Vormittags Österreich, nachmittags Ukraine
Nach Österreich geflüchtete Kinder aus der Ukraine leben oft in einem „Zwischenzustand“. Online nehmen sie am Unterricht in der Ukraine teil.
Es ist ein Leben im „Limbo-Zustand“, das viele Schülerinnen und Schüler, die vor dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine nach Österreich geflohen sind, führen. Das ist zumindest der Begriff, den die grüne Bildungssprecherin Sibylle Hamann dafür gefunden hat. Gemeint ist, dass die Kinder und Jugendlichen emotional, aber auch organisatorisch sowohl in Österreich als auch der Ukraine angedockt sind. Oft nehmen sie etwa am Vormittag am Unterricht in der österreichischen Schule teil und klinken sich dann, am Nachmittag, online in den Unterricht in der Ukraine ein. Dann stehen Fächer wie Ukrainische Sprache und Ukrainische Geschichte auf ihrem Stundenplan. Das zu lernen, ist für sie wichtig – falls sie irgendwann zurück in ihr Heimatland können. Bald. Oder nach der Schule. Jedenfalls wenn der Krieg vorbei ist.
Anfang vergangenen Jahres wurden an österreichischen Schulen 13.149 ukrainische Kinder und Jugendliche unterrichtet. Ein nicht zu kleiner Teil von ihnen ist mittlerweile trotz Kriegs mit ihren Familien zurück in die Ukraine gegangen. Hamann ist vorige Woche dorthin gereist – nach Odessa, der 100.000-Einwohner-Stadt am Schwarzen Meer, wo die Lage aktuell sehr angespannt ist. Fast jeden Tag gibt es in der Stadt Luftalarm. Dann müssen die Schulkinder in die Schutzräume, im Keller oder Erdgeschoß, deren Fenster zum Schutz vor Splittern mit Sandsäcken abgeschirmt sind. In der ersten Zeit, als es die Räume noch nicht an den Schulen gab, wurde der Unterricht wie in der Pandemie online abgehalten. Heute dürfen sich in den Schulen immer maximal so viele Kinder aufhalten, wie in diese Schutzräume passen. An vielen Schulen bedeutet das Schichtbetrieb.
Unterbrochen vom Luftalarm
Aus alledem ergebe sich eine Unterrichtssituation, in der es Präsenzbetrieb, unterbrochen durch Luftalarme, und online aus dem Ausland zugeschaltete Kinder in Einklang zu bringen gilt, beschreibt Hamann. In den Klassen sitzen auch Kinder, die aus anderen Teilen des Landes nach Odessa geflüchtet sind. Viele von ihnen kommen aus der östlichen Landeshälfte, wo Russisch gesprochen wird. Auch, dass Lehrkräfte ins Ausland geflüchtet sind und nun von dort aus die Kinder zu Hause online unterrichten, komme laut Hamann vor. Die Schüler und Lehrer, die über das Internet am Unterricht in der Ukraine teilnehmen, bekämen dann als erstes über die Änderung in den Gesichtern der Kinder mit, wenn gerade wieder Luftalarm ist, habe ihr eine Lehrerin erzählt. Die Kinder, die nach der Flucht bereits wieder zurück in die Ukraine gegangen sind, würden aber berichten, es sei mittendrin in der Gefahr leichter auszuhalten, als es mitzubekommen, während man in Sicherheit herumsitze.
Während in Österreich und Deutschland aus der Ukraine geflüchtete Kinder mittlerweile verpflichtend am physischen Unterricht teilnehmen müssen, handhaben das Länder wie Rumänien oder Bulgarien anders. Gleichzeitig ist die Ukraine mittlerweile im Austausch mit den anderen Bildungsministerien, um auch im Ausland erworbene Bildung anzurechnen.
Umgekehrt brauche es im österreichischen Bildungssystem, aber auch am Arbeitsmarkt, mehr Sensibilität für den Zwischenzustand, in dem sich viele aus der Ukraine Geflüchtete befinden, sagt Hamann. Für einige von ihnen fühle es sich wie eine Absage an ihre Heimat an, sich gänzlich auf das österreichische System und die deutsche Sprache einzulassen. „Es wäre wichtig anzuerkennen, dass viele einfach nicht sagen können, wie der Plan für ihr weiteres Leben ist. Das hängt nicht von ihnen ab, sondern davon, was ein Diktator in Russland macht“, meint die grüne Bildungssprecherin. Viele Familien würden sich auch im Ausland aufhalten, weil sie fürchten, dass ihre Söhne zum Militärdienst eingezogen werden.
Hohe Qualität
In der Ukraine hat Hamann einen Achtjährigen getroffen, der die unterschiedlichen Flugkörper mittlerweile an ihrem Klang unterscheiden kann. Die Lehrkräfte seien müde von der Angst, würden das aber nicht zeigen. Abseits dessen sei die Qualität des Bildungssystems in der Ukraine zumindest gleichwertig, wenn nicht dem österreichischen teilweise sogar überlegen, sagt Hamann. Mit dem, was sie zu Hause gelernt haben, seien die Schüler beim Stoff mitunter voraus. Es zeige sich auch, dass das in Österreich stark segregierte Bildungssystem, in dem Bildung vor allem auch eine soziale Frage ist, nicht zum recht homogenen System in der Ukraine passt. Zu bemerken sei in den ukrainischen Schulen aber noch etwas, das sich deutlich von Schulen in Österreich unterscheide: Eine ganz eigene Ernsthaftigkeit liege dort in der Luft – die Ernsthaftigkeit, die der Krieg mit sich bringt.