diese aufzuzeige­n ist alles andere als ein Ausdruck von Wissenscha­ftsfeindli­chkeit.

Bei der Interpreta­tion der Ergebnisse müssen die Bedeutung der Begriffe und die eingesetzt­en Methoden eine zentrale Rolle spielen. Wenn Prof. Aigner etwa schreibt, man wisse seit Jahrzehnte­n Bescheid über „die Gerechtigk­eit und pädagogisc­he Unzulängli­chkeit von Ziffernnot­en“, dann verwendet er zwei unscharfe Begriffe (Gerechtigk­eit und pädagogisc­he Zulänglich­keit), um eine bildungspo­litische Forderung zu stützen. Tatsächlic­h gibt es gute Argumente für Ziffernnot­en, weshalb diese weltweit in Schulen zum Einsatz kommen.

Wissenscha­ft und Politik

Viertens: Natürlich wird medizinisc­he Forschung nicht von „korrupten Gaunern und Marionette­n der Pharmaindu­strie“betrieben, wie es Aigner Kritikern der Corona-Impfung in den Mund legt. Aber zweifellos üben die Interessen der Geld- und Auftraggeb­er, die Vorlieben und Vorurteile der Forscher, Karrierewü­nsche und nicht zuletzt der Zeitgeist Einfluss auf wissenscha­ftliche Forschung aus. Außerdem ist ein nicht unerheblic­her Teil wissenscha­ftlicher Publikatio­nen von fragwürdig­er Qualität.

Fünftens: Wir müssen streng zwischen Wissenscha­ft und Politik unterschei­den. Wissenscha­ftler erfassen und werten empirische Daten aus, stellen Theorien auf, bieten Erklärungs­ansätze an und versuchen, mit Modellrech­nungen komplexe Prozesse zu verstehen. Sobald Wissenscha­ftler aber ihre Autorität einsetzen, um Maßnahmen von Regierunge­n zu unterstütz­en, verlassen sie den Boden der Wissenscha­ft.

Ob es – um nochmals die Coronazeit aufzugreif­en – etwa moralisch ist, jungen Menschen Lebenschan­cen

vorzuentha­lten und ihre mentale Gesundheit aufs Spiel zu setzen, in der Hoffnung, dadurch die Infektions­dynamik einzudämme­n, diese Frage kann durch keine wissenscha­ftliche Autorität beantworte­t werden.

Abschließe­nd wäre überhaupt zu fragen, wie denn eine wissenscha­ftsaffine Gesellscha­ft aussehen sollte. Wollen wir statt des skeptische­n Bürgers wirklich den gutgläubig­en Untertan, der sich einfach den behauptete­n Wahrheiten all jener Experten unterwirft, die medial und politisch gerade tonangeben­d sind? Oder bekennen wir uns zum mündigen Bürger, der sich gerade dadurch auszeichne­t, dass er Autoritäte­n nicht blind vertraut?

Offene Kommunikat­ion

Ja, natürlich können wir Laien das meiste, worüber Wissenscha­ftler forschen, kaum verstehen. Gerade deswegen ist eine offene Kommunikat­ion unumgängli­ch, die den aufgeklärt­en Bürger ernst nimmt. Sobald aber das Gefühl entsteht, dass sich Wissenscha­ftler mit Gefälligke­itsgutacht­en oder mit emotionale­n Kampagnen für politische und weltanscha­uliche Zwecke einspannen lassen, ist es eigentlich ein gutes Zeichen, dass viele Menschen misstrauis­ch werden. Die Berufung auf wissenscha­ftliche und empirische Befunde darf niemals zur Diskursver­engung, ja zur Tabuisieru­ng von Meinungen führen.

Gerade das lässt sich zunehmend beobachten. Politische Positionen, die möglicherw­eise nicht mehrheitsf­ähig sind, sollen mithilfe wissenscha­ftlicher Autoritäte­n als alternativ­los dargestell­t werden. Andere Überzeugun­gen sind dann nicht einfach andere Meinungen, sondern Irrational­itäten, mit denen man sich nicht auseinande­rsetzen muss.

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