Die Presse

Angriffe im russischen Hinterland

Ukrainisch­e Kampfdrohn­en flogen bis ins weit entfernte Tatarstan – und beschädigt­en dort eine Drohnenfab­rik.

- VON JUTTA SOMMERBAUE­R

Der Moment des Anschlags ist auf Video gebannt: Ein Flugobjekt, das aussieht wie ein Miniflugze­ug, verringert allmählich seine Flughöhe und steuert ein Objekt hinter niedrigen weißen Gebäuden an. Im nächsten Moment kommt es zu einer gewaltigen Explosion, die umstehende­n Menschen werfen sich auf den Boden. Die Szene fand am Dienstagmo­rgen in der russischen Teilrepubl­ik Tatarstan statt, mehr als 1200 Kilometer von der ukrainisch­en Front entfernt. Es waren mutmaßlich ukrainisch­e Kampfdrohn­en, die in den Städten Jelabuga und Nischnekam­sk Einrichtun­gen angriffen, die bedeutsam sind für Russlands Angriffskr­ieg gegen die Ukraine.

Schon bisher flogen ukrainisch­e Drohnen mehrere Hundert Kilometer, wenn sie Ziele in St. Petersburg, Moskau oder Nischni Nowgorod ansteuerte­n. Doch der Angriff am Dienstag war ein neuer „Streckenre­kord“. Offenbar blieb das Flugobjekt unentdeckt von der russischen Flugabwehr. Die Ukraine dürfte damit über ein neues Drohnenmod­ell verfügen, dass eine Strecke von mehr als 1000 Kilometern zurücklege­n kann. Der ukrainisch­e Minister für digitale Transforma­tion, Mychailo Fedorow, hatte unlängst eine solche Innovation angekündig­t. Bisher war der Flugradius bei 700 bis 1000 Kilometern gelegen.

Öllager und Rüstungsbe­triebe

Offiziell hat Kiew bisher nicht die Verantwort­ung für die Angriffe übernommen. Das Schweigen ist durchaus üblich. Laut ukrainisch­en Medienberi­chten sollen der Militärgeh­eimdienst GUR sowie der Inlandsgeh­eimdienst SBU hinter der Aktion stehen. Insbesonde­re der GUR führt immer wieder spektakulä­re Angriffe auf russische Einrichtun­gen durch. Ziel ist es, kritische Infrastruk­tur, Raffinerie­n, Öllager und Rüstungsbe­triebe im russischen Hinterland oder auf der besetzten Krim zu treffen. Die Ukraine hat diese Attacken in letzter Zeit intensivie­rt. Der russische Rüstungsna­chschub für die Front soll auf diese Weise erlahmen.

Auch die Attacken in Tatarstan hatten offenbar diesen Charakter: Bei Jelabuga soll sich in der „Alabuga“-Sonderwirt­schaftszon­e eine Fabrik befinden, in der Moskau seit dem Vorjahr iranische ShahedDroh­nen in Eigenprodu­ktion herstellen lässt. In Russland sind diese Drohnen unter den Bezeichnun­gen Geran und Geran-2 bekannt. Erst vor einem Monat waren in russischen sozialen Netzwerken Clips aufgetauch­t, die eine Produktion­slinie in der Fabrik zeigen sollen.

In Nischnekam­sk gibt es große Ölverarbei­tungsanlag­en des regionalen Ölkonzerns Tatneft. Von Reuters ausgewerte­te Videobilde­r des Angriffs auf die Raffinerie deuten darauf hin, dass ein Teil der Taneco-Raffinerie, die zu Tatneft gehört, getroffen wurde.

Bei den Angriffen wurden mehrere Menschen verletzt. Russland erklärte, die Angriffe hätten keine „kritischen“Folgen gehabt. Russland überzieht die Ukraine seit Kriegsbegi­nn beinahe täglich mit tödlichen Drohnen- und Raketenang­riffen. Der ukrainisch­e Angriff vom Dienstag mag ein verhältnis­mäßig kleiner Schlag gegen die mächtige russische Rüstungsin­dustrie sein: Die Attacke erinnert die russische Seite jedenfalls daran, dass auch strategisc­he Objekte im Hinterland nicht vollkommen sicher sind.

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[Reuters/Stringer] Kamikaze-Drohne an der ukrainisch­en Front. Die nach Tatarstan geschickte­n Drohnen waren um einiges größer.

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