Sind Kannibalen einfach nur kulturell offen?
Inspirierten Irokesen die US-Verfassung, verursachten Bororos den Strukturalismus? Und ist die Mother-Earth-Philosophie gar nicht indigen? „Neun Stämme“erzählt von der Wirkung indigener Kulturen auf die Moderne.
Sei nicht der Kannibalismus viel harmloser als die abendländische Gier, sich alles einzuverleiben? Ganz zu schweigen vom gegenseitigen Abschlachten der Katholiken und Protestanten in den Gräueln der Glaubenskriege . . . So verteidigte der französische Philosoph Michel Montaigne die Tupunumbá in Brasilien, deren Kannibalismus damals in Europa (und so auch ihm) bekannt wurde. Er sah dort nichts „Barbarisches“– so bezeichne man ohnehin nur das, was den eigenen Bräuchen widerspreche . . .
Hier bereits, im 16. Jahrhundert, wurde der europäische Kulturrelativismus geboren. Ein bei den Bororos missionierender Franziskanermönch zeichnete das Bild von „guten Wilden“(zwei Jahrhunderte vor Rousseau!) im Einklang mit der Natur. Ihr Kannibalismus, so wiederum der Calvinist Jean de Léry, sei nur Rache, um damit die Seelen der Ahnen zu befrieden. Léry verweist auf überlieferte Fälle von Kannibalismus während der Glaubenskriege und der Hungersnöte in Europa und teilt gegen die Katholiken aus: Sei ihr Glaube, dass sich Brot und Wein in Leib und Blut Christi verwandeln, nicht auch Kannibalismus?
Neun im Westen besonders bekannt gewordene „Stämme“hat der deutsche Ethnologe Karl-Heinz Kohl für sein fesselndes Buch „Neun Stämme. Das Erbe der Indigenen und die Wurzeln der Moderne“ausgewählt. An ihnen zeigt er, wie die Begegnung mit indigenen Völkern den „Westen“geistig inspirierte: in seinen wissenschaftlichen und philosophischen Theorien, Kunstströmungen, gesellschaftlichen Bewegungen. Die positive Deutung des Kannibalismus etwa erlebte auch in den 1920er-Jahren eine Blüte. Künstler des brasilianischen Modernismó deuteten ihn als Einverleibung und Aufhebung von Grenzen und damit als Alternative zu (kolonialistischer) Unterwerfung.
Wie Bororos die Patres austricksten
Besonders stark wirkten Beschreibungen anderer Völker oft, wenn sie als positives Gegenbild zur eigenen Zivilisation verwendet wurden. Er habe aus Feindseligkeit gegenüber den in seiner Umwelt herrschenden Sitten andere zu studieren begonnen, bekannte der große französische Ethnologe Claude Lévi-Strauss unverblümt. Seine Karriere begann mit einem Aufenthalt im Siedlungsgebiet der brasilianischen Bororos (deren duale gesellschaftliche Grundstruktur habe ihn zum Strukturalisten gemacht, sagte er). Dass dieser Stamm Wissenschaftler und Künstler besonders faszinierte, hat auch mit ihrer Widerstandskraft äußeren Einflüssen gegenüber zu tun. Als Salesianer-Pater ihnen etwa christliche Bestattungsriten vorschrieben, trugen sie auch wirklich die Särge zur Totenmesse in die Kirche – nur wussten die Patres nicht, dass nur Steine drin waren . . .
Ungeheuer einflussreich waren dann nicht nur Claude Lévi-Strauss’ Forschungen über dortige Verwandtschaftssysteme, sondern auch die Theorie der „primitiven Mentalität“des 1937 verstorbenen Ethnologen und Philosophen Lucien Lévy-Bruhl: Sie stellte das abendländische Identitätsverständnis radikal infrage. Aus einer Schilderung des deutschen Ethnologen Karl von den Steinen, dass sich die Bororos schon zu Lebzeiten als Menschen und als „rote Araras“sehen würden, schloss er, dass es hier kein Entweder-Oder gebe: Lebewesen und Dinge seien durch eine mystische Kraft miteinander verbunden, deshalb sei es möglich, sich zugleich als Mensch und Tier (oder Pflanze) zu sehen. Die Deutung wirkte auf Sartres „Das Sein und das Nichts“und C. G. Jungs Theorie des kollektiven Unbewussten ebenso wie auf den Dichter T. S. Eliot: Der meinte, nur die Dichter könnten sich in der Moderne noch etwas von der „mystischen Mentalität“des „primitiven Geistes“bewahren. Einiges deutet sogar darauf hin, dass Karl von den Steinens Bericht Franz Kafkas „Bericht für eine Akademie“, in der ein Affe von seiner mühseligen Menschwerdung erzählt, mit inspiriert hat.
Great Gatsby und der Potlatsch
Ganze soziologische Theorien erzeugte das Nachdenken über den Potlatsch, das verschwenderische Gabentauschfest der Kwakiutl an der Nordwestküste der USA. Hat es auch Spuren im Roman „The Great Gatsby“(1925) hinterlassen? F. Scott Fitzgerald las, während er das Buch schrieb, die Schrift eines Soziologen, der den Potlatsch als „ostentativen Konsum“deutete und mit den rauschenden Partys reicher Amerikaner verglich. Partys, wie auch Great Gatsby sie veranstaltet, verschwenderischer als jeder andere. Und zum Abschied gibt er gar jedem Besucher noch ein teures Geschenk mit.
„Neun Stämme“erzählt davon, wie die „politische“Struktur der Irokesen Marx beeinflusste und vielleicht schon die amerikanische Verfassung; von der Wirkung der Kwakiutl-, Hopi-, Aborigines- oder DogonKultur auf Künstler, Philosophen, Feministinnen oder Hippies; von Freuds Totemismus-Theorie natürlich oder auch vom Streit um Margaret Meads Theorien zur sexuellen Freiheit bei den Samoa. Das geschieht mit (hier unverzichtbarem) Mut zur Lücke, dafür Klarheit und Verständlichkeit. Der Autor macht auch immer wieder die Komplexität der kulturellen Begegnungen bewusst (die auch Bewegungen gegen „kulturelle Aneignung“problematisch machen). Der als so „indigen“geltende Mutter-Erde-Kult in Nordamerika etwa entwickelte sich offenbar erst im 19. Jahrhundert als Metapher, die sich allmählich zum religiösen Konzept ausformte – beeinflusst von europäischen Forschungen über Mutterkulte in aller Welt . . .
„Neun Stämme. Das Erbe der Indigenen und die Wurzeln der Moderne“von Karl-Heinz Kohl: 312 Seiten, 33,95 Euro (Verlag C. H. Beck).