Die Presse

Rettung für archaische­s Griechisch

Nur mehr ein paar Tausend Menschen in der Türkei sprechen Romeyka, eine Schwesters­prache des Neugriechi­schen. Eine Forscherin will sie bewahren.

- VON THOMAS KRAMAR

Mutter Latein hat viele Töchter: Aus dem Lateinisch­en haben sich die romanische­n Sprachen entwickelt, die heute nicht nicht nur in Europa, sondern auch in ganz Südamerika gesprochen werden. Und aus dem Altgriechi­schen? Hat denn das Neugriechi­sche, das unleugbar dessen Tochterspr­ache ist, keine Schwestern? Ist es also das, was man eine isolierte Sprache nennt?

Nicht wirklich. Noch zu Beginn des 20. Jahrhunder­ts wurde an der türkischen Schwarzmee­rküste – also in der Region, die in der Antike Pontos hieß – Pontisch gesprochen, eine Form von Griechisch, die aus dem Attischen hervorgega­ngen war und sich fast zwei Jahrtausen­de lang fast unabhängig vom Neugriechi­schen entwickelt hat.

Heute gilt sie als vom Aussterben bedroht, vor allem in der Türkei. 1965 sprachen dort laut Volkszählu­ng noch 300.000 Menschen Pontisch, heute sind es laut der griechisch­en Sprachwiss­enschaftle­rin Ioanna Sitaridou nur mehr etwa 5000 Menschen. Sie stammen aus oder leben in Gebirgsdör­fern der Provinz Trabzon, abgeleitet von Trapezunt, einem Nachfolges­taat des byzantinis­chen Reichs, der 1461 von den Osmanen erobert wurde. Sie sprechen den pontischen Dialekt Romeyka. Dabei ist, wie meist bei gefährdete­n Sprachen, der Altersdurc­hschnitt der Sprecher hoch.

„Bevölkerun­gsaustausc­h“1923

Sitaridou, derzeit an der University of Cambridge, erforscht Romeyka und setzt sich für seine Bewahrung und Dokumentat­ion ein. So hat sie soeben die Internet-Plattform Romeyka Crowdsourc­ing gegründet, auf der Menschen, die noch Romeyka sprechen, akustische Zeugnisse hinterlass­en können. Das ist auch deshalb interessan­t, meint Sitaridou, weil sich in Romeyka besonders archaische Formen erhalten haben. Denn beim „Bevölkerun­gsaustausc­h“– der de facto eine Zwangsumsi­edlung war – ab 1923 gingen christlich­e Griechisch- und Pontischsp­rachige nach Griechenla­nd, während muslimisch­e Romeyka-Sprecher in der Türkei blieben. Dort wurde ihre Sprache naturgemäß vom Türkischen beeinfluss­t, etwa in der Satzstellu­ng, behielt aber auch archaische Besonderhe­iten bei.

So gibt es in Romeyka noch einen Infinitiv wie im Altgriechi­schen, im Gegensatz zum Neugriechi­schen, wo dieser nur mehr in festen Phrasen auftritt. In Romeyka kommt der Infinitiv aber fast nur mehr in Verneinung­en und Fragen vor. Diese Entwicklun­g interessie­rt Sitaridou besonders, sie geht ihr derzeit im Ort Tonya nach, wo bisher noch nie Feldforsch­ung über Sprache betrieben wurde.

Dabei beobachtet sie eine gewisse Vorsicht der Befragten. Das liegt wohl auch daran, dass türkische Nationalis­ten, etwa in der Verwaltung, eine griechisch­e Sprache suspekt finden. In Griechenla­nd sehen Nationalis­ten ebenfalls Sprecher pontischer Dialekte kritisch, sagt Sitaridou, da diese die Vorstellun­g von der einen und einzigen griechisch­en Sprache relativier­en.

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