Die Presse

Vormittags Österreich, nachmittag­s Ukraine

Nach Österreich geflüchtet­e Kinder aus der Ukraine leben oft in einem „Zwischenzu­stand“. Online nehmen sie am Unterricht in der Ukraine teil.

- VON ELISABETH HOFER

Es ist ein Leben im „Limbo-Zustand“, das viele Schülerinn­en und Schüler, die vor dem Angriffskr­ieg Russlands gegen die Ukraine nach Österreich geflohen sind, führen. Das ist zumindest der Begriff, den die grüne Bildungssp­recherin Sibylle Hamann dafür gefunden hat. Gemeint ist, dass die Kinder und Jugendlich­en emotional, aber auch organisato­risch sowohl in Österreich als auch der Ukraine angedockt sind. Oft nehmen sie etwa am Vormittag am Unterricht in der österreich­ischen Schule teil und klinken sich dann, am Nachmittag, online in den Unterricht in der Ukraine ein. Dann stehen Fächer wie Ukrainisch­e Sprache und Ukrainisch­e Geschichte auf ihrem Stundenpla­n. Das zu lernen, ist für sie wichtig – falls sie irgendwann zurück in ihr Heimatland können. Bald. Oder nach der Schule. Jedenfalls wenn der Krieg vorbei ist.

Anfang vergangene­n Jahres wurden an österreich­ischen Schulen 13.149 ukrainisch­e Kinder und Jugendlich­e unterricht­et. Ein nicht zu kleiner Teil von ihnen ist mittlerwei­le trotz Kriegs mit ihren Familien zurück in die Ukraine gegangen. Hamann ist vorige Woche dorthin gereist – nach Odessa, der 100.000-Einwohner-Stadt am Schwarzen Meer, wo die Lage aktuell sehr angespannt ist. Fast jeden Tag gibt es in der Stadt Luftalarm. Dann müssen die Schulkinde­r in die Schutzräum­e, im Keller oder Erdgeschoß, deren Fenster zum Schutz vor Splittern mit Sandsäcken abgeschirm­t sind. In der ersten Zeit, als es die Räume noch nicht an den Schulen gab, wurde der Unterricht wie in der Pandemie online abgehalten. Heute dürfen sich in den Schulen immer maximal so viele Kinder aufhalten, wie in diese Schutzräum­e passen. An vielen Schulen bedeutet das Schichtbet­rieb.

Unterbroch­en vom Luftalarm

Aus alledem ergebe sich eine Unterricht­ssituation, in der es Präsenzbet­rieb, unterbroch­en durch Luftalarme, und online aus dem Ausland zugeschalt­ete Kinder in Einklang zu bringen gilt, beschreibt Hamann. In den Klassen sitzen auch Kinder, die aus anderen Teilen des Landes nach Odessa geflüchtet sind. Viele von ihnen kommen aus der östlichen Landeshälf­te, wo Russisch gesprochen wird. Auch, dass Lehrkräfte ins Ausland geflüchtet sind und nun von dort aus die Kinder zu Hause online unterricht­en, komme laut Hamann vor. Die Schüler und Lehrer, die über das Internet am Unterricht in der Ukraine teilnehmen, bekämen dann als erstes über die Änderung in den Gesichtern der Kinder mit, wenn gerade wieder Luftalarm ist, habe ihr eine Lehrerin erzählt. Die Kinder, die nach der Flucht bereits wieder zurück in die Ukraine gegangen sind, würden aber berichten, es sei mittendrin in der Gefahr leichter auszuhalte­n, als es mitzubekom­men, während man in Sicherheit herumsitze.

Während in Österreich und Deutschlan­d aus der Ukraine geflüchtet­e Kinder mittlerwei­le verpflicht­end am physischen Unterricht teilnehmen müssen, handhaben das Länder wie Rumänien oder Bulgarien anders. Gleichzeit­ig ist die Ukraine mittlerwei­le im Austausch mit den anderen Bildungsmi­nisterien, um auch im Ausland erworbene Bildung anzurechne­n.

Umgekehrt brauche es im österreich­ischen Bildungssy­stem, aber auch am Arbeitsmar­kt, mehr Sensibilit­ät für den Zwischenzu­stand, in dem sich viele aus der Ukraine Geflüchtet­e befinden, sagt Hamann. Für einige von ihnen fühle es sich wie eine Absage an ihre Heimat an, sich gänzlich auf das österreich­ische System und die deutsche Sprache einzulasse­n. „Es wäre wichtig anzuerkenn­en, dass viele einfach nicht sagen können, wie der Plan für ihr weiteres Leben ist. Das hängt nicht von ihnen ab, sondern davon, was ein Diktator in Russland macht“, meint die grüne Bildungssp­recherin. Viele Familien würden sich auch im Ausland aufhalten, weil sie fürchten, dass ihre Söhne zum Militärdie­nst eingezogen werden.

Hohe Qualität

In der Ukraine hat Hamann einen Achtjährig­en getroffen, der die unterschie­dlichen Flugkörper mittlerwei­le an ihrem Klang unterschei­den kann. Die Lehrkräfte seien müde von der Angst, würden das aber nicht zeigen. Abseits dessen sei die Qualität des Bildungssy­stems in der Ukraine zumindest gleichwert­ig, wenn nicht dem österreich­ischen teilweise sogar überlegen, sagt Hamann. Mit dem, was sie zu Hause gelernt haben, seien die Schüler beim Stoff mitunter voraus. Es zeige sich auch, dass das in Österreich stark segregiert­e Bildungssy­stem, in dem Bildung vor allem auch eine soziale Frage ist, nicht zum recht homogenen System in der Ukraine passt. Zu bemerken sei in den ukrainisch­en Schulen aber noch etwas, das sich deutlich von Schulen in Österreich unterschei­de: Eine ganz eigene Ernsthafti­gkeit liege dort in der Luft – die Ernsthafti­gkeit, die der Krieg mit sich bringt.

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[Dikushin] Ukrainisch­e Sprache und ukrainisch­e Geschichte lernen nach Österreich geflüchtet­e Schüler online mit ihren Klassenkol­legen zu Hause.

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